A Theorie und Forschung
1 SexualitĂ€t bei Menschen mit Behinderung â immer noch ein Tabuthema?
Barbara Ortland
»Weiblichkeit? Was war das? Mich als Frau zu begreifen oder zu fĂŒhlen, hatte mir niemand beigebracht, und niemand hatte mich aufgeklĂ€rt. In meiner âșErziehungâč wurde dieser Bereich komplett ausgeblendet und mir wurde vermittelt, dass man als Behinderter ein BedĂŒrfnis nach NĂ€he einfach nicht zu haben hat. Noch heute wird Behinderten ihr Anrecht auf SexualitĂ€t abgesprochen â und oft gestehen wir es uns ja nicht einmal selbst ein, weil dieses Thema in unserer Kindheit und Jugend absolut tabu war und weder im Heim noch in der Schule je darĂŒber gesprochen wurde« (Soyhan, 2012, S. 103).
In diesem Zitat aus der Autobiografie der von Glasknochenkrankheit betroffenen Fernsehmoderatorin Zuhal Soyhan beschreibt sie in Bezug auf ihr Leben den Zusammenhang von Tabuierung der SexualitĂ€t und ihrer Behinderung. Dieses Themenfeld soll im nachfolgenden Beitrag aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden. Einleitend wird erlĂ€utert, was unter einem Tabu verstanden wird und welches Spannungsfeld sich daraus fĂŒr die Begleitung von Menschen mit Behinderung auf dem Weg zu einer subjektiv befriedigenden und selbstbestimmten SexualitĂ€t ergibt. Dazu werden relevante Entwicklungsschritte und Erfahrungen der sexuellen Entwicklung exemplarisch aufgezeigt und Konsequenzen fĂŒr eine sexualpĂ€dagogische Begleitung benannt. SchlieĂlich werden auf der Grundlage der Ergebnisse einer aktuellen Mitarbeitendenbefragung in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe (Ortland, 2013) aktuelle Themen in der Begleitung Erwachsener mit Behinderung diskutiert.
1.1 SexualitÀt von Menschen mit Behinderung als ein Tabu?
Das Wort Tabu hat laut Duden folgende bildungssprachliche Bedeutung: »ungeschriebenes Gesetz, das aufgrund bestimmter Anschauungen innerhalb einer Gesellschaft verbietet, ĂŒber bestimmte Dinge zu sprechen, bestimmte Dinge zu tun« (Duden online, 2014). Es handelt sich damit um kulturell-religiös geprĂ€gte Anschauungen, die nicht unbedingt von allen Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt werden mĂŒssen und grundsĂ€tzlich verĂ€nderbar sind. GrĂŒnder und Stemmer-LĂŒck (2013, S. 17) fĂŒhren dazu aus, dass zwischen einem »Handlungs- und einem Sprach- und Kommunikationstabu« unterschieden werden kann: »Das Handlungstabu hat die Funktion, soziales Handeln in einer Gesellschaft zu regulieren (âŠ). Das Sprachtabu scheint das Handlungstabu noch zu unterstĂŒtzen nach dem Motto: âșWas man nicht tut, darĂŒber spricht man auch nichtâč« (ebd., S. 18). Der Bereich der SexualitĂ€t wird von ihnen als Tabubereich bezeichnet, so dass dessen Tabuierung sexuelle Handlungen und die Kommunikation ĂŒber SexualitĂ€t gesellschaftlich regulieren soll. Lautmann (2008) erörtert in seinen AusfĂŒhrungen zu gesellschaftlichen Normen der SexualitĂ€t, dass der Begriff des Tabus fĂŒr eine »besonders scharfe Ablehnung (steht), die jegliche Diskussion unterdrĂŒckt [ein Diskursverbot wird vor allem dann verhĂ€ngt, wenn in der âșfalschenâč SexualitĂ€t schwere Gefahren gesehen werden]« (ebd., S. 210). Das heiĂt, dass es bei Tabuierungsprozessen immer um an einer gesellschaftlichen Norm gemessene Bewertung von Verhalten geht. In Bezug auf die normative Sexualregulierung fĂŒhrt Lautmann aus, dass zwischen NormalitĂ€t und NormativitĂ€t zu unterscheiden sei. »FĂŒr normal wird ein Ereignis gehalten, wenn es nicht weiter auffĂ€llt, d. h. fĂŒr die Situation und die daran Beteiligten als selbstverstĂ€ndlich durchgeht« (ebd., S. 209). Die Deutungsmacht haben also die beteiligten Personen oder z. B. der institutionelle Zusammenhang, in dem das Verhalten gezeigt/nicht gezeigt und als normal/nicht normal bewertet wird. Lautmann fĂŒhrt weiter aus: »Der normative Akzent fĂŒgt dem Handeln den Charakter des Erlaubten, Geforderten bzw. Verbotenen hinzu. Die Sexualnormen besitzen in unserer Kultur ein hohes Gewicht; sie sind umstritten, oft unklar und hĂ€ufig dramatischen Wandlungen unterworfen. FĂŒr die Akteure hĂ€ngt viel davon ab, wie gut sie die jeweils gĂŒltigen Normen kennen und sich ihnen anpassen« (ebd., S. 209/210).
In Bezug auf Menschen mit Behinderung scheint es im Bereich der SexualitĂ€t eine Verquickung sehr unterschiedlicher Aspekte zu geben, die ihnen den Weg zu einer als subjektiv befriedigend erlebten SexualitĂ€t erschweren können. Walter (2013) formuliert folgende GrĂŒnde als Hindernisse sexueller Selbstbestimmung: »Vorurteile, Ăngste und Unsicherheiten, Tabus und Verbote, aber auch sexualfeindliche Lebensbedingungen in Elternhaus, Schule, Werkstatt und WohnstĂ€tte, in Offener Hilfe und Freizeitangeboten (behindern) immer noch selbstbestimmte SexualitĂ€t (âŠ) quasi als âșsekundĂ€re soziale Behinderungâč« (ebd. 5 f). Mattke (2004, S. 47) nennt ergĂ€nzend Mythen, die sich vor allem auf das Sexualverhalten von Menschen mit geistiger Behinderung beziehen und eine »Spannbreite von asexuell bis triebbestimmt« aufzeigen, so dass »eine sachliche Diskussion mit der Thematik« erschwert ist.
Die Bewertungsprozesse bei allen beteiligten Menschen mit und ohne Behinderung setzen sich aus gesellschaftlichen, religiösen, kulturellen, institutionellen sowie individuell-biografischen Anteilen zusammen. Aufgrund dieser KomplexitĂ€t der EinschĂ€tzungen bzgl. der âșNormalitĂ€tâč von sexuellen Verhaltensweisen, normativen Akzentuierungen bis hin zu Tabuierungen, kann dieser Themenbereich hier nicht erschöpfend behandelt werden. Es sollen nachfolgend jedoch einige DenkanstöĂe bzgl. der Wertungen der SexualitĂ€t bei Menschen mit Behinderungen gegeben werden.
