Psychiater und Psychotherapeuten
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Psychiater und Psychotherapeuten

Berufsbilder in der medizinischen und psychologischen Heilkunde

  1. 280 Seiten
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Psychiater und Psychotherapeuten

Berufsbilder in der medizinischen und psychologischen Heilkunde

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Über dieses Buch

Die kontinuierliche Zunahme psychischer Störungen während der letzten Jahrzehnte geht mit einer wachsenden Inanspruchnahme der psychiatrisch-psychosozialen Professionen einher. Hand in Hand hiermit richtet sich das Interesse auf die in diesen Bereichen tätigen Personen, d. h. auf die beruflichen und persönlichen Besonderheiten der Fachleute für geistig-seelische Erkrankungen in Praxis, Ambulanz, Klinik oder Beratungsstelle. Das vorliegende Buch gibt Auskunft: Neben einer Darstellung der psychiatriehistorischen Entwicklung einschließlich Fortschritten und Irrwegen werden eingehend Ausbildung, Selbstverständnis, Relevanz und Ansehen sowie Aufgaben und Belastungen von Psychiatern, Psychotherapeuten und verwandten Berufsgruppen beschrieben.

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Information

Jahr
2011
ISBN
9783170275188

1 Vom Priesterarzt zum Physikus

Die heute in einem psychiatrischen, psychologischen oder psychosozialen Beruf arbeitenden Frauen und Männer können auf eine vieltausendjährige Ahnengalerie zurückblicken. Sie reicht von den frühzeitlichen Heiler innen und Heilern, den weisen Frauen und Zauberpriestern der magischen Heilkunde über die Seelenforscher und Irrenärzte auf dem Weg zur Wissenschaft bis zu den Therapeutinnen und Therapeuten der Gegenwart. Von den ersten Anfängen irgendwann in der Menschheitsgeschichte an blieben jedoch über alle Epochen die Ziele ihres Handelns unverändert: Unterstützung zu gewähren, Krankheiten zu heilen, Leiden zu lindern. Beistand und Hilfe bei Schmerz, Krankheit und Gebrechen sind – als Merkmale der Zivilisation jenseits des evolutionären Ausleseprinzips – unerlässliche Bedingungen zum Erhalt und Wohlergehen jeder Gemeinschaft. Die Krankenbehandlung wurde somit fundamentaler und integraler Solidaritätsbestandteil in allen Kommunitäten und Kulturen, geleitet vom Menschenbild, beeinflusst durch Weltanschauungen und justiert an den jeweils vorliegenden heilkundlichen Erkenntnissen.
Ein kurzer Rückblick auf die wechselvolle Geschichte der Psychiatrie und ihrer Nachbardisziplinen im Auf und Ab zwischen Weiterentwicklung und Rückschritten mag dazu beitragen, Arbeit und Aufgaben derjenigen nachzuvollziehen, die sich den seelischen Nöten und Leiden ihrer hilfesuchenden Mitmenschen widmen.
