Vorsicht Sexualität!
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Vorsicht Sexualität!

Sexualität in Psychotherapie, Beratung und Pädagogik - eine integrative Perspektive

  1. 240 Seiten
  2. German
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Vorsicht Sexualität!

Sexualität in Psychotherapie, Beratung und Pädagogik - eine integrative Perspektive

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Sexualität ist einer der zentralen Aspekte des menschlichen Lebens. Gleichwohl ist sie nach wie vor kaum im Blickfeld der Erziehungs- und Beratungs- sowie der Therapie- und Heilberufe. Selbst in der Psychoanalyse scheint sich das Thema immer mehr zu verflüchtigen oder von den sonstigen Lebenszusammenhängen abgespalten zu werden. Dieses Buch wagt einen neuen, integrativen Blick auf die menschliche Sexualität. Es behandelt Fragen zu Liebe und Sexualität in Geschichte, Gesellschaft und im individuellen Lebenslauf, die vor allem zu einem neuen Bewusstsein über die Zusammenhänge dieser heiklen Themen mit unserem "nicht-sexuellen" Leben führen sollen.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783170282087

II Kultur – Gesellschaft – Sexualität

3 Kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche und ihre Auswirkungen auf sexuelles Erleben

Sexualität ist – das ist im Verlauf dieses Buchs immer wieder klar geworden – ein dicht mit dem der Biografie und dem aktuellen Erleben der Einzelnen verzahnter Lebensbereich. Insofern ist es – aus Sicht einer sozial- und gesellschaftswissenschaftlich wachsamen Sexualwissenschaft – auch selbstverständlich, dass dieser Lebensbereich sich durch unser gesamtes gesellschaftliches Leben, durch die Organisation der Arbeitswelt, durch die davon wiederum beeinflusste Sphäre des Familienlebens und der Sozialisation Heranwachsender, durch die Art des Konsums und der Warendistribution u. a. m. beeinflusst zeigt. Wenn daran, dass der Mensch, wie Karl Marx einst in der sechsten Feuerbachthese meinte, das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« ist, auch nur ein bisschen was dran ist, dann ist auch sein Liebes- und Partnerschaftsleben das eines vergesellschafteten Wesens und somit zutiefst von all diesen Faktoren beeinflusst. Sehen wir uns also diese Einflüsse unter verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen in den letzten Jahrzehnten etwas genauer an.

