Lebendiges Judentum
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Lebendiges Judentum

Texte aus den Jahren 1943 bis 2010

  1. 270 Seiten
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Lebendiges Judentum

Texte aus den Jahren 1943 bis 2010

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Quellenangaben

Über dieses Buch

Diese Texte des Rabbiners, Religionsphilosophen und Humanisten Leo Trepp sind für Juden und Nichtjuden gleichermaßen von Interesse. Sie zeugen davon, wie engagiert Trepp zu jeder Zeit auf zwei zentrale Fragen eingegangen ist: Wie kann das Judentum für die Juden aktuell und bedeutungsvoll bleiben? Und: Was kann es den anderen Kulturen geben? So setzt sich Trepp mit dem Religionsbild der Christen ebenso auseinander wie mit dem jüdischen Staat Israel, der Judentum, Christentum und Islam Schutz geben kann und soll. Besonderes Anliegen ist für ihn die Frage, wie die Juden ihr Verhältnis zu Deutschland nach der Schoa neu gestalten können und welche Basis für einen sinnvollen Dialog zwischen Juden und Christen erforderlich ist. Eingehend beschäftigt sich Trepp mit Samson Raphael Hirsch, Franz Rosenzweig und Hermann Cohen, mit Mordechai Kaplan, der ihn und den er stark beeinflusst hat, aber auch mit der Frage, welche Bedeutung das Land Israel für das Judentum und welchen Einfluss jüdisches Denken auf das heutige Leben hat - sei es im Dialog mit dem Islam oder in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783170271241

