Es hat sich ein Konsens herausgebildet, dass die Sprachmöglichkeit des Prologs bzw. seiner Tradition in jĂŒdischen Weisheitsspekulationen gegeben ist. Sie finden sich schon in der hebrĂ€ischen Bibel, in Spr 8 und Hi 28, und in BĂŒchern, die die Septuaginta darĂŒber hinaus hat, in Sir 24, Weish 7â9 und Bar 3,9â4,4, und in weiteren Schriften. Nach diesen Stellen ist die Weisheit das erste der Geschöpfe Gottes. Sie hat ihm bei der Schöpfung geholfen. Sie suchte Wohnung bei den Menschen zu finden, wurde aber abgewiesen. Nach einer Tradition kehrte sie an ihren Ort bei Gott zurĂŒck, nach einer anderen fand sie Aufnahme in Israel. Die ParallelitĂ€t in den genannten Texten und Aussagen im Prolog reicht dort bis V. 12.
Ich zitiere einige Texte zur Weisheit, ausgewĂ€hlt nach den in Joh 1,1â12 begegnenden Motiven: âDer Ewige erschuf mich (die Weisheit) als Anfang seines Weges, das frĂŒheste seiner Werke ehedem. Von Weltzeit an bin ich gemacht, von Beginn der Urzeiten der Erde an. [âŠ] Als er den Himmel errichtete, war ich dort. Als er einen Kreis festsetzte ĂŒber der Urflut, als er die Wolken oben stark, die Quellen der Urflut mĂ€chtig machte, als er dem Meer seine Grenze setzte, dass das Wasser sein GeheiĂ nicht ĂŒberschritte, als er die Grundfesten der Erde festmachte, da war ich bei ihm als Werkmeister, da war ich Ergötzen Tag fĂŒr Tag, spielte vor ihm allezeit, spielte auf dem Kreis seiner Erde und mein Ergötzen war mit den Menschenkindernâ (Spr 8,22f.27â31).
âDie Architektin aller Dinge [âŠ], die Weisheitâ (Weish 7,21).
âAbglanz ewigen Lichtes ist sie, ein unbefleckter Spiegel von Gottes Wirken, ein Bild seiner GĂŒte. Obwohl nur eine, vermag sie alles, bleibt bei sich selbst, aber erneuert das Allâ (Weish 7,26f).
âSie erstreckt sich voll Kraft von einem Ende zum andern, verwaltet heilsam das Allâ (Weish 8,1).
âGott [âŠ], der Du mit Deinem Wort das All gemacht und mit Deiner Weisheit den Menschen bereitet hastâ (Weish 9,1f.).
âBei Dir ist die Weisheit, die Deine Werke kennt, und die zugegen war, als Du die Welt machtestâ (Weish 9,9).
âAus dem Munde des Höchsten ging ich (die Weisheit) hervor. [âŠ] Vor Zeit und Welt, von Anfang an hat er mich geschaffenâ (Sir 24,3.9).
âDie Weisheit â wo ist sie zu finden? Was ist der Ort der Einsicht? Kein Mensch kennt ihren Wert; nicht zu finden ist sie im Land der Lebenden. [âŠ] Die Weisheit â woher kommt sie? Was ist der Ort der Einsicht? Sie ist verhĂŒllt vor den Augen alles Lebendigen, verborgen vor den Vögeln des Himmelsâ (Hi 28,12f.20f.).
âDrauĂen ruft laut die Weisheit, lĂ€sst ihre Stimme erschallen auf den Gassen. Mitten im GetĂŒmmel ruft sie, am Eingang der Tore, redet ihre Reden in der Stadt: âWie lange noch wollt ihr Toren Torheit lieben, begehren Spötter Spott fĂŒr sich und hassen Narren Kenntnis? Kehrt um, dass ich euch zurechtweise! Passt auf! Ich lasse euch meinen Geist hervorsprudeln und meine Worte wissen. Wenn ich rufe und ihr euch weigert, ich meine Hand ausstrecke und keiner zuhört, wenn ihr all meinen Rat unbeachtet lasst und meine Zurechtweisung nicht wollt, dann werde auch ich lachen bei eurem UnglĂŒck, spotten, wenn eure Angst kommt. [âŠ] Dann wird man mich rufen, aber ich will nicht antworten, man wird mich suchen, mich aber nicht findenâ (Spr 1,20â26.28; vgl. 8,1â11).
âDie Weisheit fand keinen Platz, wo sie wohnen konnte, da hatte sie eine Wohnung im Himmel. Die Weisheit ging aus, um unter den Menschenkindern zu wohnen, und sie fand keine Wohnung; die Weisheit kehrte an ihren Ort zurĂŒck und nahm ihren Sitz unter den Engelnâ (1. Hen 42,1f.).
âĂber die Wogen des Meeres und ĂŒber die ganze Erde, ĂŒber jedes Volk und jede Nation habe ich (die Weisheit) Herrschaft gewonnen. Bei ihnen allen suchte ich Ruhe, in wessen Erbteil ich Aufenthalt haben könnte. Da gebot mir der Schöpfer des Alls; der mich erschuf, brachte mein Wohnen zur Ruhe und sprach: âIn Jakob wohne ein, in Israel soll dir Erbe zufallenââ (Sir 24,6â8).
Gott âhat jeden Weg zur Erkenntnis auffindbar gemacht; gegeben hat er sie Jakob, seinem Sohn, Israel, dem von ihm Geliebtenâ (Bar 3,37).3
In diesen Zitaten klingen so gut wie alle Motive und MotivzusammenhĂ€nge an, die sich â abgesehen vom Einschub ĂŒber Johannes den TĂ€ufer â in Joh 1,1â12 finden. Allerdings ist im Prolog nicht von der Weisheit die Rede, sondern vom Wort. Doch stehen beide einander sehr nahe. Denn die Weisheit ist in den angefĂŒhrten Texten vor allem im Zusammenhang der Weltschöpfung und Welterhaltung im Blick. Die erfolgen durch Gottes schöpferisches Wort. So kann nach der zitierten Stelle Sir 24,3 gesagt werden, dass die Weisheit aus dem Mund Gottes hervorgeht. Nach der ebenfalls schon zitierten Stelle Weish 9,1f. werden die Erschaffung des Alls durch das Wort4 und die des Menschen durch die Weisheit einander parallelisiert. Diese Stellen zeigen zur GenĂŒge, dass die Möglichkeit gegeben war, so zu reden, wie es im Prolog geschieht.5 Bei der Einzelbesprechung wird sich zeigen, dass Johannes in V. 14â18 noch andere Sprachmöglichkeiten wahrnimmt.
So kann es nicht darum gehen, den Prolog von religionsgeschichtlichen Modellen her zu âerklĂ€renâ. Es ist vielmehr danach zu fragen, warum Johannes die ihm gegebenen Möglichkeiten so nutzt, wie er es tut. Er setzt offenbar bewusst am Anfang seiner jĂŒdischen Bibel an, beim schöpferischen Wort Gottes, das er deshalb mit Jesus identifizieren kann, weil durch ihn und vor allem an ihm wiederum ein schöpferisches Handeln Gottes geschieht. Warum aber beginnt Johannes mit dem von Gott bei der Schöpfung gesprochenen Wort, wenn er doch im Evangelium die Geschichte Jesu erzĂ€hlen will? Damit ist wieder die Frage nach der Funktion des Prologs gestellt. Doch ist zuvor noch auf seinen Aufbau einzugehen, der wichtige Hinweise fĂŒr sein Verstehen geben kann.