Gesunde Schule
Philipp Schlotter
(F1) Pausenverkauf und Mittagsverpflegung in der Schule zeichnen sich häufig nicht durch ein besonders gesundheitsbewusstes Angebot aus. Viele Schülerinnen und Schüler – und auch Lehrkräfte – bedienen sich am liebsten an den aufgestellten Automaten mit Süßigkeiten. Wie kann an der Schule gesunde Ernährung gefördert werden?
(F2) Sportlehrkräfte stellen eine zunehmende Zahl übergewichtiger Kinder und Jugendlicher fest, die sich im Sportunterricht schwer tun und die sich äußerst ungern bewegen. Die meisten Schülerinnen und Schüler verbringen die Pause sitzend im Schulhaus und sind in den folgenden Unterrichtsstunden unruhig. Wie kann Bewegung einen größeren Stellenwert im Schulleben einnehmen?
(F3) Auf Klassenfahrten kommt es trotz entsprechender Regeln immer wieder zu exzessivem Alkoholkonsum. Berichte über »Komasaufen« von Schülerinnen und Schülern kursieren regelmäßig im Lehrerzimmer. Wie kann Suchtprävention an der Schule aussehen?
(F4) Einige Klassenzimmer sollen neu eingerichtet werden. Doch welche Möblierung ist aus ergonomischer und psychosozialer Sicht am besten geeignet? Wie kann die Lärmbelastung für alle Beteiligten verringert werden?
(F5) Unmotivierte und unruhige Schülerinnen und Schüler, die den Unterricht stören, wenig Austausch und gegenseitige Rückmeldung im Kollegium, Schwierigkeiten, Arbeit und Privatleben zu trennen und Entspannung zu finden – der Lehrerberuf bringt trotz aller positiven Seiten eine Vielzahl von Herausforderungen mit sich. Wie kann diesen (noch besser) begegnet werden?
(F6) Schülerinnen und Schüler klagen häufig über einen zunehmenden Leistungs- und Notendruck, der sich bereits in der Grundschule mit dem anstehenden Übertritt auf die weiterführenden Schulen anbahnt. Wie kann hier eine Entlastung aussehen?
Diese Fallvignetten zeigen das breite Spektrum möglicher Maßnahmen der Gesundheitsförderung in der Schule auf: So kann der Wunsch nach gesunder Ernährung mit einem entsprechenden Pausen- und Mittagsangebot (F1) ebenso den Ausschlag geben für einen Schulentwicklungsprozess wie die Erkenntnis, dass den Schülerinnen und Schülern mehr Bewegungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden müssen (F2). Typische Handlungsfelder bilden auch der Umgang mit Suchtmitteln im schulischen Umfeld (F3) und entsprechende Strategien der Prävention. Möglicherweise werfen bereitgestellte finanzielle Mittel die Frage auf, wie Klassenräume lern- und gesundheitsförderlich eingerichtet werden können (F4). Aber auch die angesprochenen Klagen über hohes Stress- und Belastungserleben aufseiten der Schülerinnen und Schüler (F6) wie auch der Lehrkräfte (F5) können ein Anlass sein, sich mit den Möglichkeiten einer gesundheitsförderlichen Gestaltung der Lern- und Arbeitsbedingungen an der eigenen Schule zu beschäftigen. Auf dem Weg zu einer gesunden Schule ist es sinnvoll, den Prozess mit einem solchen konkreten Handlungsfeld anzustoßen und dann ein systemisches, ganzheitliches und passgenaues Konzept der Gesundheitsförderung zu entwickeln.
Im Folgenden sollen zunächst grundlegende Begriffe wie Gesundheit, Gesundheitsförderung und Prävention geklärt werden (
Abschnitt 1). Außerdem werden mit den Modellen der Salutogenese und des Empowerments zwei für die praktische Tätigkeit bedeutsame gesundheitstheoretische Ansätze erläutert (
Abschnitt 2). Befunde zur gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen (
Abschnitt 3) sowie Lehrkräften (
Abschnitt 4) führen zur Vorstellung des Setting-Ansatzes der Gesundheitsförderung und des Konzepts der guten gesunden Schule (
Abschnitt 5). In Abschnitt 6 werden die in den Fallvignetten erwähnten konkreten Handlungsfelder schulischer Gesundheitsförderung und mögliche Maßnahmen beleuchtet und es wird auf weiterführende Informationsmöglichkeiten und Projekte verwiesen. Abschließend wird auf typische Stolpersteine eines derartigen Schulentwicklungsprozesses eingegangen (
Abschnitt 7).
