Teil III: Beispiele zur Umsetzung und Überprüfung von Konzepten
Der dritte Teil des Bandes stellt in drei Kapiteln konkrete Beispiele für die Umsetzung und Überprüfung von Konzepten vor, und zwar jeweils für den Elementar-, den Primar- und den Sekundarbereich.
In Kapitel 7 beschreiben Hartung und Ennemoser die Umsetzung eines Konzepts im Elementarbereich: Das dialogische Lesen. Dabei erläutern sie verschiedene Sprachlehrstrategien, die in einer Vorlesesituation gezielt eingesetzt werden können, um Kinder zum Sprechen anzuregen und so ihre Sprachentwicklung zu fördern. Dazu gehören z. B. offene und geschlossene W-Fragen, die Anregung zur Vervollständigung von Sätzen oder die korrektive und wertschätzende Wiederholung von Äußerungen des Kindes. Hartung und Ennemoser stellen internationale und nationale Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit des dialogischen Lesens vor, die u. a. positive Effekte auf den aktiven Wortschatz und das Sprachverständnis von Kindern belegen. Gleichzeitig weisen sie darauf hin, dass die Wirksamkeit des dialogischen Lesens stark mit der Qualität der Umsetzung zusammenhängt und machen hier weiteren Professionalisierungsbedarf aus.
In Kapitel 8 stellen Bredthauer, Jambor-Fahlen, Prien, Scholz und Weiß das Konzept »Niemanden zurücklassen – Lesen macht stark – Grundschule: Diagnose und Förderung von Lese- und Schreibkompetenzen im Primarbereich« vor. Die Autorinnen beschreiben die Umsetzung einer Maßnahme, die darauf abzielt, Kinder mit Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb möglichst frühzeitig zu identifizieren sowie individuell zu fördern. In einer Fortbildungs- und Informationsinitiative wurde Material implementiert (ein Heft für Schülerinnen und Schüler und ein Heft für Lehrerinnen und Lehrer), das im Schulalltag wiederholt zur Diagnose und Förderung verschiedener Teilkompetenzen des Lesens und Schreibens eingesetzt werden kann. Erste Ergebnisse einer Überprüfung des Materials werden vorgestellt, die sich vor allem auf die Akzeptanz und den Einsatz des Materials in der Praxis beziehen. Ein Großteil der befragten Lehrkräfte stufte demnach das Material als hilfreich ein.
In Kapitel 9 beschreiben Jost, Karstens, Meudt, Schmitz, Zeuch und Souvignier die Umsetzung und Überprüfung eines Förderkonzepts im Sekundarbereich, nämlich die Implementation von Lesestrategien zur Förderung der Selbstregulation beim Lesen. Das Konzept geht von einer diagnosegestützten Leseförderung durch Lesestrategien aus, zu dessen Umsetzung verschiedene Instrumente (Tools) eingesetzt werden. Beschrieben werden ein Diagnose-Tool, ein nach drei Jahrgangsstufen differenzierendes Förder-Tool (der sog. Lese-Fächer) und ein übergreifendes Tool zur Reflexion. Die Überprüfung des Konzepts ist als formative Evaluation angelegt. Die Autorinnen und Autoren berichten erste Ergebnisse aus dieser Evaluation, die Informationen zur Optimierung des Konzepts bzw. seiner Umsetzung liefern sollen.
Kapitel 7: Ein Förderkonzept im Elementarbereich: Dialogisches Lesen
Nils Hartung & Marco Ennemoser
Dialogisches Lesen ist eine Methode zur Sprachförderung, die allein auf dem Einsatz einfacher Sprachlehrstrategien basiert. Die Strategien wurden aus der klassischen Eltern-Kind-Interaktion abgeleitet und umfassen im Wesentlichen drei Bausteine: (1) die Anregung der Sprachproduktion durch den Einsatz von Fragetechniken, (2) die Modellierung der sprachlichen Äußerungen der Kinder sowie (3) motivationale Aspekte, wie die konsequente Verstärkung kindlicher Äußerungen und die Orientierung an den Interessen der Kinder. Den Rahmen der Förderung bildet eine Vorlesesituation, die besonders gut geeignet ist, um sprachförderliche Dialoge mit dem Kind zu initiieren. Die Wirksamkeit des dialogischen Lesens konnte international bereits in zahlreichen Studien bestätigt werden. Inzwischen liegen auch aussagekräftige Studien aus Deutschland vor, die ebenfalls zu positiven Ergebnissen kommen. Um sicherzustellen, dass Kinder in der Praxis auch tatsächlich von dem Förderansatz profitieren, muss allerdings ein besonderes Augenmerk auf die Durchführungsqualität gelegt werden. Aktuelle Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass intensive Schulungen notwendig sind, um sicherzustellen, dass pädagogische Fachkräfte die Prinzipien des dialogischen Lesens tatsächlich konsequent genug zur Anwendung bringen, um die gewünschten Auswirkungen auf die kindliche Sprachkompetenz zu erzielen (Ennemoser & Hartung, 2017a).
