Pädagogik und Zeitgeist
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Pädagogik und Zeitgeist

Erziehungsmentalitäten und Erziehungsdiskurse im Wandel

  1. 319 Seiten
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Pädagogik und Zeitgeist

Erziehungsmentalitäten und Erziehungsdiskurse im Wandel

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Über dieses Buch

Die Fragen, was "falsch läuft" in der Erziehung und wie "richtiges pädagogisches Handeln" aussehen könnte, ob wir mehr Disziplin, Autorität, Unterordnung oder aber mehr Selbständigkeit, Verantwortlichkeit und Mündigkeit brauchen, sorgen immer wieder für heftig-kontroverse öffentliche Debatten. Entsprechend finden sich dort Klagen über eine vermeintliche "Erziehungskatastrophe", eine "Erziehungsvergessenheit" einen "Erziehungsnotstand" ebenso wie Klagen über die überzogene Fürsorglichkeit, Ambitioniertheit und "Förderwut" heutiger Eltern, Lehrer und Erzieher. Gerade der Bereich der Erziehung ist also in besonderem Maße den Konjunkturen des pädagogischen Zeitgeistes ausgeliefert. Diese betreffen aber nicht nur die Ebene der Alltagskultur und der populären Bestseller. Auch die Erziehungswissenschaft selbst ist nicht frei davon. Das Buch nimmt markante Entwicklungen, die sich auf dem Erziehungs- und Bildungssektor in den letzten Jahren ereignet haben, unter die Lupe. Es sind Entwicklungen, die einmal die "Erziehungsmentalitäten" betreffen. Es sind andererseits aber auch Entwicklungen, die eher die "Erziehungsdiskurse" betreffen. Das Buch will hier in kritischer Funktion zu einer Klärung und Versachlichung beitragen.

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Information

Jahr
2010
ISBN
9783170277922

Teil II
Wandel der einzelnen pädagogischen Felder

Kapitel 5
Von der Partnerschaftlichkeit zur Unterordnung in der Familie? Fragwürdige Tendenzen in aktuellen Erziehungsratgebern

Wenn man für eine ganz spezifische Gruppe von Jugendlichen, die wiederholt wegen gravierender Gewaltdelikte auffällig wurden, unter ganz bestimmten Voraussetzungen, d. h. vor allem unter der Maßgabe, dass sie sich selbst per Vertrag auf ein solches „Trainingsprogramm“ einlassen, „konfrontative Ansätze“ für diskussionswürdig hält, bedeutet dies keineswegs, damit gleichzeitig ganz allgemein einem neuen „harten“, „autoritären“ Erziehungsgeist das Wort zu Reden oder gar für den Bereich der Familie eine Wiederbelebung einer Kultur der Unterordnung und des Gehorsams zu fordern. Solche Forderungen haben derzeit aber durchaus Konjunktur:
In den Jahren 2008 und 2009 rangierte Michael Winterhoffs Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit“ (Winterhoff 2008) ganz vorne in der Spiegel-Bestsellerliste und es hat bereits im Jahr seines Erscheinens 13 Auflagen erlebt. Welches pädagogische Fachbuch könnte mit diesem Verkaufserfolg konkurrieren? Es handelt sich insofern um ein typisches Buch pädagogischer Kulturkritik, als es von der Grundkonzeption her so angelegt ist, dass es eine massive Kritik der aktuellen erzieherischen Verhältnisse mit dem Verweis auf die „natürlichen“ kindlichen Grundbedürfnisse, die dort nicht mehr ausreichend befriedigt würden, vorträgt. In seiner erziehungskritischen Kapuzinerpredigt schreckt Winterhoff nicht davor zurück, das Aufwachsen der Generation der nach 1990 Geborenen in Bausch und Bogen als komplett misslungen zu brandmarken: Wohin die vorherrschende verweichlichte, vom Ideal der „Partnerschaftlichkeit“ irregeleitete Erziehungsmentalität der letzten Jahre geführt habe, sehe man „an all den kleinen Monstern und Tyrannen, die uns heute umgeben“ (ebd., S. 183). Diese Kinder seien psychisch immer unreifer, unsozialer und ungehemmter, leistungsmäßig immer unwilliger und unfähiger. Deshalb soll im Folgenden eine ausführliche und exemplarische Auseinandersetzung mit dieser Art von populärer Erziehungs- und Kulturkritik stattfinden.
Ich war zunächst durchaus neugierig auf dieses Buch. Ich dachte mir, da Winterhoff einerseits von einer tiefenpsychologisch-therapeutischen Perspektive aus schreibt – einer Perspektive, die mir prinzipiell durchaus nahe steht – und da er sich zudem vehement gegen die auch von mir als sehr problematisch empfundene Rede von den „Kindern als kleinen Erwachsenen“ stemmt (immerhin hatte mein Habilitationsvortrag damals den Titel: Kinder als ‚kleine Erwachsene‘ – Wider das Verschwinden der Kindheit in der modernen Kindheitsforschung, vgl. Göppel 1997), könnte hier eine wirklich interessante Auseinandersetzung mit der aktuellen Erziehungsrealität vorliegen. Ich muss gestehen, dass ich bei der Lektüre sehr enttäuscht war und die Popularität dieses Buches noch weniger verstehen kann als die von Buebs „Lob der Disziplin“ (Bueb 2006).

