Soziale Psychiatrie
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Soziale Psychiatrie

Das Handbuch für die psychosoziale Praxis - Band 2

  1. 524 Seiten
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Das Handbuch für die psychosoziale Praxis - Band 2

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Über dieses Buch

Die soziale Psychiatrie hat sich zu einer breiten Disziplin entwickelt. Aufgrund der Komplexität des Gebietes ist sie, sowohl im klinischen als auch im wissenschaftlichen Bereich, zwangsläufig multidisziplinär. Dieses Handbuch versucht, den aktuellen Kenntnisstand in den vielen Forschungs- und Tätigkeitsfeldern abzudecken. Band 2 umfasst 43 Kapitel zu praktischen Ansätzen von der Prävention psychischer Erkrankungen über Versorgungsformen bis hin zu Therapieansätzen. Band 1 behandelt in 33 Kapiteln die Grundlagen der sozialen Psychiatrie unter Einbezug historischer, begrifflicher, sozialwissenschaftlicher und neurobiologischer sowie ethischer und rechtlicher Aspekte. In vier Kapiteln kommen auch von psychischer Erkrankung selbst betroffene Menschen zu Wort. Abschnitte zum Leistungsrecht sowie zu allgemeinen Themen runden das Handbuch ab.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783170274983

Teil 1: Präventive Ansätze

1 Suizidprävention

Vladeta Ajdacic-Gross
Kapitelübersicht
1.1 Einleitung
1.2 Historischer Rückblick
1.3 Über Definitionen hinaus
1.4 Risikofaktoren, Risikogruppen
1.5 Risikomechanismen
1.6 Prozessmodelle und Typologien des Suizids und Implikationen für die Prävention
1.7 Präventionsmaßnahmen und -strategien
1.7.1 Präventionsmaßnahmen auf individueller Ebene
1.7.2 Präventionsstrategie auf Organisationsebene: US Air Force
1.7.3 Präventionsstrategien auf sozietaler Ebene: Beispiel Nürnberger Bündnis
1.7.4 Präventionsstrategien auf sozietaler Ebene: Beispiel Präventionskonzept Zürich
1.8 Anhang: einige Fakten zum Suizid
Zusammenfassung
Die Suizidprävention hat nach wechselvollem Schwanken zwischen Zuversicht und Zweifel in den letzten beiden Jahrzehnten einen Durchbruch erlebt, der v. a. mit zwei Studien – der Gotland-Studie und dem Nürnberger Bündnis gegen Depression – in Zusammenhang steht. Mit dem Aufschwung wurde zugleich die Komplexität der Herausforderungen sichtbar: Die Suizidprävention muss sich an unterschiedlichen Suizidtypen, Mechanismen, Risikogruppen etc. messen, um ähnlich erfolgreich zu werden, wie dies etwa die Prävention der Mortalität bei Unfällen/Verkehrsunfällen ist.

1.1 Einleitung

Suizid ist keine psychische Störung. Wie andere pathologische Verhaltensweisen (Suchtmittelkonsum, Selbstverstümmelung, extreme Formen des Risikoverhaltens, deviantes Essverhalten etc.) ist der Suizid über Verhaltensmotive, Verhaltensmuster, die benutzten Methoden etc. für die Prävention zugänglich – dies zusätzlich zur Behandlung von möglicherweise zugrundeliegenden psychischen Krankheiten bzw. zur Betreuung in Krisensituationen.
Der vorliegende Beitrag bietet zunächst eine eilige Übersicht über die Geschichte der Suizidprävention, um in der Folge einzelne Problemfelder und deren Implikationen für die Suizidprävention anzugehen: Risikofaktoren, Risikomechanismen, Prozessmodelle und Suizidtypen. Schließlich werden Präventionsmaßnahmen auf individueller und auf systemischer Ebene diskutiert.