ERSTER TEIL
ZUM EINFLUSS JÜDISCHER PHILOSOPHEN

Ein religiöser Evolutionist

Das Porträt von Michael Creizenach wurde 1944 im amerikanischen Magazin ‚Liberal Judaism‘ veröffentlicht. Zum einen ist es eine Hommage an einen Mann, der schon im frühen 19. Jahrhundert erkannt hatte, dass, wenn das Judentum für die Menschen Bedeutung behalten soll, es für sie bedeutend, interessant und praktizierbar gestaltet werden muss. Doch über diesen Grundgedanken hinaus weist es auf zwei wichtige Dinge hin: Der frühe Reformer versucht die Menschen „mitzunehmen“, wie man heute sagen würde. Er hatte verstanden, dass eine Reform ohne die Menschen eine Reform gegen die Menschen ist und zu mehr Schaden als Nutzen führen konnte. Und Creizenach ist der festen Überzeugung, dass, um Dinge ändern zu können, man sie erst einmal verstehen und sie durchdrungen haben muss.
Beide Aspekte waren Trepp Zeit seines Lebens wichtig. Es konnte ihn stark frustrieren, wenn er merkte, dass Reformrabbiner einen Gottesdienst „light“ hielten, und offensichtlich wurde, dass sie nicht wussten, was sie wann wegließen, und warum sie es taten. Dass er diese Seite an Creizenach so explizit beschreibt, kann durchaus damit zu tun haben, dass die Arbeit für ein Reformmagazin geschrieben worden war und er die Chance gern wahrnahm, den Reformrabbinern diese Charaktereigenschaft Creizenachs vorzustellen. Genauso wie ihn Unkenntnis auf Reformseite ärgern konnte, ließ er allerdings Orthodoxe abblitzen, wenn sie ihm erklärten, etwas müsse diesen oder jenen Weg gehen, ohne eine andere Begründung dafür zu haben, als dass ihre Großeltern es auch schon so gehandhabt hätten. Judentum sollte und musste laufend verändert werden und manches auch eben nicht, doch jeder, der es unternahm, musste, wie er es von Creizenach schreibt, „seinen Talmud“ kennen und wissen, wovon er sprach.
Ab 1833 arbeitet Creizenach an seinem Schulchan Aruch – übersetzt: „gedeckter Tisch“. Manche Leser werden mit diesem Terminus vertraut sein, denn der Schulchan Aruch, den Josef Karo im 16. Jahrhundert veröffentlichte, ist der wohl bekannteste und – mit Ergänzungen anderer Lehrer versehen – der immer noch meist benutzte Kodex der Halacha weltweit. Von Karo für das sephardische Judentum konzipiert, wurde er um Kommentare für das aschkenasische Judentum erweitert, dessen akzeptiertes Regelwerk sich in einigen Fragen von dem sephardischen unterschied. Wie aus dem folgenden Text hervorgeht, entwickelt Creizenach in seinem Schulchan Aruch neue Interpretationen der Halacha.
Michael Creizenach wurde am 16. Mai 1789 in Mainz geboren. Zu den wenigen Rechten, die Juden damals im Getto hatten, gehörte die Ausbildung ihrer Kinder an den öffentlichen Schulen der Erzdiözese. Es war jedoch nicht verpflichtend und nur sehr wenige nahmen dieses Recht auch tatsächlich in Anspruch. Doch die Saat, die der Erzbischof damit gesät hatte, sollte bald sprießen. Als Creizenach drei Jahre alt war, wurden die Juden in Mainz als vollwertige Bürger unter französischem Recht anerkannt und begannen sofort damit, die modernen Bildungswege für sich zu nutzen. Eine Reihe von Eltern schickten ihre Kinder auf das neu organisierte Lyzeum. Einer der neuen Schüler (in der Zeit von 1806 bis 1809) war Michael Creizenach, der die Schule schon nach zweieinhalb Jahren mit Auszeichnung verließ.
Seine Familie war ein alteingesessener Teil der Gemeinschaft – sehr angesehen und ziemlich wohlhabend. Bereits als kleiner Junge war er mit dem Studium hebräischer Themen vertraut gemacht worden. Im Laufe seiner Schulzeit kamen moderne Sprachen und Mathematik hinzu, ohne dass er darüber seine jüdischen Studien bei den Rabbinern der Gemeinde vernachlässigte. Für die Mathematik hatte er eine besondere Gabe, in einigen seiner zahlreichen Lehrbücher sollte er sich später mit mathematischen Themen beschäftigen, so schrieb er verschiedene Bücher zur Geometrie. Bei all dem erwarb er mehr als reines Wissen: Sein Studium ließ ihn die Bedeutung der Bildung an sich wertschätzen. Er vertiefte sich in die Schriften von Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseaus und genoss die Vielfalt verschiedener Sprachen. Creizenach wurde klar, dass eine neue Ära für das jüdische Volk angebrochen war, und dass Religion mit den modernen Ideen in Einklang gebracht werden musste, wenn die Juden unter den neuen Umständen ein stimmiges Leben führen wollten. Er hatte selbst gerade einmal die Schule abgeschlossen, da entschied er sich, Lehrer zu werden und seinem Volk durch Erziehung zu helfen, in den neuen Status hineinzuwachsen.
So organisierte der junge Mann – mittlerweile ebenso hochgewachsen wie stark und tatkräftig – im Jahr 1813 eine höhere Bildungsanstalt für die jüdischen Kinder. Sein Projekt stieß zunächst auf heftigen Widerstand der Gemeinde, gewann dann aber die Zustimmung der gesamten Gemeinschaft einschließlich des alteingesessenen Rabbiners. Der Lehrplan der Schule war revolutionär: anstatt auf Griechisch oder Latein lagen die Schwerpunkte auf modernen Sprachen, Mathematik, Geschichte und dem Naturstudium. Die Behörden der Stadt verfolgten die Unternehmung von Beginn an mit großem Interesse, bevor sie 1831 entschieden, selbst ähnliche Schulen für die allgemeine Bevölkerung einzurichten. Über ein Jahrhundert später hörte der Autor dieses Beitrags, wie Creizenach von der Stadt Mainz als Vater der modernen Pädagogik gelobt wurde.