Einleitung
Das Angebot an Maßnahmen zur sprachlichen Förderung im Vorschulalter ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Die vorgeschlagenen Förderansätze sind durchaus heterogen, sie zielen auf unterschiedliche sprachliche Kompetenzbereiche ab (sofern diese explizit definiert werden) und setzen auf verschiedene methodische Zugänge und Materialien. Allerdings ist immer noch wenig über die Wirksamkeit von einzelnen Methoden bekannt. Eine Ausnahme stellen sogenannte interaktionsbasierte Ansätze dar, die einen zentralen Fokus darauf legen, die Kommunikationssituation mit dem Kind möglichst sprachförderlich zu gestalten. Für diese Art von Fördermaßnahmen liegt in der internationalen Forschung eine Reihe von Befunden vor, die auf die Wirksamkeit sprachförderlicher Interaktionen schließen lassen. Eine dieser Methoden ist das dialogische Lesen. Sie soll im Folgenden näher vorgestellt werden.
1 Beschreibung des Konzepts
Das dialogische Lesen ist eine Fördermethode, die auf den bewussten Einsatz von Sprachlehrstrategien in der Kommunikation mit Kindern abzielt. Dabei handelt es sich nicht um ein umfassendes Förderprogramm, bei dem bestimmte Bereiche der Sprachkompetenz mit jeweils speziell zugeschnittenen Materialien, Übungen und Sprachspielen angeregt werden sollen. Stattdessen macht sich die Methode einfache Sprachförderstrategien zu eigen, die im Grunde aus der natürlichen Eltern-Kind-Interaktion abgeleitet wurden (motherese, scaffolding; vgl. Grimm & Weinert, 2002; Zollinger, 1997) und sowohl den Wortschatz als auch morpho-syntaktische Fähigkeiten anregen sollen. Zu diesen Strategien gehört unter anderem, dass Eltern – in der häuslichen Eltern-Kind-Interaktion meist unbewusst – Aussagen ihres Kindes wiederholen, diese inhaltlich erweitern oder gegebenenfalls beiläufig korrigieren, ohne jedoch explizit auf einen Fehler hinzuweisen. Kinder erhalten auf diese Weise positiv-unterstützende und zugleich sehr differenzierte Rückmeldungen über die sprachliche Qualität des Gesagten (Brannon & Dauksas, 2012). In der Forschung gelten solche Modellierungstechniken und der Einsatz von stützender Sprache (scaffolding) als besonders sprachförderlich (vgl. Jungmann, 2007; Warren, Yoder, Gazdag, Kim & Jones, 1993). Eine Förderung im Sinne des dialogischen Lesens hat also zum Ziel, Eltern und Förderkräfte so zu schulen, dass sie diese natürlichen Sprachlehrstrategien nicht nur sporadisch und intuitiv anwenden, sondern sehr bewusst und möglichst konsequent zum Einsatz bringen können, um auf diese Weise die Sprachentwicklung möglichst optimal zu stimulieren.
Als eigenständiges Förderkonzept wurde das dialogische Lesen erstmals von Whitehurst und Kollegen (1988) beschrieben. Es wurde allerdings zunächst nicht als institutionelle Fördermaßnahme betrachtet, sondern als Möglichkeit, die Eltern-Kind-Interaktion im häuslichen Umfeld so zu optimieren, dass die sprachliche Entwicklung der Kinder auf möglichst natürliche Weise gefördert wird. Als besonders gut geeigneten Rahmen für den Einsatz der betreffenden dialogischen Prinzipien wurde Eltern die Vorlesesituation empfohlen (Ennemoser, 2007). Wichtiger Bestandteil ist, dass das Kind beim dialogischen Lesen eine wesentlich aktivere Rolle einnimmt als dies beim konventionellen Vorlesen der Fall ist, und hierbei auch selbst zum Erzähler wird. Dies wird insbesondere durch den gezielten Einsatz von Fragen erreicht, die dem Kind fortlaufend Anlässe zur Sprachproduktion bieten. Dabei unterscheiden Whitehurst et al. (1988) unterschiedliche Fragetechniken, die geschulte Erwachsene oder Förderkräfte verwenden können: W-Fragen, offene Fragen, Nachfragen zu den Äußerungen des Kindes
sowie Anregungen zum Vervollständigen von Sätzen (
Tab. 7.1).
Geschlossene W-Fragen (low demand questions) sollten eher als »Eisbrecher« zum Einstieg in die Methode gewählt werden. Danach gelten
offene Fragen (high demand questions) zum Inhalt der Geschichte als deutlich besser geeignet, um die Sprachproduktion der Kinder anzuregen (Blewitt, Rump, Shealy & Cook, 2009).
