b) Auslegung, Ermessen und freie Rechtsschöpfung. Mit dem Kapitel Auslegung sind zwei wichtige Fragen verknüpft – eine eher philosophische und eine eminent praktische.
Die eher philosophische Frage richtet sich darauf, in welchem Umfang man überhaupt noch von Auslegung reden kann, wenn ein zu entscheidender Fall vom Wortlaut des Gesetzes nicht direkt getroffen wird, so dass die Entscheidung aus dem Gesetz nicht abgelesen werden kann, sondern auf andere Weise, nach herkömmlicher Auffassung eben mit Hilfe von Auslegungsregeln, gefunden werden muss. Die sogenannte freie Rechtsschule vertritt dazu den Standpunkt, dass beinahe jede Auslegung nichts anderes sei als die nachträgliche Begründung eines schon vorher vom frei urteilenden Richter gefundenen Ergebnisses. Die freie Rechtsschule legt daher weniger Wert auf dogmatische Auslegungskunststücke als auf die Auswahl der Richter. Die Qualität der Rechtsprechung wird danach weniger von der juristischen Fachausbildung der Richter als von ihrer Persönlichkeit bestimmt.
Die zweite, eher praktische Frage hängt mit diesem Problem eng zusammen. Wenn Gesetze auch nach Auslegung nicht zum eindeutigen Ergebnis führen, wenn ein Fall bei Geltung desselben Gesetzes unterschiedlich entschieden werden könnte, dann ist es sehr wichtig zu wissen, wer dazu befugt ist, unter mehreren möglichen Entscheidungen die eine auszuwählen, die schließlich gelten soll. Bei zivilrechtlichen Streitigkeiten, in deren Verlauf die Parteien schließlich vor den Richter treten, ist diese Frage leicht zu beantworten: Hier entscheidet das Gericht in erster und letzter Instanz über das, was gelten soll.
Schwieriger ist es im Verwaltungsrecht. Denn hier wird das Recht, schon bevor der Streit vor das Gericht kommt, durch einen hoheitlichen Akt konkretisiert, nämlich durch den Verwaltungsakt. Das, was im Zivilrecht erst vor Gericht geschieht, nämlich eine hoheitliche, autorisierte Anwendung des Rechts auf einen Lebenssachverhalt, das geschieht im Verwaltungsrecht schon durch den Verwaltungsakt. Demnach wäre es nur konsequent, wenn man im Verwaltungsrecht die Befugnis, unter mehreren möglichen, mit dem Gesetzeswortlaut vereinbaren Entscheidungen die eine auszuwählen, die subjektiv vom Entscheidungsträger als die beste empfunden wird, der Behörde zugestände. Denn die Behörde darf den Verwaltungsakt nicht erlassen, ohne zuvor zu prüfen, ob er mit dem Gesetz in Einklang steht. Sie muss das Gesetz dabei auslegen und anwenden, ihr sollte also das Recht der Erstinterpretation zugestanden werden. Soweit diese Erstinterpretation vertretbar ist, muss sie auch vor Gericht Bestand haben. Die Gerichte hätten in diesem Fall nur noch die Aufgabe, die Grenzen eines solchen Verwaltungsermessens zu kontrollieren. Kontrollmaßstab wären die im Gesetz enthaltenen, mehr oder weniger unbestimmten Rechtsbegriffe, die von der Verwaltung anlässlich des Verwaltungsakts ausgelegt und angewendet worden sind.
Die herrschende Rechtsprechung kennt jedoch kein so weitgehendes Verwaltungsermessen. Die Gerichte beanspruchen derzeit die uneingeschränkte Kontrolle darüber, ob die Verwaltung alle unbestimmten Rechtsbegriffe genau in dem Sinne „richtig“ angewendet hat, wie es das Gericht nach seiner subjektiven Überzeugung für richtig hält. Wegen dieses von der Verwaltungsgerichtsbarkeit vertretenen „Grundsatzes der Vollkontrolle“ bei unbestimmten Rechtsbegriffen ist es zu einer bedenklichen Machtverlagerung im Gefüge der Gewaltenteilung der Bundesrepublik Deutschland gekommen. Nicht mehr die Gerichte sind (mit den Worten Montesquieus) „en quelque façon nulle“ – in gewisser Weise ohne eigene Machtbefugnisse –, sondern vom juristisch herrschenden Dogma ist mittlerweile die Verwaltung in die Rolle des Vollstreckungsautomaten gedrückt worden; sie soll nurmehr willenloser „Mund des Gesetzes“ sein. Angesichts der Tatsache, dass die meisten, ja fast alle Gesetzesbegriffe mehr oder weniger unbestimmt sind, lohnt es sich für die Bürger immer, eine Klage vor dem Verwaltungsgericht zu erheben, wenn sie mit einer Verwaltungsentscheidung nicht einverstanden sind. Denn das Gericht könnte ja anderer Ansicht sein. Dass eine solche Verschiebung der Masse der Entscheidungskompetenz (nicht der Masse der Entscheidungen!) zu den Gerichten die Funktionsfähigkeit der Verwaltung beeinträchtigen kann, ist evident. Es mehren sich deshalb auch die Stimmen, die der Verwaltung wieder zu ihren eigenen Rechten verhelfen wollen: Verwaltungsentscheidungen müssen auch von den Gerichten respektiert werden, wenn sie nach Maßgabe der zugrundeliegenden Vorschrift vertretbar sind. Die Gegner dieses Prinzips machen geltend, dass eine der großen Qualitäten der Bundesrepublik Deutschland in ihrer uneingeschränkten Rechtsstaatlichkeit liege. Die Aufrechterhaltung dieser Qualität rechtfertige auch einen gewissen Zeitverzug bis zur endgültigen Bestandskraft einer Entscheidung. Gerade für das Bau- und Planungsrecht ist diese Frage von großer, kaum zu unterschätzender Bedeutung. Am Ende des Buchs wird noch einmal auf sie zurückgekommen.
Mit diesen schon sehr grundsätzlichen Bemerkungen ist die Annäherung an das Bau- und Planungsrecht, die das Ziel des ersten Teils dieses Buches ist, erreicht. Es kann also mit dem Hauptteil, dem Bau- und Planungsrecht selbst, begonnen werden.
Literatur
Die Dritte Gewalt
Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 15. Aufl., München 2018;
Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl., München 2017;
Kopp, Ferdinand O., fortgeführt von Schenke, Wolf-Rüdiger, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 23. Aufl., München 2017;
Redeker, Konrad/Oertzen, Hans-Joachim von, VwGO, Kommentar, 16. Aufl., Stuttgart 2014;
Schenke, Wolf-Rüdiger, Verwaltungsprozessrecht, 15. Aufl., Heidelberg 2017;
Schoch, Friedrich/Jens Peter Schneider/Wolfgang Bier (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar (Loseblatt).