Doch Jugendpädagogik war nur ein Abschnitt der Arbeit, der sich Creizenach verschrieben hatte, er erstrebte die Erziehung des ganzen Volkes. Er wurde Redner, veröffentlichte ein monatliches Magazin, in dem er seine Ideen formulierte und sich mit den praktischen Problemen der Gemeinde auseinandersetzte. Er schrieb Flugblätter und Broschüren und setzte alles dran, den eigenen kulturellen Horizont zu erweitern. Im Jahre 1824 erwarb er seinen Doktortitel an der Universität Gießen und wurde ein Jahr später an das Philanthropin nach Frankfurt gerufen, um zu helfen, diese jüdische Schule nach seinem Ansatz umzugestalten – mit ihrer modernen Pädagogik genoss die Institution dann über ein Jahrhundert lang große Wertschätzung und Berühmtheit weit über Frankfurt hinaus.
Von 1833 bis 1840 veröffentlichte er sein Hauptwerk „Shulchan Aruch, oder enzyklopädische Darstellung des mosaischen Gesetzes wie es durch die rabbinischen Satzungen sich ausgebildet hat, mit Hinweisung auf die Reformen, welche durch die Zeit nützlich und möglich geworden sind“. In vier Bänden beschreibt Creizenach darin die Entwicklung des Talmuds, analysiert dessen Charakter und Struktur und zeigt auf, wie „durch ein Festhalten an der talmudischen Auslegung und eine Abschaffung talmudischer Einschränkungen der Kampf zwischen Leben und Gesetz erfolgreich ausgeglichen werden kann“. Er schrieb mit großer wissenschaftlicher Erkenntnis und ging in der Forschung akribisch vor. Doch die Forschung war nicht das Ziel seiner Arbeit. Das Ziel war vielmehr, das Volk davon zu überzeugen, dass das mosaische Gesetz und das Judentum als Ganzes nur durch eine Reform des Rituals gestärkt werden könne.
Als er diese Bücher abgeschlossen hatte, spürte Creizenach, dass nun sein eigentliches Schaffenswerk beginnen würde – jetzt konnte er seine Ideen im Leben umsetzen. Plötzlich jedoch nahm seine Gesundheit rapide ab, und er verstarb am 5. August 1842. Die Grabrede hielt sein Freund, der Historiker Isaak Markus Jost. Er lobte Creizenach als einen Mann, der sich selbst, seine Generation und deren Bedürfnisse zutiefst gekannt hatte; als jemand, der die Beschränkungen des menschlichen Wissens verstand und aus diesem Grund ein wahrer Pädagoge war – fest in seinen Überzeugungen und doch vorsichtig und überlegt in seiner Kritik.
Das Wirken von Michael Creizenach kann am besten von seiner Rolle als Pädagoge her verstanden werden. Pädagogen mögen in der Theorie oft Revolutionäre sein, doch sind sie dies selten in der Praxis, denn der Prozess der Pädagogik ist viel mehr der einer Evolution als einer Revolution. Als Student hatte Creizenach einen tiefen, ehrfürchtigen Respekt vor der Kultur israelitischer Vergangenheit, die uns durch die Bibel wie auch den Talmud übermittelt worden ist. Er hatte hohe Achtung vor den gelehrten Rabbinern, unter denen er studierte und die, abseits ihrer religiösen Ansichten, aufgeschlossene Männer in der Stadt Mainz waren. Daher versuchte er eher, das Volk zu überzeugen anstatt es zu zwingen und zog es vor, alte Lehrmeinungen neu zu interpretieren, anstatt sie loszuwerden. Als Pädagoge vertrat er die Ansicht, dass nur derjenige, der die Thematik in der Tiefe durchdrungen und verstanden hatte, befähigt werden sollte, jüdische Institutionen zu reformieren. Darum müssten zwei Fragen bejaht werden, bevor irgendeine Reform angegangen werde: Schadet das alte Gesetz? Und kann die neue Idee in einem evolutionären Prozess entwickelt werden?
Während er Reformen grundsätzlich befürwortete und guthieß, warnte er zugleich vor jeglichem radikalen Wandel, für die die breite Masse und die Rabbiner nicht offen sein könnten. Solch ein Wandel würde lediglich für Zwietracht im Volk Israel sorgen, wenn doch Einheit das primäre Ziel bleiben müsse. Daher kritisierte er das Auslassen jeglicher Referenzen zum Messias und einer künftigen Volksgemeinschaft (im Staate Israel) im neuen Gebetbuch des Hamburger Tempels. Im Grunde könne jeder selbst diese Formulierungen als symbolisch oder wörtlich interpretieren, und durch das Auslassen hätten die Autoren „womöglich darin versagt, den fundamentalen Grundsatz aller religiösen Rekonstruktion zu beachten, der lautet, den Anhängern der Religion, die es zu reformieren gilt, eine umfassende Möglichkeit zu geben, an den geplanten Verbesserungen teilzunehmen“.
Wo liegt dann sein Beitrag für die Liberalisierung des Judentums? Man könnte sagen: In der Tatsache, dass seine Werke belegen, wie ernst die Reformer ihre Aufgabe nahmen. Sie waren nicht von dem Wunsch nach Assimilierung getrieben, sondern von dem Bedürfnis, das Judentum neu zu beleben. Sie waren keine Männer, denen es an jüdischem Wissen mangelte, sondern Pioniere, die ihren Talmud kannten und gewissenhaft mit allen Problemen rangen, bevor sie Entscheidungen trafen.