Das magisch-animistische, geschlossene Weltbild der frühzeitlichen Menschen wurde wahrscheinlich von dämonologischen Vorstellungen hinsichtlich Krankheit, Unglück und Naturkatastrophen geprägt, die als Bestrafung durch erzürnte Götter oder böse Geister für angebliche Verfehlungen, „Tabubrüche“, aufgefasst wurden. Hier hatte der ausersehene, quasi offiziell beauftragte Heiler die Rolle des vermittelnden, die übermächtigen Gottheiten um Versöhnung bittenden Mediators. Er war als Akteur sakraler Handlungen in Form von Beschwörungen, Gesängen, Tänzen, Berührungen und Opferungen suggestivtherapeutisch er „Seelsorger“ im ursprünglichsten Sinn. Durch die vorlaufende, bisweilen mittels Rauschdrogen intensivierte zeremonielle Einstimmung auf die therapeutische Prozedur sollten nicht nur die suggestible Empfänglichkeit des Kranken gesteigert, sondern auch dessen Selbstheilungspotentiale geweckt werden. Das Prinzip einer Mobilisierung der eigenen Kräfte zur Überwindung von Krankheiten durch suggestive Einwirkungen liegt als unentbehrlicher, machtvoller Placeboeffekt allen heilenden Maßnahmen zugrunde – der wissenschaftlich evaluierten Heilkunst ebenso wie den scheinbar unerklärlichen Wunderheilungen. Ob möglicherweise bereits in der Vorzeit Zusammenhänge zwischen psychischen Veränderungen und körperlichen Funktionen vermutet wurden, ist unklar. Die Hinweise auf Schädeltrepanationen während der Jungsteinzeit könnten in diese Richtung deuten, ebenso der Gebrauch psychotroper Substanzen in den frühen Hochkulturen. Der uralte Schamanismus lebt fort im Handauflegen des Medizinmannes bei den Naturvölkern und in der esoterischen „Alternativmedizin“ der heutigen Zeit, in der statt Schutzgeistern und freundlichen Göttern ominöse, physikalisch nicht nachweisbare Energieströme und Schwingungen als stärkende Kräfte beschworen werden.
Wie in der vorzeitlich-archaischen bestimmten in der mesopotamischen bzw. altpersischen und altägyptischen Heilkunde Religion, Mythologie und Astrologie den Umgang mit dem Kranken, auch bei psychischen Auffälligkeiten wie Verwirrtheit oder Halluzinationen. Im Zweistromland wurden Krankheiten auf Besessenheit oder sittliche Verfehlungen zurückgeführt und mit Hilfe eines speziellen „Seelenarztes“ durch rituelle Waschungen, Isolierung der „Unreinen“ und exorzistische Beschwörungen zu heilen versucht. Die Praktiken einer Verbannung böser Geister ziehen sich später wie ein roter Faden durch die christliche Tradition, angefangen von den Wunderheilungen Jesu mittels Teufelsaustreibung über die mittelalterliche Dämonologie und den Glauben an schützende Amulette bis hin zum modernen Exorzismus der katholischen Kirche gemäß den Vorschriften des Rituale Romanum. An psychotropen Substanzen scheinen den sumerischen Ärzten des 3. Jahrtausends v. Chr. außer Alkohol in erster Linie Opiate (aus Schlafmohn, den sie „Pflanze der Freude“ nannten) geläufig gewesen zu sein.
Spätestens im Alten Ägypten gab es neben Anrufungen der göttlichen Schutzpatrone Isis, Horus und Thot bereits empirisch-rationale Ansätze einer Krankheitslehre und chirurgische, chiropraktische, medikamentöse und diätetische Techniken. Im Papyrus Ebers aus dem 2. Jahrtausend v. Chr., in dem die damalige ägyptische Medizin abgehandelt wird, sind etwa 900 Rezepturen unterschiedlichster Zusammensetzungen aufgeführt; zur Beruhigung offensichtlich Verwirrter wurden von den ägyptischen Priesterärzten wahrscheinlich Extrakte von Schlafmohn, Alraune und indischem Hanf eingesetzt. Vermutlich auch ärztlich tätig war Imhotep, berühmter Verwalter und Baumeister zur Zeit des Königs Djoser während der 3. Dynastie des altägyptischen Reichs (um 2700 v. Chr.). Er wurde zum Heilgott erhoben; der ihm geweihte Tempel in Memphis war zugleich eine leibseelische Behandlungsstätte. In Theben, der Hauptstadt des Neuen Reiches, gab es unter Ramses II. (1290–1224 v. Chr.) im „Haus des Lebens“, einer „Heilstätte der Seele“, eine riesige Bibliothek, deren Schriften im Sinne einer Bibliotherapie – Gesundwerden durch Lektüre – genutzt wurden.
