1 Einführung
Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die bei etwa 1 % aller Kinder auftritt. Besonders betroffen sind die sozialen Fähigkeiten sowie die verbale und nicht-verbale Kommunikation. Mangel an Flexibilität, stereotype und ritualisierte Verhaltensweisen sind weitere Auffälligkeiten. Um die unterschiedlichen Schweregrade und kognitiven Fähigkeiten anzudeuten, wird statt der Bezeichnung »Autismus« im Regelfall der Begriff »Autismus-Spektrum-Störungen« (Abk: ASS) benutzt.
Autismus kann mit geistiger Behinderung oder Down-Syndrom, aber auch mit Epilepsie, Aufmerksamkeits- und Zwangsstörungen überlappen. Darüber hinaus kann eine autistische Symptomatik auch gemeinsam mit bestimmten Krankheitsbildern auftreten, wie Rett- oder Fragiles-X-Syndrom. Wenn Autismus als »Komorbidität« (Begleiterkrankung) auftritt, spricht man von »syndromischem Autismus« (Noterdaeme, 2009). Wenn Autismus primäres oder alleiniges Krankheitsbild ist, liegt ein »idiopathischer Autismus« vor. Soweit bekannt, existieren ASS in allen Ländern bzw. ethnischen Gruppen. In entwickelten Ländern wird dabei von einer hohen und möglicherweise steigenden Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) ausgegangen.
Seit Jahrzehnten ist die Frage nach Ursachen von ASS Gegenstand intensiver Untersuchungen. Erklärungen wurden in Erziehungsfehlern vermutet, in Fehlernährung, Giftstoffen, Infektionskrankheiten, und Nebenwirkung von Impfungen. Es steht heute fest, dass einige dieser Vermutungen Irrtümer waren, die zum Teil – wie bei der Impfdebatte - nachlässig oder vorsätzlich ausgestreut wurden. Andere, wie etwa manche Infektionskrankheiten, sind mögliche, aber noch wenig verstandene Begleitfaktoren der Entwicklung zum Autismus.
Es gilt heute als abgesichert, dass ASS durch Erbfaktoren, also »Gene« oder »genetische Faktoren« bedingt wird. Diese können allerdings durch Umweltfaktoren beeinflusst sein.
Dieses Buch fasst unser heutiges Wissen über die Erbfaktoren von ASS sowie vermutete Wechselwirkung mit Umweltfaktoren zusammen. Gegenüber anderen Erklärungen hat die genetische Analyse den Vorteil, mit großer Effizienz und objektiv durchführbar zu sein. So ist es mit Hilfe moderner DNA-Technologien und computerbasierter Auswertung möglich, das Erbgut eines autistischen Patienten und seiner Eltern mit vertretbarem Arbeitsaufwand und Kosten zu analysieren. Das Ergebnis sind Kataloge von hunderten von genetischen Veränderungen, die spezifisch in Patienten mit ASS gefunden wurden. Es lässt sich belegen, dass diese Veränderungen die Entwicklung von ASS verursachen, u. a. dadurch, dass viele der betroffenen Gene für Proteine kodieren, die eine neuronale Funktion haben. Auf diese unterschiedlichen
Funktionen wird später ausführlich eingegangen werden (
Kap. 5 und
Kap. 6). Auch können gezielte Veränderungen derselben Gene in Mäusen und Affen ASS-ähnliche Symptome in diesen Tieren auslösen.
Mit den derzeitigen Forschungsansätzen kann die Molekularbiologie wichtige Beiträge zur Klärung der Entwicklung von ASS liefern.
Das Wissen um genetische Grundlagen schützt gegen falsche Schuldzuweisungen und therapeutische Irrwege, und öffnet den Zugang zu molekularer Diagnose und rationaler Pharmakotherapie.
Dieses Buch will Ärzten, Psychotherapeuten, Pädagogen, Studenten und naturwissenschaftlich interessierten Eltern und Laien einen Einblick in den derzeitigen Wissensstand der Ursachen des Autismus vermitteln. Es wird dabei versucht, die schwer verständliche Sprache der Primärliteratur in zugänglichere, aber nichtsdestotrotz präzise Darstellungen zu übersetzen. Hiermit soll ein Grundlagenwissen geschaffen werden und eine Neugier auf die zu erwartenden brisanten Entwicklungen der kommenden Jahre.
