1 DER FALL
1.1 Chronologie (von den HerausgeberInnen erstellt)
Steven M., geb. am 14.3.2000 als Kind einer alkohol-, medikamenten- und drogenabhÀngigen Mutter Katrin, Vater sei nur von Fotos bekannt:
âą lebt seit Mitte 2000 im Haushalt der Frau Claudia (Oma mĂŒtterlicherseits, 54 Jahre, geb. 1962), diese hat neben der Ă€ltesten Tochter Katrin (35 Jahre, geb. 1981) noch zwei erwachsene Töchter (Karla: 31 Jahre, geb. 1985; Tina: 27 Jahre, geb. 1989);
âą im MĂ€rz 2006 Geburt des ersten Halbbruders mĂŒtterlicherseits, der inzwischen in stationĂ€rer Jugendhilfe betreut wird; seither Geburt von mindestens zwei weiteren Halbgeschwistern (Geburtsdaten nicht bekannt);
âą nach erheblichen Rechtsstreitigkeiten zwischen Mutter und Oma u. a. im Zusammenhang mit Umgangs- und Sorgerechtsfragen wird die Oma Sorgerechtspflegerin fĂŒr Steven und erhĂ€lt Hilfen zur Erziehung;
âą September 2006 Einschulung von Steven;
⹠Oktober 2008 erleidet Steven eine PfÀhlungsverletzung des Oberschenkels rechts mit Oberschenkelphlegmone und Faszitis beim Ballspiel (mehrere Krankenhausaufenthalte in Folge gefÀhrlicher Wundinfektionen im Anschluss an die Verletzung);
âą seit 2009 Diagnostik, Beratung und Therapie fĂŒr Steven in einem SozialpĂ€diatrischen Zentrum (SPZ);
âą seit 2009 bis 2013 erhĂ€lt Frau Claudia M. fĂŒr Steven zusĂ€tzliche Hilfe in Form einer Erziehungsbeistandschaft gem. §§ 27, 30 SGB VIII (sechs Stunden pro Woche);
âą seit 2009/2010 ist Steven als Schwerbehinderter zu 50 % ohne Merkzeichen anerkannt;
⹠eine Anerkennung als sonderpÀdagogische Pflegestelle erhÀlt Frau Claudia M. erst, nachdem sie mit Hilfe eines Rechtsbeistandes Widerspruch gegen einen Ablehnungsbescheid einlegt;
âą 2010 gab es schulischerseits Interventionen, da Steven erheblichen Anfeindungen seiner MitschĂŒler ausgesetzt war;
⹠schulisch erhÀlt Steven in dieser Zeit Nachteilsausgleiche und in 2011 zwei Stunden pro Woche Förderunterricht;
âą beantragt wird in 2011 darĂŒber hinaus gemÀà § 35a SGB VIII ein schulischer Einzelfallhelfer, auch bezĂŒglich der Anwendung des § 35a SGB VIII gibt es einige Schriftwechsel, die jedoch aus PlatzgrĂŒnden nicht alle in die Falldarstellung genommen wurden;
âą in 2011 Familientherapie (Oma und Steven) im Rahmen eines Kuraufenthaltes;
âą in 2011 Umzug und Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem erforderlichen Schulwechsel;
⹠in 2011 und 2013 stationÀre Aufenthalte von Steven in Kinder- und Jugendpsychiatrischen Kliniken;
âą in 2011 und 2012 stationĂ€re Behandlungen von Steven in einer Klinik fĂŒr Kinder- und Jugendmedizin (aufgrund von Kopfschmerzen, Schwindel und Brustschmerzen);
⹠zunehmende gesundheitliche BeeintrÀchtigungen der Oma Claudia M. in Folge einer Multiplen Sklerose (MS);
âą seit 2013 fĂŒr Steven stationĂ€re Jugendhilfe (Heimunterbringung in drei verschiedenen Einrichtungen; Stand Anfang 2016);
âą in 2014 medial aufgenommene dramatische Rettungsaktion in 50 Meter Höhe, nachdem Steven gemeinsam mit einem anderen Jungen bei einer FerienmaĂnahme des Heimes einen Felsen bestiegen hat;
âą seit 2013 wiederholte Anzeigen gegen Steven wegen Diebstahl, Körperverletzung, SachbeschĂ€digung, Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne gĂŒltigen Fahrschein.
