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Lehrereignung – Aufgaben, Probleme, Voraussetzungen und Grundlagen
1.1 Eignungsdiagnostik für angehende Lehrkräfte
Das Für und Wider
Wenn von Lehrereignung gesprochen wird, dann hat man in der Regel die Eignungsabklärung für angehende Lehrkräfte im Auge, die möglichst schon vor dem Studium angestrebt wird. Dies prägt das Verständnis der Eignungsfrage in Bezug auf den Arbeitsplatz Schule. Dabei wird dieses Thema durchaus kontrovers diskutiert. Und so sei eingangs die Frage erörtert: Braucht man überhaupt eine Eignungsdiagnostik für künftige Lehrerinnen und Lehrer?
Man könnte zunächst ins Feld führen, dass ein Lehramtsstudium auch bislang nur unter klar definierten Bedingungen begonnen werden kann (vgl. Füssel, 2014). Kandidaten müssen die allgemeine Hochschulreife besitzen, die je nach Bewerberzahlen und Ausbildungskapazitäten erst ab einem bestimmten Notenschnitt den Zugang zum Studium öffnet. Unter Umständen ist die Studienzulassung sogar noch an das erfolgreiche Durchlaufen spezieller Vorprüfungen geknüpft (etwa bei Interesse an den Fächern Sport, Musik und Kunst). Diese Filter sind zwar weit weniger restriktiv eingestellt als bei anderen Studiengängen (z. B. bei heiß begehrten Numerus-Clausus-Fächern wie Medizin oder Psychologie, in denen ohne Wartezeit und Härtefallregelungen meist nur Einser-Abiturienten zum Zuge kommen), haben aber dennoch Steuerungsfunktion2. In der Entscheidung, eine Bewerbung einzureichen und im Bewilligungsfalle das Studium aufzunehmen, scheint sich zudem eine gewisse Affinität zur Berufsperspektive und zum Fach auszudrücken. Mithin kann ein persönliches Interesse am Ausbildungsgang vermutet werden. Ferner ließe sich – zugegebenermaßen gewagt – argumentieren, dass im Studium selbst zwangsläufig mit einer selektiven Eignungsdiagnostik zu rechnen sei, wenn auch sehr spät: in Form von Abschlussprüfungen. Diese versperrten dann Ungeeigneten zu guter Letzt den Weg in den Beruf.
Trotz dieser Mechanismen der Laufbahnsteuerung (denen es mitunter freilich an Auswahlgerechtigkeit, Systematik und methodischer
Kontrolle mangelt) erübrigen sich nach unserer Überzeugung Anstrengungen um eine wissenschaftliche Eignungsabklärung und -beratung keineswegs – und das aus wenigstens zwei Gründen: Zum einen kann mit Hilfe entsprechender Konzepte und Instrumentarien einer Vergeudung von Ressourcen sowohl auf der institutionellen wie auf der persönlichen Ebene effektiver vorgebeugt werden. Falsche Studienentscheidungen und hohe Abbrecher- oder Berufswechslerzahlen bedeuten eine Verschwendung wertvoller Lebenszeit, sind ein enormer Kostenfaktor und erzeugen oft einen großen Leidensdruck bei denjenigen, die mit ihren Berufsplänen scheitern, und ihrem privaten Umfeld (vgl. Henecka & Gesk, 1996; Heublein, Schmelzer & Sommer, 2008). Zweitens bürgt die Bewältigung akademischer Anforderungen, dokumentiert durch den Eignungsindikator
Abschlussnote, nur bedingt für Erfolg und Zufriedenheit in der späteren Berufsausübung. Nach Befunden der Potsdamer Lehrerstudie leidet z. B. fast jeder dritte in der Schule tätige Pädagoge unter Erschöpfungssymptomen, Unzufriedenheit mit der Berufswahl und Überforderungsgefühlen (
Kap. 5 sowie Schaarschmidt 2005; Schaarschmidt & Kieschke 2013; Kieschke & Schaarschmidt 2008).