Die Hindu-Priester der bis ins 1. Jahrtausend v. Chr. zurückreichenden altindischen Veden behandelten mit Zaubersprüchen, Opfern und Exorzismus; die Philosophie und Praxis der Yoga-Meditation wurde von der Ayurveda-Medizin in ein differenziertes Kompilat aus Diätetik, Physiotherapie und Pflanzenheilkunde integriert. Aus der indischen Heilkunde stammen im Übrigen die Kenntnisse über die beruhigende und angstdämpfende Wirkung der „Schlangenwurzel“ („Rauwolfia serpentina“). In der westlichen Medizin wurde deren Hauptalkaloid Reserpin bis in die neuere Zeit nicht nur zur Blutdrucksenkung, sondern auch als sedierendes Psychopharmakon erfolgreich zur Behandlung von Psychosen verwendet (siehe Kapitel 3).
Die Ursprünge der altchinesischen Medizin wurzeln wahrscheinlich in einer Verbindung von religiösem Ahnenkult und volkstümlicheinfacher Empirie. Die sich daraus entwickelnde Heilkunde bediente sich nicht nur Orakeln, Bannsprüchen, Beschwörung en, Talismanen und Amuletten, sondern auch einer größeren Anzahl an Heilpflanzen. Zur konzeptionellen Grundlage der Heilkunst wurden vermutlich im ersten vorchristlichen Jahrtausend das polare Yin-Yang-Prinzip und die Lehre von den fünf Elementen Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Beeinflusst von konfuzianischer Lebensweisheit und religiöser Mystik des Daoismus wurden um das 5. Jahrhundert v. Chr. Diätetik und Drogenkunde mit magisch-philosophischen Unterweisungen verschmolzen. Besondere Bedeutung als Diagnose- und Therapiemethoden erlangten in der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) die Beobachtung des Pulses, die Akupunktur und die Moxibustion. Wie in den anderen genannten Kulturkreisen sollen im alten China ebenfalls Heilschlaf und Traumdeutung bekannt gewesen sein.
Auch die antike griechische Medizin war in ihren Anfängen von sakralen Mythen geleitet; die Tempelmediziner beriefen sich auf den Heilgott Asklepios, dessen Mysterienkult ab dem 7. Jh. v. Chr. in den Heilstätten von Epidauros, Knidos, Kos und Pergamon bis Rhodos mit systematischen, schulmäßigen Behandlungen verknüpft wurde. Nach ausführlicher Anamnese verordneten die Priesterärzte – ganzheitlich-naturphilosophisch orientiert – außer Gebeten und Opfergaben auch Diät, Medikamente und Bäder. Eine besondere Rolle spielten der aus Ägypten übernommene Tempelschlaf im „Heiligen Hain“ und die sich anschließende Traumdeutung, d. h. Entschlüsselung der Traumsymbolik, die mit psychohygienischen Ratschlägen verbunden wurde.
Die Heilkunst der Asklepiaden wurde von der hippokratischen Medizinschule auf Kos in Richtung einer rationalen Medizin revolutionär weiterentwickelt. Hippokrates führte Krankheiten wie z. B. epileptische Anfälle, die „Heilige Krankheit“, nicht mehr auf göttliche Einwirkungen, sondern auf natürliche Ursachen zurück. Er hielt das Gehirn für das Zentrum geistig-seelischer Tätigkeit und betrachtete Verwirrtheit und andere Geistesstörungen wie auch Ängste und Schwermut als Zeichen einer Hirnkrankheit. Hippokrates (vermutlich 460–377 v. Chr.), geboren auf der Insel Kos, unternahm nach Unterweisung durch seinen Vater ausgedehnte Studienreisen durch Griechenland und Kleinasien. Nach seiner Rückkehr praktizierte er als Arzt und begründete die koische Medizinschule. Seinen Lebensabend verbrachte er in Larissa/Thessalien. Die über 60, teilweise ihm zugeschriebenen, Abhandlungen des Corpus Hippocraticum aus dem 5. bis 4. Jh. v. Chr. stellen eine Sammlung heilkundlicher Traktate über verschiedene Krankheiten und Körpergebrechen dar; sie enthalten auch Verhaltensregeln und Übungen gegen psychische Beeinträchtigungen. Im ersten Buch („Epidemien“) werden verschiedene Arten von Delirien, Epilepsien und Wahnvorstellungen als Folge von Hirnschädigungen beschrieben, ferner Symptome der Betrunkenheit und – recht differenziert – das Krankheitsbild einer Depression.