1 Pädagogische Apokalyptik ohne empirische Basis

Dabei ist Winterhoffs Grundbotschaft durchaus eine ähnliche wie die Buebs. Nur dass bei ihm eben der antipsychologische Affekt, der bei Bueb deutlich spürbar ist, keine solche Rolle spielt. Aber auch hier werden die gegenwärtigen Erziehungsverhältnisse in einer unglaublich pauschalisierenden Art schlechtgeredet und es wird die vermeintliche heile Erziehungswelt früherer Kindergenerationen dagegengesetzt.
Auch hier werden ohne plausible empirische Belege permanent Aussagen über die vermeintlich massive Zunahme von Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen und über den vermeintlichen permanenten Niedergang des schulischen Anforderungsniveaus und der schulischen Leistungen in die Welt gesetzt. So heißt es etwa: „Gab es vor 15 oder 20 Jahren etwa zwei bis vier auffällige Kinder pro Schulklasse, so hat sich das Verhältnis heute genau umgedreht: … von etwa 25 Kindern in einer Schulklasse sind heute noch zwei bis vier komplett unauffällig, alle anderen zeigen, in der Mehrzahl miteinander kombinierte, Störungsbilder“ (Winterhoff 2008, S. 170). In einem kurz darauf erschienenen Artikel in der BILD-Zeitung, in dem der „Bestseller-Autor Dr. Michael Winterhoff in der neuen großen BILD-Serie erklärt, … was Eltern falsch machen“, bringt Winterhoff diese Pathologisierungsthese und seine problematischen Lösungsvorschläge publikumswirksam unters Volk. Dort behauptet Winterhoff nämlich, er sei sich sicher: „70 bis 80 Prozent der Kinder sind inzwischen wegen falscher Erziehung verhaltensauffällig“ (Winterhoff 2009, S. 8).
Wenn man dagegen die sorgfältige und umfassende Metaanalyse zu den vorliegenden empirischen Studien über die Prävalenz von Verhaltensstörungen bei den Kindern und Jugendlichen in Deutschland betrachtet, die Barkmann und Schulte-Markwort erstellt haben, dann kommt diese zu deutlich anderen Ergebnissen. Sehr entschieden wird dort der immer wieder in den populären Medien kolportierten These widersprochen, dass ein Trend zur Zunahme von psychischen Auffälligkeiten über den Verlauf der letzten Jahre hinweg evident sei. In diesem Sinne heißt es als Fazit auf die selbstgestellte Leitfrage „Ist eine Zu- oder Abnahme von Auffälligkeiten über die Zeit identifizierbar?“ (Barkmann/Schulte-Markwort 2004, S. 279). „Eine lineare Regressionsanalyse über alle n = 28 Studien ergibt einen Steigerungskoeffizienten der Regressionsgeraden von b = –0,06 Prozentpunkten pro Jahr und belegt damit eine leichte Abnahme gemessener Prävalenz über die Zeit.“ Da aber wegen sehr unterschiedlicher Designs und Grenzwertsetzungen der einzelnen Studien eine direkte Vergleichbarkeit schwierig sei, kommen die Autoren zu dem Schluss: „Eine Zu- oder Abnahme psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland über die letzten 50 Jahre ist also aus den bislang vorliegenden Untersuchungen nicht ableitbar“ (ebd., S. 283, vgl. ausführlich dazu: Göppel 2007).
Ähnlich wie Bueb beschwört auch Winterhoff die positive heile erzieherische Welt früherer Zeiten. Allerdings setzt er dabei etwas andere, nicht näher begründete historische Epochengrenzen bzw. „Verfallsdaten“ als dieser. Während nach Bueb bereits mit den 68ern alles aus dem Ruder lief, meint Winterhoff, dass es bis Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts noch weitgehenden Konsens über die „klassische Art der Kindererziehung“ gegeben habe, in der die Erziehung – weil noch stärker intuitiv geleitet und nicht von der Fülle der Erziehungsratgeber irritiert – weitgehend funktioniert habe, da die Generationendifferenzen klar und allgemein anerkannt waren.