1.2 Historischer Rückblick

Über viele Jahrhunderte des Mittelalters und der Neuzeit beschränkte sich die Prävention des Suizids aufs Richten und Henken – kirchlich verfügte und weltlich umgesetzte Sanktionen, die gegenüber Überlebenden nach Suizidversuch wie auch auf die Leichen angewendet wurden. Die Sanktionen umfassten auch nachgelagerte Rituale (z. B. rund um die Beseitigung der Leiche) wie auch juristische Konsequenzen (z. B. die Enteignung des Erbes der Hinterbliebenen). In der Neuzeit, wohl zunächst in protestantischen Regionen, setzt ein allmählicher Wandel der Einstellungen ein, den Markus Schär (Schär 1985) in einer blendenden Arbeit zum Suizid im Alten Zürich (1500–1800) nachgezeichnet hat. In gleichem Maße wie die Mordzahlen sinken, steigen die Suizidzahlen und bereiten der kirchlichen Obrigkeit zunehmende Sorgen. Nach und nach wird die Sanktionswut des Mittelalters abgelöst durch Erklärungsversuche wie Melancholie. Dem Seelenheil des Suizidenten wird damit eine Hintertüre offen gelassen, die Reue wird als milderndes Argument eingeschlossen. Die Pfarrer werden angehalten, den heimgesuchten Seelen durch Beistand und Gebet zu helfen.
Die Zunahme der Suizidzahlen wird – wie auch das Ringen um Sanktionen und Alternativen – bis zum 20. Jahrhunderts weitergehen. Die Entwicklung wird im 19. Jahrhundert Statistiker, Psychiater und schließlich auch Soziologen auf den Plan rufen.1 Suizid wird spätestens seit Durkheim als Krisensymbol der Industrialisierung und des gesellschaftlichen Umbruchs betrachtet.
In seiner 1933 erschienen Monographie »To Be or Not To Be« zählt Louis Dublin die damals bekannten Vereinigungen auf, die sich der Suizidprävention widmeten. Darunter ist auch ein Zürcher Verein »Komitee zur Bekämpfung des Selbstmordes«,2 das in den 1920ern mit folgender Annonce auf sich aufmerksam machte: »Selbstmord – rächt sich furchtbar! Verzweifelnde, gequälte Seelen erhalten Rat und womöglich Hilfe. Man schreibe vertrauensvoll …« Das Komitee wurde von Anfragen mittelloser Menschen überhäuft und musste seine Aktivitäten einstellen.
Ein erster Meilenstein der Suizidprävention, wie wir sie heute kennen, war das 1948 durch Erwin Ringel in Wien gegründete Zentrum zur Suizidprävention. Ein zweiter Meilenstein entstand mit der Gründung der Samaritans und dem Beginn der Telefonseelsorge 1953. Als Krisentelefon, »Dargebotene Hand« etc. ( Kap. 9 und 14, Bd. 2) hat die Telefonseelsorge ein große Verbreitung gefunden und ist heute aus der Palette niederschwelliger Hilfsangebote in Krisensituationen nicht mehr wegzudenken.
Zu einem weiteren Meilenstein entwickelte sich die Entgiftung des Haushaltgases, die in England ab Ende der 1950er Jahre und in anderen Ländern ab den 1960ern erfolgte. Mit dem CO-haltigen Haushaltgas verschwand in England die damals häufigste Suizidmethode; darüber hinaus sank beinahe in selbem Maß auch die Gesamtsuizidrate (Gunnell et al. 2000, Thomas und Gunnell 2010). Die methodenorientierte Suizidprävention deckte in der Folge ein brachliegendes Präventionspotenzial auf:
  • Reduktion der Schusswaffenverfügbarkeit in privaten Haushalten und eine Reihe weiterer Sicherheitsmaßnahmen bei beruflichen oder militärischen Schusswaffenbesitzern
  • Reduktion der Verpackungsgrößen und Änderung der Verschreibungsregeln bei Medikamenten
  • Sicherung von Hot Spots, z. B. Brücken, Plattformen, Eisenbahnstrecken, wo sich gehäuft Suizide ereignen
In eine andere Stoßrichtung ging die so genannte Gotland-Studie Ende der 1980er Jahre (Rutz et al. 1989, Rutz 2001). Sie erfasste alle Hausärzte auf der schwedischen Insel Gotland und involvierte sie in Weiterbildungsveranstaltungen zum Thema Depression. Die Evaluation der Studie erbrachte u. a. Hinweise auf eine Reduktion der Suizidhäufigkeiten. Auch wenn diese Hinweise statistisch und punkto Nachhaltigkeit auf unsicheren Beinen standen, bestärkten sie die Überzeugung, dass mit der Untertützung so genannter Multiplikatoren, z. B. Ärzte, die Suizidprävention erfolgreich vorangetrieben werden kann. Als Beispiel für ein Folgeprojekt sei die Weiterbildungskampagne »Krise und Suizid« der Schweizerischen Ärztevereinigung in den 1990er Jahren genannt.
Noch einen Schritt weiter gehen konzertierte Präventionsprogramme wie das »Nürnberger Bündnis gegen Depression« (Althaus et al. 2005, Althaus et al. 2007), ein inzwischen vielfach kopiertes Programm. Es bietet ein Modell, wie verschiedene Stoßrichtungen – Weiterbildung von Hausärzten, Einbezug von Multiplikatoren, Information der Öffentlichkeit, Angebote für Betroffene und Angehörige – zeitgleich miteinander kombiniert werden können in der Erwartung, dass kombinierte Maßnahmen zusammen erfolgreicher sind als die Summe der einzelnen Maßnahmen. Auch hier erbrachte die Evaluation vielversprechende Ergebnisse, die der Suizidprävention neue Optionen eröffneten. Die Suizidprävention erscheint heute mehr denn je machbar, erfolgversprechend, lohnend zu sein.