Gemäß ihrem humoralpathologisch en Konzept, demzufolge als Ursache aller Krankheiten ein Ungleichgewicht zwischen den Körperflüssigkeiten Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle angenommen wurde („Viersäftelehre“), war das therapeutische Ziel der Hippokratiker eine Wiederherstellung der Homöostase, d. h. einer harmonischen Ausgewogenheit der Säfte im Organismus. In der hippokratischen Medizin finden sich daher vielfältige diätetische und Reinigungsvorschriften, ergänzt durch ein beträchtliches Arzneimittelrepertoire. Gegen Melancholie bzw. Wahnsinn wurden Alraune und Nieswurz (Christrose) empfohlen, gegen Erregtheit Schlafmohn und Mandragorawurzel. Der Umgang mit psychisch Kranken sollte beruhigend und besänftigend sein, unterstützt durch Schaukeln in Schwebebetten, Ablenkung und Zerstreuung. Wichtig war eine ausgeglichene Lebensweise. Im Hippokratischen Eid, einem Manifest des „Primum nil nocere“ (Vorrangig nicht Schaden zufügen!) – Kennzeichen ärztlicher Ethik schlechthin – wurden sowohl die Pflicht zur Sorgfalt wie zur Verschwiegenheit ausdrücklich festgeschrieben.
Die griechisch-römischen Ärzte der Zeitenwende standen weitgehend in hippokratischer Tradition. Asklepiades von Bithynien (124–60 v. Chr.), Leibarzt von Cicero und Crassus, behandelte Geistesgestörte vorwiegend diätetisch, darüber hinaus mit Wasserkuren, Bewegung, Gymnastik und Massagen. Er empfahl zudem zu ihrer eigenen Sicherheit die Beaufsichtigung und schonende (!) Fesselung der „Dementis“ in Fällen von Wahn oder Suizidalität. Der berühmte römische Gelehrte (und fragliche Arzt) Aulus C. Celsus (um 25 v. Chr. bis 50 n. Chr.) führte in seinem achtbändigen medizinischen Sammelwerk „De medicina libri octo“ u. a. auch verschiedene psychische Leiden wie Melancholie, Manie, Wahnkrankheit und Halluzinationen samt Behandlungsvorschlägen auf. Gegen „gänzliche Verrücktheit“ befürwortete er Auspeitschen, Fesselungen, Folter und Untertauchen, überhaupt die Erzeugung von Schmerz, Angst und Schrecken; bei Wahnvorstellungen riet er zu einer Art dialektischer Gesprächstherapie. Demgegenüber lehnte Soranus von Ephesus (98–138), Leibarzt Marc Aurels, jegliche Gewalt ab; er verbot, die Kranken anzubinden, zu schlagen und zu beschimpfen. Stattdessen verordnete er Aderlässe und Abführmittel, darüber hinaus Bäder, Massagen, Diät und Aufenthalte in angenehmer Umgebung. Vermutlich war bereits in der Spätantike die dämpfende Wirkung kleinerer Dosen von Hyoscin (Skopolamin) bzw. Hyoscyamin (Atropin) aus den alkaloidhaltigen Nachtschattengewächsen Alraune, Stechapfel, Bilsenkraut und Tollkirsche bekannt.
Aelius Galenos von Pergamon (129–199 n. Chr.) baute die Humoralpathologie weiter aus. Nach seiner medizinischen Ausbildung in Alexandria, dem größten Wissenschaftszentrum der damals bekannten Welt, war er Gladiatorenarzt in Pergamon, wo er genauere Kenntnisse über Kopfverletzungen und deren Folgen sammelte; er sezierte auch Tiere. In der berühmten Alexandrinischen Schule hatten die griechischen Ärzte Herophilos von Chalkedos und Erasistratos von Keos bereits im 3. Jh. v. Chr. hirnanatomische Studien durchgeführt.