Dabei ist natürlich gerade die Tatsache, dass Winterhoff in seinem eigenen Erziehungsratgeber über die Flut der Erziehungsratgeber und deren negative Folgen lästert, besonders kurios. So verkündet der Oberexperte in Sachen Erziehung: „Erziehungsratgeber erleben einen Boom. Eine ganze Armada von Experten aus verschiedenen Richtungen hat hier ein Betätigungsfeld gefunden, auf dem sie sich so richtig austoben kann“ (Winterhoff 2008, S. 83). Ebenso kurios ist es, wenn ein Autor, der so offensichtlich mit negativen Überzeichnungen arbeitet, der geradezu darin schwelgt, die aktuelle Lage der Kindheit und Jugend in düstersten Farben zu zeichnen und die erzieherische Apokalypse an die Wand zu malen, sich dann über die journalistische Tendenz beklagt, beständig das Negative in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, das Krankhafte als Normalzustand darzustellen und damit „immer von neuem zu beweisen, wie schlecht die Welt geworden sei“ (ebd., S. 173). Und an einer anderen Stelle tobt sich Herr Winterhoff dann auch gegen die wissenschaftliche Publizistik aus: „Ständig werden – oft kaum geprüft – neue scheinbar wichtige Erkenntnisse zum Thema publiziert und mit dem Prädikat ‚wissenschaftlich bewiesen‘ versehen, die sich nicht selten dann auch noch gegenseitig widersprechen“ (ebd., S. 174). Auch dies eine reichlich dreiste Kritik aus der Feder eines Autors, der es mit den wissenschaftlichen Belegen für seine eigenen starken Thesen nun wahrlich nicht sehr genau nimmt und dessen eigenes Buch vor Widersprüchen geradezu strotzt.
So weisen zum Beispiel die empirischen Daten im Hinblick auf den historischen Wandel der Erziehungsmentalitäten – wenn man etwa von den Befragungen zu den primären Erziehungswerten ausgeht, die Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder wichtig sind – genau in die entgegengesetzte Richtung wie bei Winterhoff behauptet. Zwar gab es hier bei den entsprechenden repräsentativen Befragungen tatsächlich während der gesamten Nachkriegszeit einen deutlichen Anstieg der Erziehungsziele „Selbständigkeit und freier Wille“ und einen Niedergang der Erziehungsziele „Gehorsam und Unterordnung“, doch gerade seit Ende der 1980er Jahre zeichnet sich hier eine Trendumkehr ab und die traditionellen Werte „Gehorsam und Unterordnung“ sowie „Ordnung und Fleiß“ erfahren in den letzten Jahren wieder deutlich höhere Zustimmung (vgl. Noelle-Neumann/Petersen 2001).
Und paradoxerweise gab es gerade Ende der 1980er Jahre auch schon einmal eine lebhafte Diskussion um Kinder als „kleine Tyrannen“, mit ganz ähnlichen Klagen über die zunehmende Gestörtheit der Kinder und mit ganz ähnlichen Erklärungsthesen über die Ursachen diese erzieherischen Missstände, wie sie Winterhoff heute vorträgt. Auslöser war damals Jrina Prekops viel gelesenes Buch: „Der kleine Tyrann – Welchen Halt brauchen Kinder?“ (Prekop 1988). Auch Prekop machte damals die „sanfte Welle“ in der Erziehung, den Mangel an Führung, Durchsetzung und Zwang für die zunehmende pathologische „Herrschsucht“ der Kinder verantwortlich, kritisierte, dass moderne Eltern sich zu sehr den Kindern anpassten und damit deren Allmachtsphantasien nährten. Doch auch dieses Buch, das dem eigenen im Titel, in der Problemanalyse und in den pädagogischen Forderungen so ähnlich ist, scheint Winterhoff gar nicht zu kennen, es wird jedenfalls an keiner Stelle erwähnt. Von jedem Selbstzweifel hinsichtlich der Neuheit und Originalität der eigenen Problemanalysen frei, meint Winterhoff sogar an einer Stelle über sein eigenes Werk: „Noch vor einigen Jahren hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können, da die hier beschriebenen Entwicklungen nicht als pathologisch erkannt, sondern als Folge normaler und wünschenswerter Erziehung der Kinder zu selbständigen Individuen hingenommen worden wären“ (Winterhoff 2008, S. 48). Es musste also erst Herr Winterhoff kommen und uns die Augen öffnen für das Pathologische in den vermeintlich selbstbewussten kindlichen Willensäußerungen und in den vermeintlich partnerschaftlichen, dialogischen Eltern-Kind-Beziehungen.
Auch wenn Winterhoffs explizite Schlüsselworte nicht wie bei Bueb „Disziplin“ und „Autorität“ sind, sondern eher „Hierarchie“, „Abgrenzung“, „Führung“ und selbst wenn er immer wieder betont, dass er nur psychologische und kulturelle Analysen und kein neues Erziehungskonzept liefern wolle, so schimmert doch allein in der Art und Weise, wie er in den Fallbeispielen das Fehlverhalten heutiger Eltern vorführt und wie er über die erzieherischen Trends der letzten Jahrzehnte klagt, eine ganz ähnliche, stockkonservative Erziehungshaltung durch: Es müsse einfach wieder klar gestellt und ins allgemeine Bewusstsein gebracht werden, dass Eltern das Sagen hätten und Kinder in die „untergeordnete Rolle“ gehörten und somit zu gehorchen hätten.