3.1 »Die Welt ist mit Nacktheit bekleidet ...«

Zunächst wissen wir aus der Familienforschung, wie sehr die Umbrüche gesellschaftlicher Organisation mit dem Zeitalter der Industrialisierung die Gestaltung des Zusammenlebens in der Familie und in der Partnerschaft verändert haben. Diese Veränderungen sind auch auf das Engste mit dem Faktor Arbeit verbunden. Die industrialisierte Arbeitswelt erforderte ein neues Ausmaß an Disziplinierung des Körpers als Arbeitskraft, um diesen dem industriellen Produktionsrhythmus zu unterwerfen und anzupassen. Der Körper musste also diszipliniert werden »zu einem Arbeitswerkzeug, dessen Einsetzbarkeit in der sich ausweitenden bürgerlichen Industrie zu einem zentralen Kriterium des Umgangs mit ihm wird« (Wulf 1985, S. 27). Deshalb musste der Körper auch in bisher nicht bekannte Scham- und Peinlichkeitsgrenzen eingepresst und mussten die sexuellen Gelüste in bestimmter Weise reglementiert bzw. unterdrückt werden (vgl. Elias 1979). Der Sex durfte sich demnach im Wesentlichen nur in Form jener minimalen Lüste, die die Reproduktion der Gattung garantierten, äußern (vgl. Foucault 1977). Hervorstechende Kontrollmaßnahmen zur Erreichung dieser Domestikation waren dabei die Dämonisierung der Onanie – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – als schädlich und gesundheitsgefährdend einerseits, die Enterotisierung der idealisierten Frau als Mutter, wodurch das Frauenbild zugleich gespalten wurde in eines der Frau als Mutter und in ein anderes als Hure. Insgesamt entstand – wovon möglicherweise Freud im Wien der Jahrhundertwende noch »profitierte«, weil es entsprechende sexuelle Probleme nach sich zog – eine schwülstige, schuldgefühlbeladene und doppelmoralische Atmosphäre, die für das bürgerliche Zeitalter typisch war. Denn alles, was verdrängt und ausgegrenzt wird, meldet sich an anderer Stelle verstärkt wieder zurück.
Diese für die gesellschaftliche Organisation der Industriegesellschaft typische Konstellation des Sich-Zurückhaltens und Kasteiens, die den gesamten »Gesellschaftscharakter« (Fromm 1955)15 mit prägte (in Richtung sparen, horten, akkumulieren, aufbauen), konnte für die darauffolgende Gesellschaftsökonomie, nämlich die einer expandierenden Konsum- und Überflussgesellschaft, keinesfalls mehr funktional sein. Kasteiung und Sparen ist einer Verschwendungsökonomie grundlegend fremd und würde sie zugrunde richten. Jedwede Verzichtsmoral wurde somit unzeitgemäß, die Charaktere mussten triebpsychologisch auf Konsum hin »präpariert« werden (vgl. Schmidt 1988). Nun konnte auf der Grundlage einer hedonistischen Konsumtionsmoral, die freilich in einem ambivalenten Verhältnis zur bisherigen Moral- und Verzichtsforderungen stand, auch die Sexualität zum allseitigen Konsum freigegeben werden:
»Sie [die Sexualität – JCA] wird eher huxleyisch kontrolliert, behelligt oder verunstaltet: also nicht so sehr durch offene Repression, sondern durch ihre Freigabe, eher durch Stillung bis zur Bewußtlosigkeit, eher durch Ausnutzung als Befriedigungs- und Bindemittel für Unzufriedenheit ganz anderer Art, zum Vorgaukeln der ›Schönen Neuen Welt‹.« (Schmidt 1988, S. 55)
Diese Kommerzialisierung der Sexualität machte vor keiner Branche und keinem Dienstleistungsbereich Halt: »Geschlechtsverkehr als Bestandteil des Geschäftsverkehrs« hatte es Schorsch (1985, S. 8) im Hinblick auf die sich entwickelnden Begleit- und Hostess-Services in der Business-Welt einmal pointiert genannt.
