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Wenn das Unvorstellbare passiert – Suizid eines Schülers
Trotz aller Maßnahmen zur Suizidprävention und trotz aller Bemühungen der Lehrkräfte, aufmerksam auf gefährdete Schülerinnen und Schüler zu sein, kann es dennoch passieren, dass ein Schüler oder eine Schülerin sich das Leben nimmt (Bründel 2012). Es gibt leider keine Garantie und keine absolute Sicherheit, Suizide zu verhindern. Aber es gibt die Möglichkeit, auf Suizide professionell zu reagieren, um zumindest mit einer guten Postvention die Wahrscheinlichkeit nachfolgender Suizide zu verringern.
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Eine Schule im Schock
Die Nachricht
Es ist Montagmorgen, 7:30 Uhr. In der Schule klingelt frühmorgens das Telefon. Die Sekretärin der Gesamtschule in einer nördlichen Kleinstadt nimmt den Hörer ab. Am Telefon ist die Mutter eines Schülers, die den Schulleiter wenn möglich sofort sprechen möchte. Die Sekretärin spürt an der Stimme der Mutter, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Sie stellt das Telefonat zum Schulleiter, Herrn S., durch. Die Mutter berichtet aufgelöst und weinend, dass sie ihren Sohn, Sebastian N., 16 Jahre alt, gestern Nachmittag tot in seinem Zimmer aufgefunden habe. Er habe sich erhängt.
Diese Nachricht schockiert den Schulleiter und trifft ihn völlig unvorbereitet. Ihm fehlen zunächst die Worte. Dann drückt er der Mutter sein tiefes Mitgefühl aus und fragt nach, wer von der Familie im Hause sei und sie unterstützen könne. Er vernimmt, dass der Ehemann auf Reisen sei, sie ihn jedoch schon habe sprechen können und dass er heute noch zurückkäme. Im Moment sei ihre Schwägerin bei ihr. Der Schulleiter fragt nach Geschwisterkindern, nach ihrem Alter und welche Schule sie besuchen. Er weist auf den möglichen Beistand eines Notfallseelsorgers hin und bietet die Unterstützung durch die Schulpsychologin der Schule an sowie Hilfe bei der Erledigung formaler Handlungsnotwendigkeiten. Der Schulleiter bedankt sich bei der Mutter, dass sie ihn sofort benachrichtigt hat, und versichert, alles zu tun, um ihr in ihrem Schmerz beizustehen und ihr und ihrer Familie zu helfen, die schwierige Situation zu bewältigen. Er fragt, ob es ihr recht sei, wenn er sie morgen Vormittag noch einmal anrufen würde.
Damit ist das Telefonat zunächst beendet. Der Schulleiter hat nicht nach Einzelheiten, nach Vermutungen bzw. Erklärungen der Mutter gefragt und nicht die Frage nach dem ›Warum‹ gestellt. Das wäre auch nicht angemessen gewesen und hätte die Mutter nur noch mehr belastet. Er hat die Nachricht einfühlsam entgegengenommen, auf weitere Nachfragen verzichtet und der Mutter signalisiert, dass er den Kontakt zu ihr und ihrer Familie wahren möchte.
In der Regel stehen Schulen dem Suizid eines Schülers hilflos gegenüber. Häufig haben sie auch keine größere Praxiserfahrung mit dem nun notwendigen Krisenmanagement. Viele Lehrkräfte scheuen sich, sich mit dieser Problematik im Vorfeld zu beschäftigen, nur allzu gern sparen sie die Themen Tod und Sterben aus. Neben aller Tragik, Anteilnahme und Trauer sehen viele Schulleitungen den Suizid eines Schülers oder einer Schülerin als ›imageschädigend‹ für ihre Schule an. Außerdem befürchten sie die nachahmende Wirkung, die ein Suizid unter Schülern auf andere Schüler der Schule ausüben kann. Der Suizid eines Schülers hat große Auswirkungen auf die gesamte Schule, und es steht in der Tat zu befürchten, dass andere – psychisch vorbelastete – Mitschülerinnen oder -schüler bei ausbleibender Trauerbegleitung und ungenügender Aufarbeitung des Geschehens sich ermutigt fühlen, auch Suizid zu begehen (Kreis, Marti & Schreyer 2002).
Manche Schulleiter möchten ein solches Geschehen am liebsten mit Stillschweigen übergehen, doch sie wissen, dass dies unprofessionell und kaltherzig wäre. Trauerarbeit und eine strukturierte Bearbeitung und Bewältigung des Geschehens helfen allen Beteiligten, mit Schuldgefühlen und Selbstanklagen fertigzuwerden; Gefühle, die bei einem Suizid fast immer auftauchen. Darüber hinaus stellt jeder Suizid, so traurig er auch ist, eine Chance dar, über das Thema zu sprechen, das Geschehen konstruktiv zu bearbeiten und vor allem auf bestehende Hilfsmöglichkeiten hinzuweisen.
Beginn des Krisenmanagements
Der Schulleiter, Herr S., setzt das schulische Krisenmanagement in Gang (Bründel 2012). Das besteht darin, das Krisenteam einzuberufen, Lehrer und Schüler über das Geschehen angemessen und einfühlsam zu informieren sowie eine schulische Trauerarbeit zu gewährleisten, die den Bedürfnissen aller Betroffenen gerecht wird (Koll, Rudolph & Thimme 2005). Bevor das jedoch geschieht, schießen ihm eine Unmenge an Fragen durch den Kopf, die es gilt, zu ordnen und zu strukturieren, wie z. B.:
Wer informiert die Mitschüler des Verstorbenen?
Wie und wann soll das geschehen?
Wer hält den Kontakt zu den Eltern des Verstorbenen?
Müssen die Eltern aller Schüler benachrichtigt werden?
Haben wir weitere suizidgefährdete Schülerinnen oder Schüler an unserer Schule?
Wann ist die Beerdigung, wer nimmt daran teil?
Wer beantwortet Presseanfragen?
Wer hilft und unterstützt uns?
Schulleitungen sollten sich, wenn sie sich hilflos fühlen, möglichst sofort Unterstützung beim schulpsychologischen Dienst ihrer Kommune, bei Schulseelsorgern oder Kräften holen, die mit dieser Thematik vertraut sind.
Kontakt zu den Eltern des Verstorbenen halten
Von großer Bedeutung ist es, den Kontakt zu den Eltern des Verstorbenen zu halten und nach deren Bedürfnissen und Wünschen zu fragen. Die ersten Schritte, die in der Schule getan werden, sollten von Mitgefühl mit Eltern und eventuellen Geschwisterkindern, von Respekt gegenüber der Familie und von Verständnis für ihre psychische Situation geprägt sein. Es ...