In diesem Buch ist von den Ursachen und von der Ätiologie des Autismus die Rede. Es muss betont werden, dass diese beiden Begriffe hier im Wesentlichen gleichbedeutend gebraucht werden – nämlich im Sinne der Identifikation von genetischen oder umweltbedingten Auslösern der Entwicklung von ASS. Ein solcher Auslöser kann eine molekulare Störung der Differenzierung von Neuronen sein. Diese kann sekundäre Folgeschäden haben, wie etwa mikroskopisch beobachtbare neuroanatomische Veränderungen. Solche neuroanatomischen Veränderungen können mit biochemisch messbaren Veränderungen von Neurotransmittern einhergehen. Darüber hinaus kann eine funktionelle Magnetresonanztomographie Änderungen der neuronalen Aktivität erfassen. All diese sekundären Ereignisse sind natürlich auch »Ursachen von ASS«, aber eben nicht die primären Störungen. Sie werden deshalb in diesem Buch nur am Rande behandelt. Der interessierte Leser wird auf Zusammenfassungen in deutsch- und englischsprachigen Handbüchern verwiesen (Bölte, 2009a; Fatemi, 2015).
2 Autismus: Viele verschiedene Krankheiten? Viele Ursachen?
Die Forschung und Beschreibung einer spezifischen Krankheit ist selten einfach und geradlinig.
Zum Beispiel ist »Grippe« definiert durch eine bestimmte Ursache, nämlich eine Infektion mit dem Influenza-Virus, verbunden mit einer ähnlichen Symptomatik verschiedener Patienten. Nun decken aber Symptome und Krankheitsverlauf der Grippe ein weites Spektrum ab, das von einer harmlosen »Erkältung« bis zum tödlichen Verlauf reicht. Auch werden grippeähnliche Krankheitsbilder durch Infektion mit anderen Viren und Bakterien verursacht. Die Diagnose »Grippe« ist also streng genommen nur durch Nachweis des Erregers zu belegen.
Die Autismusforschung hat sich über den größten Teil der letzten 70 Jahre in einem ähnlichen – aber noch stärker ausgeprägten – Dilemma befunden. Man hat versucht, durch Diagnose von Symptomen zu einer Definition der Krankheit zu kommen, ohne aber letztendlich Einsicht in Primärursachen – wie dem Virus bei der Grippe – zu erhalten. In diesem Sinn muss »Autismus-Spektrum-Störungen« als ein diagnostisch hilfreicher Oberbegriff verstanden werden, der derzeit aber auf Verhaltensbeobachtungen basiert.
ASS bezeichnet keine einzelne Krankheitskategorie im Sinne einer einzigen Ursache.
So sind die diagnostischen Hauptkriterien von ASS anhand des
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5th ed.;
DSM-5 American Psychiatric Association, 2013) komplexe Verhaltensweisen, nämlich Auffälligkeiten in sozialer Kommunikation und Interaktion und repetitive motorische Stereotypien (Freitag, 2014) (
Tab. 1).
Tab. 1: Diagnostische Hauptkriterien von ASS nach DSM-5
KrankheitsbildDiagnostische Hauptkriterien
Auch ohne die Ursachenforschung der letzten Jahre liegt es nah, hinter solchen breit gefächerten Kategorien unterschiedliche Krankheiten zu vermuten. Ein Beispiel ist der Vergleich schwer beeinträchtigter, ehemals sogenannter »Kanner-Autisten« mit leichter beeinträchtigten »Asperger-Patienten« oder mit Patienten, bei denen eine ASS Symptomatik als Begleiterkrankung (Komorbidität) im Rahmen anderer Syndrome auftritt.
Daher muss die Suche nach den Ursachen von Autismus bei den folgenden Fragen beginnen:
• Ist Autismus erblich bedingt, und wenn ja, spielen Veränderungen in einem Gen oder mehreren Genen eine Rolle?
• Was ist die Funktion dieser Gene bzw. der von ihnen kodierten Proteine?
• Wenn sich genetische Ursachen nachweisen lassen, heißt das dann, dass Umwelteinflüsse keine Rolle spielen?
• Falls Umwelteinflüsse doch eine Rolle spielen, wie ist das Wechselspiel zwischen Umwelt und Genetik beschaffen?
In den letzten Jahren hat die Beantwortung dieser Fragen bedeutende Fortschritte gemacht, auch wenn wir noch weit von einem detaillierten Verständnis der Ursachen des Autismus entfernt sind.
3 Grundlegende Argumente für Vererbung von Autismus: Zwillingsforschung
Ohne die hochtechnisierten Möglichkeiten der heutigen Molekularbiologie begannen Forscher schon vor Jahrzehnten zu fragen, ob die autistische Symptomatik vererbt wird. Speziell untersuchte man, ob es Unterschiede bei der Überlappung der ASS Symptomatik zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingspaaren gibt.
Warum ist das wichtig? Eineiige Zwillinge haben beide genau dieselben Gene, im Gegensatz zu zweieiigen Zwillingen, die...