2 Die Idee der „Partnerschaftlichkeit“ als Sündenfall der Pädagogik?

Die Idee der „Partnerschaftlichkeit“ im Umgang mit dem Kind, die Tatsache, dass Erwachsene und Kinder heute vielfach „auf Augenhöhe“ miteinander kommunizieren, ist für Winterhoff der eigentliche Sündenfall der Pädagogik. Sie wird von Winterhoff entsprechend als eine ernsthafte Form von „Beziehungsstörung“ verstanden, eine Beziehungsstörung, die sich inzwischen aber leider allgemein in der Erziehung durchgesetzt habe, als völlig normal gelte und die doch die Wurzel allen Übels ausmache. Dabei bleibt in Winterhoffs Buch ziemlich offen, was mit Partnerschaftlichkeit genau gemeint sein soll. Dass ein Kind kein Partnerersatz für einen alleinerziehenden Elternteil sein kann, ist klar. Dass es für ein Kind hochbelastend sein kann, in die Partnerschaftskonflikte der eigenen Eltern hineingezogen zu werden, ebenfalls. Dass es bestimmte Entscheidungen gibt – etwa über die Größe, Lage und Finanzierbarkeit der Wohnung, über größere Anschaffungen, über die Sinnhaftigkeit eines Versicherungsabschlusses und die Notwendigkeit eines Arztbesuches – die allein von den Eltern zu treffen und zu verantworten sind, das liegt auf der Hand.
Aber was spricht dagegen, dass etwa bezüglich der Aufgabenverteilung im Haushalt, d.h. bezüglich der Aufgaben, die die Kinder dort regelmäßig übernehmen sollen, eine „Familienkonferenz“ stattfindet, oder dass die Interessen der Kinder bei der Planung der gemeinsamen familiären Freizeitgestaltung am Wochenende berücksichtigt werden, oder dass sie sogar weitgehende Entscheidungsspielräume zugesprochen bekommen, was die Wahl der präferierten Sportart oder die ästhetische Ausgestaltung ihres Kinderzimmers anbelangt? Wenn es im Absatz 2 des § 1626 über die elterliche Sorge im Bürgerlichen Gesetzbuch heißt: „Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an.“ Ist das dann der gesetzliche Niederschlag der grassierenden Beziehungsstörung in unserer Kultur? Ist es Ausdruck der verhängnisvollen „Zwangsbefreiung des Kindes aus der untergeordneten Rolle“ (ebd., S. 93) oder ist das nicht eine ganz vernünftige Maxime?
In diesem Sinne hat die Kinder- und Jugendpsychiaterin und Expertin für sexuellen Missbrauch bei Kindern, Kerstin Stellermann, auch mit Recht darauf hingewiesen, dass der Vermittlung von „Selbstwirksamkeit“ eine zentrale Rolle bei der Prävention zukommt, und dass dieses Gefühl der „Selbstwirksamkeit“ wiederum an die Erfahrung gebunden ist, dass die kindlichen Vorstellungen und Wünsche von den Erwachsenen ernst genommen werden: „Ein Kind, das mit vier Jahren gelernt hat, ich will den blauen Pullover anziehen und nicht den roten, und das erlebt, dass diese Aussage ernst genommen wird, wird sich auch gegen unerwünschte Zudringlichkeiten wehren“ (zit. n. Rückert u. a. 2010, S. 18).
All die feineren altersspezifischen und bereichsspezifischen Differenzierungen hinsichtlich einer problematischen, überfordernden und einer sinnvollen, entwicklungsförderlichen „Partnerschaftlichkeit“ zwischen Eltern und Kindern fehlen bei Winterhoff vollständig. Die eigentliche Kunst der Erziehung besteht ja gerade darin, zwischen spontanen Launen, oppositionellen Trotzreaktionen, manipulativen Vermeidungsstrategien einerseits und berechtigten Interessen, ernsten Anliegen und bedeutsamen Herzenswünschen der Kinder andererseits, zu unterscheiden. Und für solche Unterscheidungen sind dann solche pauschalen Thesen wie die, dass die Eltern führen müssten und dass das Kind qua Reifungsdefizit in die untergeordnete Position gehöre und folgen müsse, ziemlich wenig hilfreich. Sie werden auch dadurch nicht besser, dass dann – ähnlich wie bei Bueb – an irgendwelchen Stellen des Buches betont wird, dass natürlich grundsätzlich die „Liebe“ die Grundlage des Eltern-Kind-Verhältnisses sein solle.