Alison Lapper, eine KĂŒnstlerin mit Körperbehinderung aus England, berichtet z. B. in ihrer Autobiografie Folgendes: »Manchmal fragen mich die Leute, wie ich Sex mache. Dann erklĂ€re ich ihnen, dass sie sich gefĂ€lligst um ihren eigenen Kram kĂŒmmern sollen, weil das nun wirklich meine Privatsache ist, auĂerdem empfinde ich diese Frage oft als leicht beleidigend« (Lapper, 2005, S. 229). Zwei Themen sollen aus dem Zitat herausgegriffen und um weitere Aspekte ergĂ€nzt werden. Zum einen scheinen TabubrĂŒche, hier das Fragen nach sexuellen Praktiken, gegenĂŒber Menschen mit visiblen Behinderungen âșerlaubtâč zu sein. Wenngleich dies aufgrund des Beispiels nicht verallgemeinerbar ist, so stĂŒtzt die Befragung von Fries (2005, S. 222 ff) diese Annahme der angenommenen âșZulĂ€ssigkeitâč der GrenzĂŒberschreitungen. Zum anderen ist mit der Frage nach sexuellen Praktiken eine deutliche Diskriminierung verbunden, die Frau Lapper als Beleidigung ihrer Person benennt. DiesbezĂŒglich zeigt die aktuelle reprĂ€sentative Studie zur Lebenssituation von Frauen mit Behinderung in Deutschland, dass das Erleben von Diskriminierungen den Alltag der Frauen bestimmt: »Die in der Studie befragten Frauen mit Behinderungen und BeeintrĂ€chtigungen haben fast durchgĂ€ngig (zu 81â99%) direkte diskriminierende Handlungen durch Personen und Institutionen im Zusammenhang mit ihrer Behinderung erlebt« (Schröttle et al. 2012, S. 34). In Bezug auf sexuelle Entwicklung können diese Abwertungsprozesse erschwerend auf die Ausbildung einer selbstbestimmten und subjektiv befriedigenden SexualitĂ€t wirken.
Sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen benötigt eine begleitende Sexualerziehung. Diese ist in Deutschland als gemeinsame Aufgabe von Elternhaus und Schule gesetzlich verankert (vgl. Ortland 2005). Die LehrkrĂ€fte brauchen dazu u. a. kommunikative Kompetenzen im Bereich der SexualitĂ€t und die persönliche FĂ€higkeit, das Sprach- und Kommunikationstabu in diesem (erlaubten) schulischen Rahmen zu brechen. Sie bewegen sich damit in einem Spannungsfeld von auf der einen Seite notwendiger, gesellschaftlich erwĂŒnschter und institutionell verankerter sexualerzieherischer Thematisierung tabuisierter Themen bei auf der anderen Seite erforderlichem Einhalten von Grenzen zur Wahrung der IntimsphĂ€re und Schamgrenzen aller Beteiligten. Auch das Erlernen von Scham und IntimitĂ€t und den damit verbundenen sozialen Regeln gehört zur Sexualerziehung. GrĂŒnder und Stemmer-LĂŒck (2013) beschreiben, dass es bei einem Tabubruch immer zu GefĂŒhlen von »Peinlichkeit, Scham und Schuld wie auch Abscheu und Ekel kommt« (ebd., 18). So sind die professionell Agierenden in sexualpĂ€dagogischen und -andragogischen ZusammenhĂ€ngen herausgefordert, durch entsprechende Reflexionsprozesse einen jeweils fĂŒr alle Beteiligten passenden Weg zu finden, bei dem diese individuellen GefĂŒhle wahrgenommen und respektiert werden und gleichzeitig angemessene und förderliche Begleitung realisiert werden kann. Weiterhin erfordert sexualpĂ€dagogisches Handeln mit Menschen mit Behinderung auch die BerĂŒcksichtigung behinderungsspezifischer Themen (z. B. Partnerfindung trotz Behinderung, die eigenen Möglichkeiten, Kinder zu bekommen und zu erziehen, Möglichkeiten unterstĂŒtzter SexualitĂ€t). Diese werden in einer Befragung von LehrkrĂ€ften an der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt körperliche/motorische Entwicklung (FkmE) durchweg als brisante Themen (âșheiĂe Eisenâč) bewertet (vgl. Ortland, 2005, S. 152). Es kann vermutet werden, dass dies den geforderten âșTabubruchâč im Anforderungsniveau noch potenziert.