1 Grundbegriffe
1.1 Gesundheit
In der als klassisch bezeichneten Definition der WHO wird Gesundheit nicht nur als die Abwesenheit von Krankheit, sondern als ein Zustand des völligen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens beschrieben (WHO, 1946). Häufig wird diese Auffassung als zu radikal und idealistisch angesehen, da sich die Frage stellt, wer nach diesem Verständnis überhaupt als gesund gelten kann. Außerdem lassen sich nur schwer konkrete Handlungsempfehlungen daraus ableiten, da die Prozesshaftigkeit von Krankheit und Gesundheit nicht berücksichtigt wird (Dür, 2011; Klein-Heßling, 2006). Einige Kritikpunkte nahm die WHO in eine neue Definition aus dem Jahr 1984 auf, wo sich bereits deutliche Parallelen zu heutigen Definitionen von Gesundheit finden. Gesundheit soll im vorliegenden Kontext folgendermaßen verstanden werden:
• Es wird unterschieden zwischen einer objektiven und einer subjektiven Gesundheit, wobei medizinisch identifizierte Gesundheitsbefunde/-fakten nicht deckungsgleich mit dem subjektiven Empfinden jedes Einzelnen sein müssen (Hurrelmann, 1990).
• Gesundheit ist ein ganzheitlicher und multidimensionaler Prozess, der physische, psychische, soziale, ökologische und spirituelle Aspekte einschließt (Hurrelmann & Franzkowiak, 2011; Paulus, 2010). Insbesondere geht es mit Blick auf psychische Gesundheit darum, eigene Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse zu verwirklichen (Paulus, 2006).
• Von Gesundheit wird gesprochen, wenn Anforderungen des täglichen Lebens in einem Gleichgewicht mit Ressourcen stehen, die zu ihrer Bewältigung dienen (Nieskens, Schumacher & Sieland, 2014).
• Gesundheit und Krankheit sind nicht zwei dichotome, voneinander unabhängige Kategorien, sondern sie befinden sich auf einem dynamischen Kontinuum mit fließenden Übergängen (Hundeloh, 2012). Gesundheit muss täglich neu reguliert und aktiv hergestellt werden (Nieskens, Rupprecht & Erbring, 2012).
1.2 Gesundheitsförderung und Prävention
Als Meilenstein für die Gesundheitsförderung gilt die Ottawa-Charta der WHO aus dem Jahr 1986. Sie schreibt fest, dass Gesundheit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern und damit auch in Schulen gefördert werden soll. Schließlich wurde in der »Jakarta-Erklärung zur Gesundheitsförderung für das 21. Jahrhundert« (WHO, 1997) Gesundheit als grundlegendes Menschenrecht verankert. Das Ziel besteht darin, alle Menschen zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen (Hundeloh, 2012, vgl. das Konzept des Empowerment unter Punkt 2.2). Damit ist die Aufrechterhaltung und Förderung von Gesundheit nicht mehr nur eine Aufgabe der Medizin, sondern es werden individuelle Handlungsmöglichkeiten und die Verantwortung aller sozialen Systeme betont (Altgeld, 2011).
Auch die Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention im Deutschen Bundestag im Juni 2015 dient einem massiven Ausbau von Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogrammen. Dabei lässt sich unterscheiden zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention:
Einerseits wird Gesundheit durch unser Verhalten beeinflusst, das entweder eher protektiv und gesundheitsförderlich oder aber riskant und damit potenziell gesundheitsgefährdend sein kann (Klein-Heßling, 2006). Versuche, diese Verhaltensweisen zu verändern, werden als Verhaltensprävention bezeichnet. Geht es darum, die äußeren Rahmenbedingungen (etwa das häusliche oder schulische Umfeld) zu beeinflussen, spricht man von Verhältnisprävention (Leppin, 2010). Ansätze der Verhaltensprävention lassen sich oft leichter umsetzen, bleiben aber in ihren Wirkungen unvollständig, wenn nicht auch auf die Rahmenbedingungen Einfluss genommen wird (Badura, 2008).