Der große österreichische Philosoph Günther Anders (1902 bis 1992) hat diese Kommerzialisierung, das Zur-Ware-Werden von Sexualität samt der prekären Folgen in seinem epochemachenden Werk »Die Antiquiertheit des Menschen« bereits in den 1950er Jahren vorausgesehen: »Unsere Welt ist, so paradox dies auch klingen mag, ›mit Nacktheit bekleidet‹ – diese Nacktheit verdeckt die wirkliche Welt [...]« (1986, S. 310), schreibt er und deutet hier schon die Pseudoliberalisierung an, als die er diese Liberalisierungsbewegung schließlich einschätzt. In einer angesichts der damaligen Umstände geradezu prophetischen Vision dessen, was da kommen würde, schreibt er weiter, dass wir Tag und Nacht von einer »riesigen Warenrevue« umgeben sein würden. Es entstehe ein »ungeheurer Sklaven- und Sklavinnenmarkt, der in manchen Cities viele Quadratkilometer einnimmt«16 (ebd., S. 311). Der Marktplatz Sexualität sei allgegenwärtig und unentrinnbar, und »wir, die wir als Bürger der kapitalistischen Welt, das heißt als Kunden, den Aufenthalt auf diesen Märkten nicht vermeiden können (denn wo immer wir hintreten, ist Markt), wir stellen nun eine Millionenmenge von Zwangsvoyeurs dar. In solche haben uns die Produzenten, die Warenhausbesitzer und die ›publicity people‹ verwandelt« (ebd.). Damit macht Anders den Zwangscharakter des gesellschaftlichen Vorgangs der Sexualisierung der Warenwelt und das Zur-Ware-Werden der Sexualität deutlich.
Die geschilderten Vorgänge führen wegen des entstehenden Überangebots zu einem Knapp-Werden der Bedürfnisse bzw. einem Schrumpfen der Bedürfnisspanne. Gunter Schmidt (1988) hat diesen Vorgang am Beispiel einer norddeutschen Pils-Werbung über verschiedene Epochen hin sehr gut anschaulich gemacht: Lautete die Werbebotschaft – stets mit dem Bild einer eben geöffneten und weithin spritzenden (ejakulierenden?) Bierflasche – in den 1950er und 1960er Jahren noch »Was gäbe ich für ein kühles Bier«, so hieß der Slogan in den 1970er und 1980er Jahren auf einmal »Durst wird durch Bier erst schön!« und schließlich ab den 1990er Jahren und gegen die Jahrtausendwende hin nur noch »Was gäbe ich für Durst!« (Schmidt 1988, S. 52). Die Werbetexte zeigen sehr schön, wie es zu einer Abnahme der Bedürfnisspanne kommt. Offenbar braucht man wegen des Überflusses an Waren und Anreizen nicht mehr für die eigentliche Bedürfnisbefriedigung zu werben, sondern muss sukzessive vom Produkt weg (»Ein Bier wär’ doch jetzt schön!«) direkt an die Bedürfnisse appellieren (»Wär’ das schön, wenn ich Durst hätte!«), die ansonsten gar nicht mehr geweckt würden. Anders quittiert diesen Gedanken mit einer angesichts des verbreiteten Hungers auf der Welt schauerlichen Analogie aus dem Bereich des Essens: »Nicht um das tägliche Brot werden sie beten, sondern um den täglichen Hunger« (Anders 1986, S. 311).
Diese tiefe kulturkritische Skepsis, wie sie in Anders’ visionärer Kritik anklingt, soll nicht verleugnen, dass sich in den letzten Jahrzehnten tatsächlich auch einiges an Liberalisierungsschüben getan hat: etwa die Akzeptanz von »vorehelicher« und Jugendsexualität (noch vor wenigen Jahrzehnten schwer denkbar), von Masturbation, von Schwul- und Lesbisch-Sein, von anderen sexuellen Minderheiten, rechtliche Veränderungen u. a. m. Allerdings darf dabei – und das ist in Beratung und Therapie sehr relevant – nicht vergessen werden, wie zäh der individuelle Wandel von Einstellungen gerade auf diesen intimen Gebieten sowie bei tief verwurzelten Tabus und stark verinnerlichter Geschlechtereigenschaften sein kann. Viele der »Befreiungsslogans« der 68er-Bewegung, wie etwa der Polygamie-Appell »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment«, sind deshalb mehr oder weniger Geschichte und haben sich als nicht oder schwer lebbar erwiesen. Die Versuche, in Kommunen oder »offenen Zweierbeziehungen« zu leben, wo beide Partner sexuelle Beziehungen zu Dritten oder Vierten haben, sind gescheitert und längst wieder von der Bildfläche verschwunden. »Die Menschen haben sexuell über ihre inneren Verhältnisse gelebt«, hat Schorsch (1987, S. 159) nachträglich einmal zu diesen »Projekten« festgestellt und damit auf diese Trägheit des psychischen Wandels hingewiesen.