Galen führte Wahnsinn und Tobsucht auf Veränderungen des Seelenpneumas („spiritus animalis“) in den Hirnkammern zurück, Halluzinationen auf Überhitzungen des Gehirns durch giftige Bauchdämpfe, Melancholie durch einen Überschuss an schwarzer Galle; auf ihn geht die Bezeichnung „hypochondrische Melancholie“ zurück. Seine Abhandlung über die Leidenschaften und das Leben der Seele beinhaltet auch psychotherapeutische Anweisungen.
Wissen und Erfahrungen der blühenden antiken Heilkunde gingen im Mittelalter allmählich verloren. Die Krankheitskunde verkümmerte zu Überbleibseln rational-ärztlichen Wissens auf der Grundlage von Humoralpathologie und Klosterheilkunde, jedoch dominiert von Theologie, Astrologie und Alchemie. Dessen ungeachtet galt die Krankenpflege als besondere Christenpflicht; der Benediktinerorden nahm sie sogar in seine Regeln auf. Im Jahr 817 wurde auf der Synode in Aachen die Krankenpflege ausdrücklich den Nonnen und Mönchen übertragen. Neben der klösterlichen Kräutermedizin, Fasten, Beichten, Arbeit und Kasteiungen waren vor dem Hintergrund der christlichen Lehre immerwährender Sündhaftigkeit als heilende Mittel Fürbitten, geistlicher Beistand, Segnungen, Exorzismus und Wallfahrten gebräuchlich; gegen „böse Gedanken“, „Mondsucht“, Phrenitis oder Trunkenheit wurden auch Schmucksteine bzw. Amulette getragen. Als Verfasserin vieler naturheilkundlicher Bücher wurde die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098–1179) bekannt, Vorsteherin des Benediktinerinnenklosters Rupertsberg am Rhein. In ihren beiden Hauptwerken der Arzneikunst „Physica“ und „Causae et curae“ empfahl sie gegen Melancholie und Fallsucht Essenzen von Lavendel, Wacholder, Oleander, Alraune und Nieswurz. Sie beschrieb auch psychosomatische Leiden; gewissermaßen im Vorgriff auf die spätere Libidotheorie Freuds sah sie Zusammenhänge zwischen Affekten und sexuellen Impulsen.
Das Dorf Gheel bei Antwerpen wurde im 13. Jahrhundert aufgrund der dort verehrten Gebeine der Hl. Dymphna, der Legende nach eine irische Märtyrergestalt, zu einem bekannten Pilger- und Aufenthaltsort für Epileptiker und Geisteskranke, die dort auch wohnen und arbeiten konnten; Dymphna wurde zu deren Schutzpatronin. Aus den bäuerlichen „Irrenkolonien“ entwickelte sich die psychiatrische Familienpflege.
Im Mittelalter wurden in Frankreich und Deutschland sog. Domspitäler eingerichtet, in denen neben Armen und anderweitig Hilfsbedürftigen auch Geisteskranke aufgenommen wurden. Ab 1390 nahmen sich die Orden der Cellitinnen und Alexianer, die Pestkranke versorgten, nebenher auch der Versorgung und Pflege Geistesgestörter an; vermutlich wurden solche auch im 1396 gegründeten Aachener Kloster beherbergt. Nach dem Rückzug der Pest aus Europa widmete sich der Alexianerorden ganz den Geistesschwachen und -kranken und unterhält bis heute psychiatrische Krankenhäuser in Amelsbüren bei Münster, Neuss bei Düsseldorf, Porz bei Köln, Krefeld, Aachen und Berlin.