Neben diesen unterschiedlichen Ansatzpunkten von Prävention spielen Zielgruppe und Zeitpunkt, zu dem Maßnahmen ergriffen werden, eine Rolle:
Primärprävention richtet sich an überwiegend gesunde, breite Bevölkerungskreise, um Erkrankungen zu vermeiden. Sekundärprävention meint die Früherkennung von Krankheiten, um eine Behandlung einzuleiten und eine Verschlechterung zu verhindern. Schließlich versteht man unter Tertiärprävention die Behandlung erkrankter Personen mit dem Ziel der Heilung und Linderung von Beschwerden sowie eine Rückfallprophylaxe (Lehr, 2014). Schulische Gesundheitsförderung ist in erster Linie im Bereich der Primärprävention und zum Teil der Sekundärprävention verortet.
Auch wenn die Begriffe Gesundheitsförderung und Prävention oftmals synonym gebraucht werden, unterscheiden sie sich doch in ihrem Fokus: Erstere zielt ab auf die Stärkung der Gesundheit, letztere auf die Verhinderung von Krankheit (Hähne et al. 2008). Dies spiegelt das Konzept der Salutogenese wider, das im Folgenden erläutert wird.
2 Gesundheitstheoretische Ansätze
Zwei gesundheitstheoretische Ansätze haben in den letzten Jahren weite Verbreitung gefunden und bilden eine gute Grundlage für das Verständnis von Gesundheitsförderung im schulischen Kontext. Dabei handelt es sich um die Konzepte der Salutogenese sowie des Empowerments.
2.1 Konzept der Salutogenese
Im Sinne einer in der Medizin vorherrschenden pathogenetischen Orientierung wurde lange Zeit ausschließlich die Frage nach krankmachenden Faktoren gestellt. Will Gesundheitsförderung aber erfolgreich sein, muss sie auch und insbesondere die andere Seite der Medaille beleuchten und fragen: Was erhält gesund und wie kann Gesundheit positiv beeinflusst werden (Faltermaier, 2010)? Darin besteht das Grundprinzip der Salutogenese mit ihrer Ressourcenorientierung, die auf Aaron Antonovsky (1997) zurückgeht. Entscheidend für die oben angesprochene Bewegung auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum ist demnach, wie Menschen mit psychischen, sozialen und körperlichen Belastungen und Stressoren umgehen und auf welche (Widerstands-)Ressourcen sie zurückgreifen können. Veranschaulichen lässt sich dies in einem systemischen Anforderungs-Ressourcen-Modell (SAR-Modell) (Becker, 2003; Blümel, 2011): Gesundheit und Krankheit sind hier das Resultat von Anpassungs- und Regulationsprozessen zwischen einem Individuum und seiner Umwelt. Es besteht also ein wechselseitiges Interaktionsverhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und seiner Umgebung.
Faltermaier (2005) unterscheidet – in Erweiterung von Antonovsky (1997) – folgende Ressourcen:
• personal-psychische Ressourcen: Persönlichkeitsmerkmale wie hohe Kontroll- und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, hohes Selbstwertgefühl, eine stabile Identität oder eine optimistische Grundhaltung;
• Handlungskompetenzen: rational-flexible Bewältigungsmuster mit entsprechender Anpassungsfähigkeit an variierende Belastungen oder soziale Kompetenzen im Umgang mit anderen;
• körperlich-konstitutionelle Ressourcen: gute körperliche Fitness und entsprechende Widerstandsfähigkeit;
• sozial-interpersonale Ressourcen: stabile und vielfältige soziale Netzwerke mit der Möglichkeit einer angemessenen Unterstützung;
• sozio-kulturelle Ressourcen: gute soziale oder kulturelle Integration, stabile Grundüberzeugungen (z. B. religiöser Art);
• materielle Ressourcen: materiell-existenzielle Sicherheit mit der Möglichkeit, über Geld, Güter und Dienstleistungen zu verfügen.
Wenn Menschen im Laufe ihres Lebens auf eine Vielzahl von Ressourcen zurückgreifen können und damit positive Bewältigungserfahrungen machen, entwickeln sie nach salutogener Vorstellung ein sogenanntes Kohärenzgefühl (Antonovsky, 1997). Ein hohes Kohärenzgefühl wirkt sich durch die Mobilisierung angemessener Ressourcen wiederum gesundheitsförderlich aus. Allgemein beschreibt es eine Lebensorientierung, die sich durch folgende Merkmale...