3.2 Von der Scheinhaftigkeit der »Befreiung«

Nun gab es – wie angedeutet – schon während der Befreiungsinitiativen der 1960er und 1970er Jahre Kritik und Warnungen vor der Scheinhaftigkeit dieser Befreiung: Herbert Marcuse (1967) prägte den Begriff der repressiven Entsublimierung, der besagt, dass die Freisetzung von Tabus und Zwängen letztlich repressiv sei, weil nur ein Schein von Freiheit innerhalb bestehender Verhältnisse, die dadurch sogar stabilisiert würden, vorgegaukelt werde. Es handelt sich also lediglich um eine kommerzielle Freigabe sexueller Vorlieben, wobei die herrschende politisch-wirtschaftliche Klasse sich eine solche Freigabe leisten kann, weil ihre Interessen dadurch nicht angetastet, sondern unbewusst gemacht würden. Die entsublimierte, nicht mehr auf Triebverzicht setzende Lust werde durch diese Art der Pseudoliberalisierung berechenbarer und damit »kanalisiert« und »einkassiert« (Krauss 1987, S. 202 f.). Zugleich passte diese Art repressiver Vermarktung hin zu konsumatorischer Befriedigung zu einer Entwicklung, in der Einsamkeit und Alleinleben stark im Zunehmen waren: In Großstädten wie Paris oder Hamburg überschritt – gefördert durch die Zunahme an Trennungen und Scheidungen – die Anzahl der Alleinlebenden-Haushalte die 50 %- oder gar 60 %-Marken, und die Verheißungen einer »freien« Sexualität übernahmen die Funktion einer Art »Lückenbüßerin« für allfällige Einsamkeitsdepressionen (ebd.).
Dieser »Aufbruch« aus den verkrusteten Dogmen überkommener Sexualmoral und damit die Aufhebung beziehungsweise Entschärfung sexueller Repression geschah zudem zu einer Zeit, in der – mit Beginn in den 1970er Jahren – wegen der Umbruchsituationen Identitätsthemen eine große Resonanz erhielten (vgl. den Erfolg der Erikson-Bücher damals, etwa Erikson 1973). Beobachter meinten deshalb, dass der schwunghafte »Handel« mit Sexualität auch die Unsicherheiten bezüglich der Identitätsfrage und die »Leerstelle« von Selbstwertproblemen füllen helfen sollte. Sex wurde sozusagen zum Ersatz für identitätsstiftendes Lebensgefühl bzw. ein »Anhängsel« von Identitätslosigkeit (Krauss 1987, S. 205). Glaser sprach vom entsublimierten »Wohlstandssex« als »Versuch, die eigene Leere durch Matrizen künstlicher Leidenschaft auszufüllen« (1985, S. 56), und Alexander Mitscherlich hielt die sexualisierte Befriedigungssuche für einen »kindlichen Befriedigungsversuch, der eigentlich Sicherheit – im Sinne körpernaher Geborgenheit – und Sattheit meint« (1966, zit. n. Krauss 1987, S. 217).
Interessant ist auch die Analyse des damals viel gelesenen Frankfurter Psychoanalytikers und Paartherapeuten Michael Lukas Möller (1985), der in diesem Zusammenhang von kannibalistischer Liebe sprach, bei der die innere Leere vieler Menschen »eine suchtartige neidgetriebene Freßgier, einen Drang zum Verschlingen, zum Inkorporieren« erzeuge, um das aufnehmen zu können, was lebensgeschichtlich fehlt: das anerkennende Objekt (1985, S. 58f.). Weil diese kannibalistische Liebe auch an die Urform der Mutterliebe erinnere, führe sie auch zu unbewussten Ängsten der Partner vor symbiotischer Nähe und zu entsprechender Überforderung, was unzählige Partnerkonflikte hervorrufe – und damals wie heute auch sexuelle Störungen wie Lustlosigkeit, die quasi ein Sich-Entziehen aus diesem Klammergriff darstellen. Möller spricht aber andererseits auch von kapitalistischer Liebe und meint damit jene Kurz- und Schnellform von Beziehungen und Sexualität, die systemkonform dem ständig wechselnden Warenverkehr entspricht: kurz, schnell, effektiv und erfolgreich. Nachdem die aus dieser »Kurzschnellform« entspringende Pseudo-Befriedigung aber stets zutiefst unbefriedigend bleibt, erzeugt sie erst recht wieder einen enormen Hunger nach Zuwendung und Anerkennung und stärkt damit wiederum die Neigung, suchtartig »kannibalistisch« zu lieben (ebd., S. 65): ein tragischer Teufelskreis, der zu andauernder Getriebenheit in Ambivalenz führt.