Mit der Synode von Clermont-Ferrand und dem II. Laterankonzil wurde 1130 bzw. 1139 das Ende der monastisch-klerikalen Medizin eingeläutet: Mönchsärzten und Ordensgeistlichen war nunmehr die Ausübung der Heilkunst verboten, nach dem Konzil von Tours 1163 auch die Ausbildung. Andererseits wurde den Geistesstörungen in den berühmten weltlichen Medizinerschulen des 11. und 12. Jahrhunderts in Salerno, Toledo und Montpellier keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet; seit jeher standen die Organerkrankungen als Inbegriff von Krankheit und Siechtum im Mittelpunkt medizinischer Theorien und ärztlicher Praxis. Eine Art eklektischer Volksmedizin mit esoterischem Einschlag wurde von weisen Frauen und Hebammen betrieben, später häufig der Hexerei verdächtigt.
Grundsätzlich oblag die öffentliche Irrenfürsorge den freien Reichsstädten, in deren Bürgerhospitälern neben Armen und Alten auch sog. ruhige Geistesgestörte, „harmlose Narren“, aufgenommen wurden. Unruhige und aggressive Kranke („Tolle“) wurden demgegenüber in den „Tollstuben“ der Stadttürme oder in gefängnisähnlichen Verliesen verwahrt, oder in eigens konstruierte Holzkäfige und -kästen, Kojen und Koben gesperrt – „Toll“- oder „Thorenkästen“ bzw. „Doren“- oder „Rockenkisten“. Ab dem 15. Jahrhundert wurden zur Trennung von den übrigen Kranken in den Hospitälern eigene Irrenabteilungen oder sogar separate Häuser geschaffen wie z. B. das „Manicomio“ 1409 in Valencia und das „Dolhuis“ 1461 in Utrecht, in Deutschland 1527 das Frankfurter Tollhaus.
Entsprechend den damaligen Vorstellungen über Entstehung und Verlauf der Geisteskrankheiten war der Umgang mit den Irren von Hilflosigkeit, Mitleid, Ablehnung und Abscheu gekennzeichnet. Die Tollhäuser wurden zu Orten des Schreckens und der Brutalität. Berüchtigt war der 1377 im 1274 gegründeten Londoner Klosterhospital „St. Mary of Bethlem“ („Bedlam“) eingerichtete Bereich für Geistesgestörte, die dort angekettet ihr Dasein fristeten. Nach dem Abklingen der Pestepidemien im 17. Jahrhundert wurden die Siechen- und Pesthäuser vermehrt mit psychisch Kranken belegt, so die „Pesthöfe“ in Hamburg und Berlin. In manchen Städten waren den Bürgern gegen Entgelt Rundgänge durch die Narrenhäuser mit Besichtigung der Insassen erlaubt. Bisweilen zogen die Irren wie Aussätzige – mit Narrenkappe, Schellen oder einem Band gekennzeichnet – bettelnd und vagabundierend umher. Nicht wenige wurden später in die Neue Welt deportiert; einzelne avancierten zu Hofnarren. Bisweilen praktizierten umherziehende Scharlatane gegen ein Honorar, das durch die Gemeinde entrichtet wurde, vor Ort als „Wunderheiler“ oder „Narrenärzte“.
Im Jahr 1527 wurden auf Beschluss des Landgrafen Philip des Großmütigen von Hessen die dortigen Klöster zu Stiftungen und Hospitäler umgewidmet („Hohe Hospitäler“). 1553 entstanden so die Landeshospitäler im ehemaligen Zisterzienserkloster Haina bei Marburg für Männer und im früheren Augustinerinnenstift Merxhausen in der Nähe von Kassel für Frauen. Beherbergt wurden hier Blinde, Taube, Aussätzige, Krüppel und Waisen, aber auch Epileptiker und psychisch Kranke („Wahnwitzige, melancholische, mondsüchtige, sinnverrückte und besessene arme Leute“). Ein ausgebildeter Arzt wurde erst im Jahr 1821 eingestellt; zuvor war ein Bader bzw. Chirurgikus zuständig. Tobsüchtige erhielten zur Beruhigung seelsorgerischen Zuspruch. Im katholischen Würzburg gründete Julius Echter von Mespelbrunn 1579 das nach ihm benannte Juliusspital, in dem zehn Jahre später auch seelisch Kranke, überwiegend „Melancholiker“, betreut wurden. Gemäß humoralpathologischen Vorstellungen wurden sie u. a. der „Holzkur“ unterzogen, d. h. einer Behandlung mit Auszügen und Dämpfen aus dem Guajakbaum, die auch gegen Syphilis eingesetzt wurden.