Erstaunlich viele Lehramtsstudierende zeigen sich schon vor dem Eintritt in die Berufspraxis verunsichert: Zwischen 13 und 26 % schwanken Schätzungen zur Gruppengröße derer, die an der Richtigkeit ihres Studienentschlusses zweifeln (Rothland, 2011, S. 291). Und das ist kein deutsches Phänomen – internationale Vergleichsstudien berichten ähnliche Trends (vgl. Daniels et al., 2006). Bei all dem ist noch etwas anderes im Auge zu behalten: Die Berufswahl einer Person hat Konsequenzen, die über die Belange des Laufbahnanwärters selbst hinausreichen (vgl. Bergmann, 2004). Sie wirkt bei Tätigkeitsaufnahme auch auf das Arbeitsumfeld und dessen Mit-Akteure. Das klingt zunächst trivial, hat große Brisanz aber gerade im Lehrerberuf. Lehrkräfte beeinflussen auf substanzielle Weise die Lern- und Entwicklungschancen ihrer Schüler und Schülerinnen (vgl. z. B. Rowan, Correnti & Miller, 2002; Hattie & Yates, 2014; Nye, Konstantoupolos & Heedges, 2004; Seidel & Shavelson, 2007). Berücksichtigt man, dass jede einzelne Lehrkraft in ihrer Berufsbiographie Hunderte von Kindern und/oder Jugendlichen unterrichten wird, erschließt sich unmittelbar, warum das Thema »Eignung für den Lehrerberuf« seit einigen Jahren verstärkt in den Fokus der Forschung rückt – national wie international (vgl. Boeger, 2016; Terhart, Bennewitz & Rothland, 2014; Bolle, 2014; Schaarschmidt & Kieschke, 2007; Kieschke, 2015; Watt & Richardson, 2008). Anliegen kann es dabei nicht nur sein, unpassende Kandidaten auszusieben. Mindestens genauso wichtig wäre es, geeignete Personen für eine pädagogische Berufsperspektive zu gewinnen. Eignungsdiagnostik kann diesen Prozess befördern, wenn sie planvoll in Rekrutierungsstrategien eingebunden und frühzeitig auch zur individualisierten Information genutzt wird (vgl. Kubinger, Frebort & Khorramdel, 2012).
In Ansätzen geschieht das bereits. Viele eignungsdiagnostische Angebote brechen mittlerweile mit der klassischen Engführung auf reine Selektionsziele. Großen Raum nimmt mehr und mehr die Beschreibung des künftigen Tätigkeitsfeldes ein. Indem man bei der Verfahrensgestaltung betont auf die Transparenz von Anforderungsstrukturen und die adressatengerechte Rückmeldung von Ergebnissen setzt, wird das Leistungsspektrum von Eignungsdiagnostik bewusst auf Aspekte wie Aufklärung und Beratung ausgeweitet. Verschiedene Selbsterkundungsbögen informieren den Probanden beispielsweise explizit über die Relevanz eines bestimmten Verhaltensmerkmals, das im Verfahren getestet wird (
Kap. 2 sowie Nieskens, Mayr & Meyerdierks, 2011). Gelangen einschlägige Instrumente schon im Rahmen der allgemeinen Berufsorientierung zum Einsatz, wird das helfen, die Wissensbasis für die Prüfung eigener Wünsche und Vorhaben beizeiten zu verbreitern. Es dürfte noch aus einem anderen Grunde von Vorteil sein, tätigkeitsspezifische Eignungsdiagnostik in einer sehr frühen Phase der Entscheidungsfindung anzusiedeln: Je eher Betroffene über Defizite oder Passungsprobleme im Bilde sind, desto schneller und komplikationsärmer kann über Gegenstrategien nachgedacht werden. Vorstellbar wäre bei Bedarf eine große Bandbreite von Optionen: vom individuell zugeschnittenen Coaching über studienbegleitende Praxistrainings bis hin zum Entschluss, andere Berufsziele anzupeilen (vgl. a. Lehberger & Schaarschmidt, 2009).
Eignungsdiagnostik wird einen solchen Beratungs- und Aufklärungsanspruch allerdings nur dann einlösen können, wenn sie auf gründlicher Kenntnis der Spezifika des Zielberufes fußt: Welche Aufgaben sind zentral und unter welchen persönlichen Voraussetzungen wird man ihnen am ehesten gerecht? Bleiben Antworten hierauf allzu vage und unkonkret, steigt die Gefahr, am beruflichen Anforderungsprofil, an den Realitäten des Arbeitsplatzes »vorbeizudiagnostizieren«.
Voraussetzungen und Besonderheiten eignungsdiagnostischer Aussagen
Eine seriöse Eignungsdiagnostik muss auch die Voraussetzungen und Besonderheiten deutlich machen, auf die sich ihre Aussagen gründen. Skepsis und Ablehnung bezüglich der Eignungsdiagnostik – und das gilt generell, für lehrerbezogene Aussagen aber vielleicht besonders – haben oftmals auch damit zu tun, dass einige ihrer Prämissen nicht ausreichend beachtet und damit u. U. falsche Erwartungen an die Aussagekraft eignungsdiagnostischer Urteile geknüpft werden. Es seien dazu einige grundsätzliche Anmerkungen festgehalten (vgl. Kieschke, 2015; ausführlicher zu den einzelnen Aspekten: Schmidt-Atzert & Amelang, 2012; Krohne & Hock, 2015).