3.3 Auf dem Weg zur Lustlosigkeit

3.3.1 Sicherheits- statt Lustprinzip

Diese Entwicklung setzt sich bis heute fort – vor allem die Tendenz zu narzisstisch motivierter Partnerwahl und Beziehungsgestaltung, wie sie viele Autoren und Autorinnen damals schon diagnostizierten, ist unverkennbar: Dazu gehört auch die Überfrachtung der Beziehungen mit Sicherheitsbedürfnissen, für die ein einziger Mensch – der oder die Geliebte – geradestehen soll. Angst und Unsicherheit sind ja die vielleicht bedeutendsten Anti-Lustfaktoren überhaupt: Angst wegen der härter werdenden Konkurrenzbedingungen in der »global village«, Angst um die Arbeitsplätze, Angst vor Umweltkatastrophen, vor der Zukunft generell usw.; dies führt dazu, dass immer mehr Menschen ihre Partnerschaften zumindest unbewusst als eine Zufluchtsstätte vor bedrohlicher werdender gesellschaftlicher Kälte empfinden, als »Insel der Menschlichkeit in der Unmenschlichkeit der Arbeitswelt«, wie Schorsch es nannte (1987, S. 10).
Dies führt zu einer hoch aufgeladenen Emotionalisierung von Partnerschaften, in denen die narzisstischen Aspekte von Nähe und Geborgenheit prioritär sind – und weniger sexuelles Begehren und autonomes Subjektsein im Vordergrund stehen. Partnerschaften wurden und werden damit zu einer Art dyadischem »Trostpflaster« gegen existenzielle Verunsicherung: »Das Beziehungsideal geht mehr in Richtung einer symbiotischen Einheit mit gegenseitiger oraler Versorgung, teils mehr in Richtung einer geschwisterlichen Lebensbewältigungsgemeinschaft [...]« (ebd.; Hervh. JCA). Solche Beziehungen werden durch die Überfrachtung mit Anforderungen und Aufgaben, die ihnen zugeschrieben werden, aber auch extrem verletzlich: »Wehe Du bist anders, verunsicherst mich noch mehr!«
Diese geschwisterliche Nähe erstickt das Begehren, wenn dieses nicht schon von vornherein durch die unbewusste »Neuauflage« einer Mutter(Vater)-Kind-Beziehung mehr oder weniger ambivalent und prekär ist. Die triebhaft-aggressiven Impulse, die auch zum sexuellen Begehren gehören, haben in dieser Konstellation keinen oder zumindest keinen bleibenden Platz. Das Ergebnis ist jene vielzitierte Variante von »Kuschelsex«, der zwar als zärtliches Geborgensein-Wollen zu jeder Beziehung gehört, aber unter Abspaltung des Triebhaften aus der Sexualität dann die alleinige Oberhand gewinnt. In einer solchen Atmosphäre »wird die Atemluft für das Sexuelle dünn« (ebd.), bis ihr schließlich ganz die Luft ausgeht. Diese Menschen verstehen sich an sich gut, haben gemeinsame Pläne und Aufgaben (z.B. Hausbau, Firma etc.), wollen sich auch nicht trennen – aber: Es fehlt die Lust. Sie gelten sozusagen als »Prototypen« lustloser Paare, wie sie seit geraumer Zeit immer wieder auch in Beratungsstellen anzutreffen sind.17

3.3.2 Allge...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Einleitung
  7. I Grundlagen und Konzepte
  8. II Kultur – Gesellschaft – Sexualität
  9. III Ein neuer Blick
  10. IV Lernen am Leiden
  11. V Lehrreiche Geschichten aus der Praxis
  12. Literaturverzeichnis
  13. Stichwortverzeichnis