1.2 Personalliste ,Steven M.â (nach Pantucek)
Tab. 1.1: Personalliste ,Steven M.â, erstellt von J. V. Wirth auf Grundlage vorhandener Dokumente
NameAlterRolle/FunktionInstitutionKontakt
1.3 Genogramm-Reproduktion vom Original (J. V. Wirth)
Abb. 1.1: Genogramm, erstellt von Claudia M. und der Pyschologin (Institution unbekannt); Reproduktion von J. V. Wirth
1.4 AuszĂŒge, chronologisch aufsteigend1
Aufzeichnungen aus dem Kindergarten
05.03.2004
Spielbeobachtung 8:45â9:15 Uhr:
Steven hat heute Malschablonen mitgebracht und legt fĂŒr jedes Kind eine auf den Tisch. Brian will mit Steven puzzlen, aber Steven sagt er hat noch zu tun; â er ĂŒberlegt eine Weile und hilft Brian beim Puzzlen; â jetzt liegt er fĂŒr jedes Kind noch ein Blatt auf die Schablone; â Steven setzt sich an den Tisch und will jetzt malen, er nimmt einen Stift und sagt der malt nicht gut, kommt mit den stiften zu mir und sagt der malt nicht mehr so gut, Sabine gibt Steven einen anderen Stift und malt eins vor; â jetzt probiert es Steven alleine; â geht zu Sabine und Brian und puzzelt mit; â schaut sich das fertige Puzzle an und rutscht darauf rum; â anschlieĂend erzĂ€hlen Steven und Brian was man auf dem Poster sieht, zwei Trecker, eine Tankstelle, Wasser; â redet auf Sabine ein aber sie hört nicht gleich; â âschau mal Biene das sind Enten, MarienkĂ€ferâ; Steven und Brian vergleichen die Trecker auf dem Puzzle und stellen fest dass sie beide gleich aussehen; â rutscht wieder auf dem Puzzle und sagt er ist wieder ausgerutscht erzĂ€hlt dass das Eis platzt und wieder Wasser da ist; â geht auf das Podest und sagt er springt jetzt ins Wasser; â anschlieĂend geht er in den Schlafraum und springt auf dem Polster herum.
EinschÀtzung 48 Monate:
1. Motorik: Steven kann Roller, Dreirad und andere Fahrzeuge zielgerichtet und sicher bewegen, auch Hindernissen ausweichen; das Springen aus dem Stand bereitet ihm noch Schwierigkeiten, er muss sich viel MĂŒhe geben dann gelingt es ihm auch (mit geschlossenen Beinen circa 30â50 cm nach vorn springen)
2. Feinmotorik: Steven hÀlt den Stift oder Pinsel mit der Spitze der ersten drei Finger; er malt GegenstÀnde und Menschen und kann seine Bilder auch erklÀren
3. Sprache: Steven verwendet ,Ichâ zur Selbstbezeichnung, er erzĂ€hlt gern Erlebtes von zu Hause und Geschichten die er sinnvoll aneinandersetzen kann und bringt sie in zeitlich richtige Reihenfolge
4. Denken: Steven beteiligt sich selten an Regelspielen (Puzzle, Memory, WĂŒrfelspiele), er ist zwar dazu auch in der Lage, aber diese Spiele dauern ihn zu lange still, sitzen mag er nicht so, Ausnahme ist hier nur ein interessantes Buch, das schaut er auch lĂ€nger an, Steven liebt Bewegungsspiele, er stellt viele Fragen warum wieso waren und so weiter und ist vielseitig interessiert.
5. Emotionen: Steven bringt seine GefĂŒhle direkt zum Ausdruck er zeigt Freude, und anderes unmittelbar, es fĂ€llt ihm noch schwer seine GefĂŒhle zu steuern und z. B., auch einmal auszuhalten und sich trösten zu lassen.
Mitteilung des Allgemeinen Sozialen Dienstes des zustÀndigen Jugendamtes an das Familiengericht
28.07.2004
Mit Schriftsatz vom 04.05.2004 wurde angefragt, ob der Grund fĂŒr das Ruhen der elterlichen Sorge, gemÀà Beschluss vom 27.02.2001, noch gegeben ist.
Aus diesem Grund fĂŒhrte ich mit der GroĂmutter, Frau Claudia, und dem Enkelsohn Steven, am 27.07.2004, ein GesprĂ€ch.
Der inzwischen 4-JĂ€hrige ist ein gesunder, froher, aufgeweckter Junge. Seit 12/00 besucht Steven die KiTa âWunderlandâ, in der Zeit von 8.00 Uhr bis 14.00 Uhr. Ich erfuhr, dass der Enkelsohn von 2000 bis zum heutigen Zeitpunkt noch nie ernsthaft erkrankt war.