Michael Creizenach ging noch einen Schritt weiter. Nachdem er die Irrtümer seiner Zeit aufgezeigt hatte, definierte er klar, was das Ziel aller Reform sein solle, nämlich: dem Durchschnittsbürger zu ermöglichen, ein normales Leben zu führen, ohne bei jedem Schritt von der Last überkommener Regeln und Vorschriften beschwert zu werden. Doch müsse man reformieren, ohne fundamentale Grundlagen unserer Religion zu kompromittieren oder zu opfern. Doch es sei besser, diese Regeln abzuschaffen, als zu sehen, wie die Menschen selbst sie irgendwann verwerfen und dabei die Religion an sich weniger und weniger respektieren. Doch Hand in Hand mit diesen negativen Reformen, die aussondern, sollten die positiven gehen. Die öffentlichen Gottesdienste müssten würdig gestaltet werden, und Creizenach entwarf eine Form des öffentlichen Gottesdienstes, die mit der Zeit allgemeine Anerkennung erfuhr und sogar noch heute Beachtung findet. All dies zeigt, wie revolutionär seine Ideen zu seiner Zeit waren. Ebenso müsse das Leben in jüdischen Haushalten erneuert werden. Selbst vor einem Jahrhundert scheint dies unter den orthodoxen Verhältnissen vernachlässigt worden zu sein, denn Creizenach betonte diesen Punkt besonders. Wie auch der Gottesdienst sollte es verschönert werden, um neue Würde und tiefere Bedeutung zu erhalten. Schließlich rief er dazu auf, die jüdische Schule zu reformieren, die sich ihrer Verantwortung bewusst werden müsse, den jüdischen Charakter ihrer Schüler zu formen und sich nicht nur der Lehre von Sprachtechniken und Ritualen verschreiben dürfe. Dem Lehrer müsse ermöglicht werden, so zu unterrichten, wie es ihm sein Gewissen vorschreibe, die Schule müsse die Einheit Israels vorantreiben und kontroverse Themen vermeiden. Der Rabbiner solle als Lehrer für Religion und Ethik auftreten und nicht für rituelle Handlungen. Wie der Lehrer so müsse auch er seine Gedanken frei äußern können, wie ihn sein Gewissen leite.
Diese Gedanken waren vor einhundert Jahren, als Creizenach sie mit Weitblick verkündete, nicht nur modern, sondern aufregend. Doch trotz ihrer Modernität schienen diese Ideen für Creizenach selbst nichts Neues. Denn er sah sie als vom Talmud selbst autorisierte Ansätze an. Der Talmud war für ihn „der einzig sinnvolle Ausgangspunkt, von dem eine Entwicklung unserer rituellen Formen entstammen kann, denn er ist durch Alter geheiligt und gebietet Ehrfurcht“. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Talmud in allen seinen Entscheidungen bindenden Charakter hat. Es ist ein Buch, das über einen langen Zeitraum entstand und dessen Autoren Regeln aufsetzten – manche von ihnen restriktiv und andere das Gesetz abzuschwächen suchend. Es waren Regeln, die zu ihrer Zeit wichtig waren, manchmal nur für die jeweilige Generation; oft waren sich auch die Vertreter selbst nicht einig, von denen manche das Gesetz lockern wollten, während andere strikt dagegen waren.
Doch der Talmud wurde nie abgeschlossen. Noch immer haben wir das Recht, uns an seinen Auseinandersetzungen zu beteiligen und Entscheidungen in seinem Sinn zu treffen. Den älteren Generationen fehlte der Mut dazu, was dazu führte, dass die Religion zu verknöchern begann und durch eine tiefe Kluft von den Strömungen des Lebens abgetrennt wurde. Creizenach hielt die neue Generation dazu an, mutig zu sein und kühn in die Fußstapfen der talmudischen Vordenker zu treten, so dass selbst im Rahmen des Talmuds Reformen geschaffen würden. So könne das jüdische Leben wieder zu seiner Vitalität zurückfinden, die es noch hatte, als die führenden Denker Entscheidungen aus freien Stücken heraus trafen. Wie dies für einzelne Gesetze und Gepflogenheiten getan werden kann, zeigt Creizenach sehr detailliert in seinem magnum opus auf, das praktisch die gesamte Bandbreite jüdischer Gesetze und Gewohnheiten abdeckt. Es ist in der Tat eine Enzyklopädie.
Zusammen mit Jost veröffentlichte Creizenach eine Zeitschrift mit dem Titel Zion. Davor (1823–1824) gab er eine monatliche wissenschaftliche Zeitung unter dem Namen Geist der pharisäischen Lehre heraus. Anschließend erschienen einige seiner kühnsten Gedankengänge in den Kolumnen der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie. Im Jahre 1831 veröffentlichte er anonym die Zweiunddreißig Thesen über den Talmud. Daneben schrieb er einige Bücher zur Meditation an Bußtagen und für Konfirmationen. Kurz vor seinem Tod veröffentlichte er Yesod Mora (von Abraham ibn Ezra), indem er den von Heidenheim editierten Text benutzte.
Der Pädagoge Creizenach ging behutsam vor, immer bedacht auf die Menschen, die in seinen Augen eine Bildung benötigten, und die selbst langsame Fortschritte machten. Er wollte nie den Bezug zur breiten Masse verlieren. Auch aus diesem Grund versuchte er stets, seine eigenen Ansichten mit denen traditioneller Autoritäten zu untermauern – weshalb er wahrscheinlich von seinen großen revolutionären Freunden und Zeitgenossen in den Schatten gestellt wurde. Doch gerade aufgrund dieser Vorsicht war sein Einfluss unter den Menschen zu seiner Zeit womöglich weitreichender. Viele von Michael Creizenachs Ideen sind heutzutage anerkanntes Allgemeinwissen, was für einen Pädagogen der größtmögliche Lohn ist. Aus den Grundsteinen der Tradition errichtete er mit Sorgfalt und doch großem Mut ein neues Bauwerk, in dem Leben und das Gesetz der Tradition in Harmonie miteinander existieren können.