3 Ab wann haben Kinder eine eigene Persönlichkeit?

Irritierend und in gewissem Sinne verräterisch in diesem Zusammenhang ist auch, dass Winterhoff Kindern weitgehend eine eigene individuelle Persönlichkeit abspricht und ihren subjektiven Wünschen und Willenskundgebungen kaum eine wirkliche Relevanz beimisst. So mokiert er sich etwa mit folgenden Worten über Eltern, die vom „starken Willen“ ihres Kindes sprechen. „Mit solchen Beschreibungen wird dem Kind eine eigene Persönlichkeit zugeschrieben, die es in einem so frühen Stadium seines Lebens noch gar nicht haben kann, da die Persönlichkeitsentwicklung erst mit dem achten oder neunten Lebensjahr einsetzt“ (ebd., S. 28). Auf welche entwicklungspsychologische Theorie er sich mit dieser erstaunlichen These bezieht, bleibt offen. Ich kenne keine, die ihm hier zustimmen würde. Umgekehrt geht, sowohl im Bezug auf die basalen emotionalen Persönlichkeitsprägungen als auch im Bezug auf die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen, der Trend in den maßgeblichen Wissenschaftsdisziplinen in den letzten Jahren immer stärker in die Richtung, den frühen Entwicklungs- und Lernprozessen hohes Gewicht beizumessen und die grundlegenden Persönlichkeitszüge mit dem achten oder neunten Lebensjahr als weitgehend formiert zu betrachten. So meint etwa der Hirnforscher Gerhard Roth, „Persönlichkeit und Charakter des Menschen und damit die Grundstrukturen der Beziehung zu sich selbst und zu seiner Umwelt werden biographisch sehr früh festgelegt“ (Roth 2003, S. 552), und der Entwicklungspsychologe Wolfgang Schneider zieht folgendes Fazit zum Gesamtergebnis der von ihm geleiteten Längsschnittstudie LOGIK: „Wir hätten nicht erwartet, dass so viel in der Entwicklung bereits sehr früh festgelegt ist. Wir haben die intellektuellen Fähigkeiten der Kinder ebenso untersucht wie ihr soziales Verhalten, haben die Feinmotorik geprüft und nach dem Moralverständnis gefragt. Und über fast alle Persönlichkeitsbereiche hinweg stellte sich heraus, dass die Unterschiede zwischen den Kindern, die wir mit 3 oder 4 Jahren gemessen haben, mit 23 Jahren immer noch weitgehend bestanden“ (Schneider 2006, S. 3, vgl. auch Singer 2002, Hüther 2004).
Bei Winterhoff aber scheint es bisweilen so, als spiele das individuelle Kind mit seinen persönlichen Interessen, Neigungen und Wünschen kaum eine Rolle, als müsse dem Kind seine eigene Psyche erst „antrainiert“ werden. In diesem Sinne heißt es: „Bildung der Psyche bedeutet ständiges Training ihrer Funktionen.“ Und entsprechend scheint es, als bestünde die pädagogische Hauptaufgabe im Kindergarten- und Grundschulalter in der Einübung und Einschleifung von U...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Einleitung
  6. Teil I Wandel der Problembeschreibungen und Problemlösungsstrategien
  7. Teil II Wandel der einzelnen pädagogischen Felder
  8. Teil III Wandel der grundlegenden Begriffe und Konzepte
  9. Teil IV Wandel der übergreifenden Zielpersepektiven
  10. Literatur
  11. Quellennachweise