Steven spricht seine Oma mit âMamaâ, âMuttiâ an, selten jedoch mit Oma. Ich erklĂ€rte Frau Claudia M., dass ich dies nicht so gut finde, begrĂŒndete dies auch ihr gegenĂŒber. Die GroĂmutter lieĂ mich wissen, dass Steven schon sagt, das ist meine âBauchmamaâ (leibliche Mutter) und du bist meine âOma-Mamaâ!
Zwischen Frau Claudia und der Tochter Katrin bestehen sporadische Briefkontakte. Die letzte Post erreichte die GroĂmutter vom 11.08.2004, in der ihr mitgeteilt wurde, dass sie sich im Krankenhaus befinde.
Das sich Frau Katrin M. erneut in Haft befand, war ihrer Mutter nicht bekannt. Die Nachricht der JVA lege ich dem Schreiben als Ablichtung bei.
Im September 2003 hielt sich die Kindesmutter fĂŒr eine Woche im Haushalt ihrer Mutter in B. auf. Im Dezember 2003 ein weiteres Mal. Dieser Besuch wurde jedoch von Seiten der Frau Claudia M. am 2. Weihnachtsfeiertag abgebrochen, aus Angst um ihre Wohnung und zum Schutz des Enkelsohnes. Im Kinderzimmer der jĂŒngeren Schwester verursachte Katrin einen Brandschaden, lieĂ ihre Spritzen frei herumliegen, so dass Steven diese hĂ€tte nehmen können. Diese Verantwortung zu tragen, sah sich die Mutter und GroĂmutter nicht mehr im Stande. In dieser Zeit des Urlaubs schaffte es Katrin nicht, sich mit ihrem Sohn zu beschĂ€ftigen. Im Gegenteil. Sie versprach ihm, gemeinsam zu spielen, als sich Steven dieses Versprechen einforderte, schrie sie ihn an: âMensch, du gehst mir auf die Nerven!â
Seit Februar 2000 lebt der Enkelsohn Steven bei Frau Claudia M. Sie sagt, dieses Leben mit ihm, erlebt sie noch einmal ganz anders, als mit ihren eigenen Kindern, da er ein lebhaftes Kind ist. Die eigenen Kinder, Tina und Karl, möchten âden Kleinenâ nicht mehr missen. Frau Claudia M. erklĂ€rt sich bereit, auch weiterhin fĂŒr ihren Enkelsohn zu sorgen und ihn zu erziehen. Denn Steven in eine ungewisse Zukunft, z. B. zur leiblichen Mutter nach A., zu geben, könnte sie nie verkraften.
Aus der Sicht des Jugendamtes sehe ich auch die weitere Perspektive des Jungen bei seiner GroĂmutter. In regelmĂ€Ăigen AbstĂ€nden erscheint Frau Claudia M., mit Steven, bei mir im Jugendamt. Wir nehmen uns dann Zeit fĂŒreinander, ich erfahre Neuigkeiten ĂŒber den Jungen und konnte mich bis jetzt immer von seinem Wohlbefinden ĂŒberzeugen. So wie die GroĂmutter es praktikziert, dass sie der leiblichen Mutter/ihrer Tochter regelmĂ€Ăig Post und Bilder von Steven zukommen lĂ€sst, dabei sollte es auch in der Zukunft bleiben.
Frau Katrin M. lebt in einer betreuten Wohnform, in A. Bis zum heutigen Zeitpunkt ist jeglicher Kontakt zwischen dem Jugendamt und der Kindesmutter abgebrochen.
Die Vorkommnisse wĂ€hrend der Beurlaubung sind Zeichen fĂŒr mich, dass die Mutter weiterhin drogenabhĂ€ngig ist und mit den Drogen unverantwortlich umgeht, was ihre Mitmenschen betrifft.
In unserem vorliegenden Fall wĂ€re zu ĂŒberlegen, ob der Beschluss vom 29.03.2001, gemÀà § 1674 BGB umgewandelt werden könnte, in den § 1630 Abs. 3 BGB vorausgesetzt, die Kindesmutter Katrin gibt ihr EinverstĂ€ndnis.
Mitteilung des Allgemeinen Sozialen Dienstes des zustÀndigen Jugendamtes
17.01.2005
In obiger Sache fĂŒhrten wir als zustĂ€ndiges Jugendamt verschiedene GesprĂ€che mit Frau Claudia M. (Vormund) und dem Enkelsohn Steven sowie schriftlichen Kontakt zur Kindesmutter. Wie wir erfahren konnten, ist die Kindesmutter Katrin M., noch wohnhaft im Betreuten Wohnen in A., noch nicht in der Lage, ihre elterliche Sorge fĂŒr Steven auszuĂŒben, da sie nach w...