1.3 Über Definitionen hinaus

Zum Suizid existieren eine Reihe von Definitionen (Shneidman 1985, Wolfersdorf 2008), die notwendig und nützlich sind: z. B. im Hinblick auf die Feststellung von Todesursachen, hier insbesondere der gewaltsamen Todesursachen. Zugleich sind Definitionen für das Verständnis des Suizids vor allem behindernd. Weshalb?
Definitionen versuchen in der Regel, ein Phänomen möglichst genau zu fassen oder alternativ eine bestimmte Sichtweise in den Vordergrund zu rücken. Dies ist bei homogenen Phänomenen hilfreich, bei heterogenen eher nicht. Bei Suiziden treffen offensichtlich sehr unterschiedliche Verhaltensmotive und -muster zusammen. Es gibt nicht den Suizid, es gibt bestenfalls verschiedene Suizidtypen. Der Weg zur Erfassung der Heterogenität von Suiziden und deren besserem Verständnis führt daher nur über die Empirie.3
Beim Beispiel der Suizide ist die Empirie nicht frei von Tücken. Sie sagt zunächst, dass Suizide seltene Ereignisse sind. Dies gilt jedoch nicht für suizidales Verhalten. Jede/jeder zweite Schweizer/-in berichtet in Langzeitstudien über Suizidgedanken, doch nur jede/jeder Hundertste stirbt an Suizid. Anders gesagt: Von 50 Menschen mit Suizidgedanken stirbt einer an Suizid und 49 an anderen Todesursachen. Auf einen Suizid kommen schätzungsweise zehn Suizidversuche. Anders gesagt: einer von zehn Suizidversuchern wird später an Suizid sterben, neun hingegen an anderen Todesursachen.4 Auch im Kontext der Suizidalität bzw. des suizidalen Verhaltens sind Suizide Ausnahmeerscheinungen und scheinen vor diesem Hintergrund am ehesten Unfällen zu gleichen, sozusagen psychischen Unfällen.5 Diese Charakterisierung ist bei Kurzschlusssuiziden unmittelbar nachvollziehbar, wo suizidale Impulse sich schnell auf- und ebenso schnell wieder abbauen. Sie trifft aber auch bei anderen Suizidtypen (Abschnitt 1.6, Übersicht) zu, wo krisenhafte Entwicklungen sich zeitlich verdichten, um danach zu verschwinden oder zumindest wieder abzuflauen.
Indes wirft die Charakterisierung einer Vielzahl von Suiziden als psychische Unfälle unmittelbar ein kontrastreiches Licht auf die Forschung und die Prävention. Sichtbar wird, dass Theorien, empirische Forschung, Erfassungsinstrumente, Präventionsbemühungen v. a. Suizidalität adressieren und nicht Suizide – zwei empirisch sehr unterschiedliche Phänomene.6 Die Charakterisierung von Suiziden als psychische Unfälle legt eine Denkweise nahe, die probabilistisch ist und nicht deterministisch. Es geht demnach nicht mehr um theoretisch begründbares, zwangsläufig sich anbahnendes Verhalten, sondern um seltene Ereignisse, deren Vorhersage und Prävention. Gesucht sind Kombinationen von prädispositiven, situativen, Personen- und Prozessmerkmalen, die die Heterogenität der Suizide möglichst gut repräsentieren können. Um eine bessere Vorhersagbarkeit für Suizide zu erhalten und besser abgestimmte Präventionsmaßnahmen zu treffen, bedarf es einer Auswahl von Prädiktionsmodellen, die der Vielfalt des Suizidgeschehens angepasst sind.7