Die tĂ€gliche Assistenz bei Menschen mit hohem UnterstĂŒtzungsbedarf ist mit Herausforderungen verbunden, die von den begleitenden Personen eine intensivere Reflexion und Auseinandersetzung mit dem Thema sexuelle Selbstbestimmung erfordert. So berichtet z. B. die junge, schwer körperbehinderte Ronja, die in der Studie von Schabert (2008) interviewt wurde, von ihrem Wunsch, im Genitalbereich rasiert zu werden: »Meinen Sie (âŠ), ich hab das einmal hingekriegt, das zu jemand zu sagen? Das ist ein Ding, das ist ein Ding der Unmöglichkeit (âŠ), weil ich schon so oft mitgekriegt hab, dass die sagen: âșNein, das mach ich nicht! Des ist ja schmutzig, richtig schmutzig.âč Und dann möchte ich Ihnen mal was sagen. Dann haben wir eine Sportlehrerin und die duscht mit uns, und nach dem Duschen nimmt sie sich die Rasierklinge und rasiert sich die Haare weg. Und bei uns ist das âșwĂ€ â das mach ich nicht, das tu ich nicht. Pfui Teufel, was verlangst du da von mir!âč« (ebd., 127). Ronja ist bei dem Wunsch zur Gestaltung ihres Körpers aufgrund der Schwere ihrer motorischen BeeintrĂ€chtigung auf die fremde Hilfe angewiesen. Sexuelle Selbstbestimmung ist ihr in diesem Bereich nur möglich, wenn Mitarbeitende ĂŒber ihre eigenen Schamgrenzen und subjektiv empfundenen EkelgefĂŒhle hinweggehen und fĂŒr sich diesen Tabubruch vollziehen.
Die Tabuierung von SexualitĂ€t hat bei allen Menschen ihre Berechtigung, wenn dies zum Schutz der IntimitĂ€ts- und Schamgrenzen und der sexuellen Selbstbestimmung aller Beteiligten realisiert wird. Die Tabuierung hat jedoch individuell negative Konsequenzen, wenn dadurch der individuelle Zugang zu der eigenen Entwicklungsressource der selbstbestimmten SexualitĂ€t verhindert wird. In der Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung sind TabubrĂŒche, im Sinne des Aufhebens von Kommunikationsverboten, in vertretbarem MaĂe angezeigt und nötig, um die fĂŒr sie relevanten Lernprozesse zu ermöglichen und erzieherisch zu begleiten. Sozial angemessene Kommunikation ĂŒber SexualitĂ€t sowie gesellschaftlich angemessenes sexuelles Verhalten sollen erlernt werden. Hier hat sich gezeigt, dass Mythen ĂŒber die (A-)SexualitĂ€t von Menschen mit Behinderung eine konstruktive und angemessene Begleitung erschweren oder sogar verhindern. Im Bereich der alltĂ€glichen Begleitung von Menschen mit hohem UnterstĂŒtzungsbedarf werden Mitarbeitende mit dem Wunsch nach TabubrĂŒchen konfrontiert. Pflegehandlungen erfordern Eingriffe in die IntimsphĂ€re des anderen und erschweren die Ausbildung von Scham und IntimitĂ€t (vgl. Ortland, 2007). Hier liegt die Herausforderung in dem Spannungsfeld von auf der einen Seite dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung und auf der anderen Seite dem Recht auf Schutz der eigenen IntimitĂ€t und der eigenen sexuellen Selbstbestimmung der Mitarbeitenden.
1.2 Sexuelle Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung
Der Abbau von Mythen und Vorurteilen bzgl. der SexualitĂ€t von Menschen mit Behinderung (Mattke 2004; Walter 2013) kann ĂŒber Wissensvermittlung im Bereich der sexuellen Entwicklung bei Menschen mit Behinderungen erreicht werden. Dies soll im Folgenden ĂŒberblickshaft geschehen. Grundlegende AusfĂŒhrungen zur sexuellen Entwicklung in Verbindung mit möglichen Besonderheiten bei Menschen mit Behinderung sind an anderen Stellen bereits ausfĂŒhrlich erfolgt (Ortlan...