Leopold Zunz – Vorkämpfer der Wissenschaft des Judentums

Eine Einführung in sein Wollen und Wirken

Leopold Zunz gehörte zu den ersten Juden, die vertraten, dass das Judentum mit wissenschaftlichen Ansätzen untersucht werden müsse, um es zu verstehen, und um es angemessen weiter entwickeln zu können. Wie wichtig seine Gedanken waren, kann man unter anderem daran sehen, dass nicht nur Rosenzweig seine Idee eines „Lehrstuhls für Judentum“ aufgriff. Einige Anmerkungen zu diesem Text: Wie unschwer zu erkennen ist, benutzte Trepp den Begriff „Genie“ im philosophischen Sinn (jemand hat ein gegebenes Talent für etwas). Er hat den Aufsatz im Jahr 1972 für das deutsche Magazin „Emuna – Horizonte zur Diskussion über Israel und das Judentum“ geschrieben. Schon damals war zu erkennen, wie sehr es ihn schmerzte, dass es das deutsche Judentum nicht mehr gab. Darüber wird es später mehr zu sagen geben. Im Hinblick auf die heftige – auf nichtjüdischer Seite oft unsachlich und mit stark antijüdischen Untertönen – geführte Debatte um die Beschneidung in Deutschland im Jahr 2012 ist die von Trepp beschriebene Auseinandersetzung zwischen Geiger und Zunz interessant: Geiger sprach sich strikt gegen die Beschneidung aus, während Zunz den Standpunkt vertrat, den auch die heutigen Juden einnehmen: Die Beschneidung ist ein essentieller Teil des Judentums, ein jüdisches „Grundgesetz“, das auch im Interesse einer sonst wünschenswerten Modernisierung nicht verändert werden dürfe. Neben dem hier zu erkennenden Umstand, dass die Diskussion offensichtlich Jahrhunderte alt ist, gibt es einen wichtigeren Punkt: Sie wurde unter Juden geführt, mit unterschiedlichen Ansichten und Interessen auf beiden Seiten. Die Juden sind auch heute diejenigen, die eine Diskussion über die Beschneidung haben sollten, wenn sie es denn wünschen. „Aufklärung“ von Menschen, die oft nicht einmal wissen, worüber sie sprechen, brauchten sie zu Zunzens und Geigers Zeiten nicht, und sie ist auch heute verzichtbar.
Im Jahre 1819 gründete eine Gruppe junger idealistischer Juden den „Verein für Kultur und Wissenschaft des Judentums“. Es war ihre Hoffnung, durch ihn den Juden wie der christlichen Umwelt ein wissenschaftlich begründetes Bild des Judentums zu geben, frei von jeder theologischen Schattierung. Sie hofften, damit der Unwissenheit der Juden entgegentreten zu können, denn der Durchschnittsjude wusste wenig von seiner Tradition, und die Rabbiner waren wissensch...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. Einleitung
  7. ERSTER TEIL ZUM EINFLUSS JÜDISCHER PHILOSOPHEN
  8. ZWEITER TEIL ISRAEL – RELIGION, DAS LAND UND VOLK
  9. DRITTER TEIL JUDENTUM UND GESELLSCHAFT
  10. Glossar
  11. Bibliographie