1.4 Risikofaktoren, Risikogruppen

Im Folgenden wird eine knappe Auslegeordnung von Risikofaktoren/-gruppen und Risikomechanismen dargelegt. Risikofaktoren können mit einer individuellen Situation einhergehen (z. B. einem kritischen Lebensereignis) oder Gruppen von Menschen mit einem erhöhten Suizidrisiko charakterisieren – Risikogruppen. Risikofaktoren für Suizid können lange vorbestehen – in Analogie zum Diathese-Stress-Modell als Vulnerabilitätsfaktoren – oder sie können als krisenhafte Situationen, Prozesse, Ereignisse unmittelbar einen hohen Leidensdruck auf betroffene Menschen ausüben.8
Es gibt kaum andere Todesursachen, die vergleichbar stark über die Zeit oder über Risikogruppen hinweg schwanken wie der Suizid. Zur Illustration seien einige Beispiele gelistet ( Tab. 1.1).
Die Liste der Risikogruppen lässt sich lange weiterführen, ohne erschöpfend zu sein: Survivors, Menschen nach Suizidversuch, Menschen mit psychischen Krankheiten und Suchtstörungen, Menschen mit belastenden Symptomen (z. B. psychischen Schmerzen (psychache), Hoffnungslosigkeit), Menschen während und nach stationärem Aufenthalt in psychiatrischer Klinik, Menschen nach Festnahme/Gefängniseinweisung, nach Trennung, Verlust von Kindern, Eltern, nach Verwitwung, Menschen mit schweren chronischen Erkrankungen, Menschen nach anderen schweren Schicksalsschlägen, nach kritischen Lebensereignissen in Kombination mit hoher subjektiver Wertigkeit, isolierte Menschen, Menschen mit wenig sozialer Unterstützung, Opfer von Missbrauch, Gewalt, Vergewaltigung.
Die Implikation dieser Liste für die Prävention des Suizids ist gleichermaßen einfach wie kompliziert: neben allgemeinen, für alle Gruppen anwendbaren Maßnahmen sind Präventionsprojekte erforderlich, die gezielt auf einzelne Gruppen, Situationen, Prozesse eingehen. Auch dies ist nicht zuletzt eine Parallele zu Unfällen und zu in diesem Bereich angewandten Präventionsstrategien.
Tab. 1.1: Erhöhung des Suizidrisikos bei einzelnen Risikogruppen
Faktor
Patienten unmittelbar nach stationärem Aufenthalt
200 x
Patienten während stationärem Aufenthalt
50 x
Menschen mit > 1 psychiatrischer Diagnose im letzten Monat
90 x (SU-Versuch)
Menschen mit unterschiedlichen psychiatrischen Diagnosen
10–25 x
Menschen unmittelbar nach Verwitwung
25 x
Trennungsphase (Männer, je n...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Verzeichnis der Herausgeber und Autoren von Band 2
  6. Teil 1: Präventive Ansätze
  7. Teil 2: Einrichtungen und Versorgungsformen
  8. Teil 3: Therapieformen
  9. Teil 4: Leistungsrecht in der Praxis
  10. Teil 5: Allgemeine Themen
  11. Stichwortverzeichnis