Ein zweiter Baustein neben dem gezielten Einsatz von Fragen ist die konsequente Anwendung von sprachförderlichen Modellierungstechniken. Hierzu zählt etwa, dass Eltern die Aussagen ihrer Kinder um neue Informationen erweitern (Beispiel: »Der Tiger hat eine Tasche« → » Richtig, der Tiger hat eine grüne Tasche in seiner Pfote.«). Besonders wichtig ist hierbei der Umgang mit Fehlern in den sprachlichen Äußerungen der Kinder. Die Kinder werden nicht explizit auf einen Fehler aufmerksam gemacht, sondern die Korrektur erfolgt implizit, indem die Äußerung zunächst lobend verstärkt und dann – in korrigierter Form – wiederholt wird (Beispiel: » Der hat die Eimer putt macht.« → »Stimmt, der Bär hat den Eimer kaputt gemacht.«). Idealerweise sollten auf diese Weise korrigierte oder erweiterte Äußerungen vom Kind wiederholt werden (Bespiel: »Das ist Hase mit die Schuhe.« → »Genau, das ist der Hase mit den schnellen Schuhen. Jetzt sag Du es noch einmal!«).
Neben den genannten eher »technischen« Sprachlehrstrategien sind beim dialogischen Lesen auch motivationale Förderaspekte zu berücksichtigen (vgl. Ennemoser, Kuhl & Pepouna, 2013). Grundsätzlich soll dem Kind Freude am Sprechen vermittelt werden. Jede Sprachhandlung ist deshalb durch eine lobende Haltung positiv zu verstärken. Bei der Auswahl von geeigneten Büchern sollten möglichst die Interessen sowie auch die Lebenswelt des Kindes berücksichtigt werden.
Tab. 7.1: Techniken des dialogischen Lesens und ihre jeweilige Funktion (vgl. Ennemoser et al., 2013; Whitehurst et al., 1988).
FunktionMaßnahme/Technik
2 Beschreibung der Umsetzung, Herausforderungen und unterstützenden Bedingungen
Für die konkrete Umsetzung der Fördermaßnahme im Kindergartenalltag hat das dialogische Lesen im Vergleich zu strukturierten Förderprogrammen einige Vorteile. Diese liegen insbesondere in der Flexibilität des Förderansatzes. Das dialogische Lesen kann in die Einzelförderung, die additive Kleingruppenförderung mit Risikokindern oder alltagsintegriert in den regulären Kindergartenalltag eingebettet werden. Es werden keinerlei umfangreiche Materialien benötigt, in deren Anwendung sich die Förderkräfte einarbeiten müssen, und es ist auch nicht notwendig, sich an vorstrukturierte Programmabläufe zu halten, um Fördererfolge zu erzielen. Die einzige formale Vorgabe ist, dass ein Mindestumfang von zwei bis drei Sitzungen pro Woche nicht unterschritten werden sollte. Als Material werden geeignete Bücher benötigt, bei deren Auswahl man die Kinder direkt einbeziehen und sich an ihren Interessen orientieren kann. Zudem kann innerhalb der Förderung sehr flexibel und mit individuellem Zuschnitt auf unterschiedliche Ausgangslagen und Bedürfnisse der Kinder eingegangen werden. Während beispielsweise bei einem Kind, das erst seit kurzer Zeit die deutsche Sprache lernt, mit einfachen Benennungsfragen und Wiederholungen am Wortschatz gearbeitet werden kann, können bei fortgeschrittenen Kindern offenere Fragen eingesetzt werden, die zunehmend komplexere Antworten erfordern und damit höhere Anforderungen an die produktiven morpho-syntaktischen Fähigkeiten und das Sprachverständnis stellen. So kann die Förderung auch im vergleichsweise ökonomischen Kleingruppeneinsatz entlang der Zone der nächsten Entwicklung erfolgen (Vygotskij, 1934), das heißt, jedes Kind kann seinem aktuellen Entwicklungsstand entsprechend optimal angeregt werden.
Die Flexibilität, mit der das dialogische Lesen eingesetzt werden kann, bringt aber zugleich gewisse Herausforderungen mit sich. So stellt etwa die individuelle Anpassung besondere Anforderungen an die Kompetenz der Förderkräfte. Denn Kleingruppen mit sprachlich förderbedürftigen Kindern sind in der Regel durchaus heterogen zusammengesetzt. Das heißt, die Kinder weisen teilweise sehr verschiedene familiäre und kulturelle Hintergründe auf, sie unterscheiden sich im sprachlichen und intellektuellen Ausgangsniveau und auch in ihrer Persönlichkeit. So sind entsprechende Kleingruppen auch häufig mit Kindern besetzt, die sehr unterschiedlich redefreudig sind. Jene Kinder, die aufgrund eines niedrigen sprachlichen Ausgangsniveaus oder einfach, weil sie etwas schüchterner sind, eher zurückhaltend agieren, drohen im Beisein sprachlich aktiverer, mitteilungsbedürftiger Kinder außen vor zu bleiben. Eine solche Situation muss von der Förderkraft erkannt und die betreffenden Kinder immer wieder aktiv eingebunden und angesprochen werden. Denn nur auf diese Weise können sprachliche Äußerungen angeregt und im weiteren Verlauf positiv verstärkt und modelliert werden.
Ein noch viel grundsätzlicheres Problem besteht darin, dass die Förderkräfte in die Lage versetzt werden...