In der Folgezeit verschlechterte sich die Situation psychisch Kranker weiterhin und erreichte zur Zeit des Absolutismus einen bis heute unvorstellbaren Tiefstand. Sie wurden in kombinierten Armen-, Zucht-, Arbeits- und Korrektionshäusern untergebracht, soweit sie nicht im Familienverbund lebten. Wer im 18. Jahrhundert nicht das Glück hatte, als friedlicher „Narr“ in häuslicher Pflege oder einem Kloster zu verbleiben, vegetierte zusammen mit Landstreichern, Dieben, Prostituierten, Geschlechtskranken und Aussätzigen meist für immer in einem der Großgefängnisse, wo Schikanen einschließlich Prügel an der Tagesordnung waren. Die Kranken verwahrlosten, oftmals gefesselt, unter höchst mangelhaften hygienischen und Ernährungsbedingungen. Sie waren praktisch ohne ärztliche Aufsicht, geschweige denn Behandlung, da sich die Ärzte für die Irren und Unheilbaren nicht zuständig fühlten.
Anders als in der christlich-europäischen Kultur waren im frühen islamischen Herrschaftsbereich die Geistesgestörten den körperlich Kranken weitgehend gleichgestellt. Persische Überlieferung, jüdische Tradition, mohammedanische Religion und griechisch-römischbyzantinisches Wissen wurden zu Fundamenten einer Heilkultur, die ebenso vernunftgeleitet wie humanitär geprägt war. Die Gewährung von Hilfe und Beistand gegenüber Kranken galt als eine gute Tat, die zur eigenen Erlösung beitrug. Geisteskrankheiten blieben nicht nur frei von stigmatisierender Bewertung, sondern wurden sogar als Zeichen von Auserwähltheit angesehen. Bereits um 981 wurde im Allgemeinkrankenhaus (Bimaristan) von Bagdad, das Harun ar-Raschid um 800 hatte erbauen lassen, eine Einheit für Gemüts- und Nervenkrankheiten eingerichtet, der weitere in anderen arabischpersischen Städten wie Medina, Isfahan, Hamadan und Buchara folgten. Spezielle Psychiatrische Behandlungs- und Pflegeabteilungen in Moschee-Hospitälern gab es offenbar seit 1151 in Damaskus, 1158 in Aleppo, 1182 in Kairo und 1228 in Tephrike.
1284 wurde in Kairo das Al-Mansuri-Spital als größtes Krankenhaus des Mittelalters in Betrieb genommen, in dem ebenfalls Geisteskranke behandelt wurden. Auf europäischem Boden entfaltete sich unter der maurischen Herrschaft in Spanien, insbesondere im Kalifat Córdoba bzw. Emirat...

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort
  2. 1 Vom Priesterarzt zum Physikus
  3. 2 Seelsorger oder Hirnforscher?
  4. 3 Pioniere, Wissenschaftler, Reformer
  5. 4 Persönlichkeit und Menschenbild
  6. 5 Ideologie statt Therapie
  7. 6 Protagonisten der Euthanasie
  8. 7 Soll und Haben: Bestandsaufnahme
  9. 8 Fachliche Qualifikation
  10. 9 Profilierung der Psychotherapie
  11. 10 Therapeutisches Team
  12. 11 Beruflicher Alltag
  13. 12 Bild in der Öffentlichkeit
  14. 13 Therapie für Therapeuten?
  15. Literatur
  16. Personenverzeichnis
  17. Stichwortverzeichnis