Eignungsaussagen sind Wahrscheinlichkeitsaussagen
Eignungsdiagnostiker hantieren ausdrücklich mit Wahrscheinlichkeitsaussagen. Sie fällen keine apodiktischen Urteile (»Hopp oder Top!«); sie äußern sich zur relativen Passung zwischen Person und Tätigkeit und suchen gemäß wissenschaftlicher Argumentationsstandards plausible Handlungsempfehlungen abzuleiten (besagte Argumentationsstandards und Qualitätsdesiderate sind inzwischen in einer DIN-Norm verankert: der DIN 33430, vgl. Kersting, 2008). Dass solche Abwägungsprozesse am Ende sehr wohl in kategoriale Entscheidungen einmünden (z. B.: Arbeitsvertrag ja oder nein), ändert nichts an der Wahrscheinlichkeitsnatur eignungsdiagnostischer Auskünfte, veranschaulicht aber sinnfällig, dass pragmatische Festlegungszwänge und Ansprüche an die klare Verwertbarkeit begründeter Urteile durch wissenschaftstheoretische Prinzipienverweise kaum auszuhebeln sind. Das ist auch gut so, sonst käme man an kein Ende: Eignungsdiagnostik ist eine Anwendungsdisziplin und deshalb durch die Gravitationskräfte konkreter Problemstellungen (»Welcher Bewerber wird der zum Termin X verfügbaren Stelle am ehesten genügen?«) mitbestimmt.
Eignungsdiagnostische Verfahren müssen Gütekriterien genügen
Die Güte diagnostischer Verfahren bemisst sich nach drei Hauptkriterien, die hierarchisch aufeinander aufbauen (zur empirischen Schätzung der betreffenden Indikatoren und zur Diskussion verschiedener Nebengütekriterien vgl. Schmidt-Atzert & Amelang, 2012; Moosbrugger & Kelava, 2012).
Das Merkmal Objektivität bildet das Fundament dieser hierarchischen Struktur. Objektivität meint dabei schlicht die Testleiterunabhängigkeit der Messresultate. Jeder Proband absolviert demnach den psychologischen Test unter vergleichbaren Bedingungen und Auswertungskonditionen (Aufgabenmaterial, Instruktionen, eventuelle Zeitbeschränkungen, Interpretationsschlüssel etc. sind für alle Untersuchungsteilnehmer identisch)3. Ob Testleiter X, Y oder gar ein Computerprogramm die Durchführung, numerische Aufbereitung und die Übersetzung der erreichten Ergebnisse in Sachbescheide (»Die Testergebnisse liegen im Normalbereich bzw. sind über- oder unterdurchschnittlich …«) verwaltet, sollte unerheblich sein.
Ist Objektivität im gerade umrissenen Sinne nachgewiesen, bleibt die Reliabilität des Verfahrens zu prüfen. Dieses zweite Gütekriterium beschreibt die formale Exaktheit und technische Verlässlichkeit der Merkmalserfassung, ohne die inhaltliche Frage zu berühren, ob eine Messung das intendierte Phänomen auch wirklich abbildet. Reliabilität zeigt lediglich an, wie gut Messergebnisse unter sonst gleichen Bedingungen reproduzierbar sind, ob also mit einem Test einmal festgestellte Personenunterschiede bei neuerlicher Untersuchung der gleichen Personengruppe mit demselben Verfahren ähnlich wieder sichtbar werden. Verfiele man z. B. auf die immerhin preiswerte und zeitsparende Idee, Intelligenzdiagnostik mit einem Zentimeter-Maß zu betreiben, dann wären die so erhobenen Daten zumindest reliabel (die heute beobachteten Größenunterschiede in Kopfumfang oder Längenwachstum sind in derselben Stichprobe mit hoher Wahrscheinlichkeit morgen oder übernächste Woche wiederzufinden; die Rangfolge der Untersuchten in der Messtabelle dürfte sich kaum wesentlich umsortieren). Herbe Kritik schlüge allerdings demjenigen entgegen, der solche Körpergrößen-Messungen als Aussagen über die Intelligenz der Untersuchten lesen wollte. (Wissenschaftsgeschichtlich gab es durchaus derartige Versuche: z. B. in der von Gall und Spurzheimer Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelten Phrenologie, einem Ansatz, der physische Merkmale des Schädels in psychologische Diagnosen ummünzte; vgl. Hagner, 2004).
Die Frage, ob solche inhaltlichen Bezugnahmen sinnvoll sind, ob tatsächlich gemessen wurde, was gemessen werden sollte, beschäftigt den Diagnostiker unter dem Stichwort Validität. Mit Studien zur Validität wird der Gültigkeitsrahmen für diagnostische Befunde genauer abgesteckt. Man will hier wissen, welcher Informationsgehalt einem bestimmten diagnostischen Resultat überhaupt zugetraut werden kann (vgl. Borsboom, Mellenbergh & van Heerden, 2004). Erlaubt es Rückschlüsse auf den ursprünglich fokussierten Verhaltensbereich? Es leuchtet sofort ein, dass Validität das entscheidende Gütekriterium eines Verfahrens ist (zumal es Objektivität und Reliabilität ohnehin voraussetzt). Der schönste Eignungstest ist nichts wert, wenn er mit dem eigentlich angezielten Inhaltsfeld nur wenig zu tun hat.
Eignungsdiagnostik baut auf Vergleichen auf, deren normative Grundlage jeweils klar sein sollte
Eignungsdiagnostik beruht wesentlich auf Vergleichen. Das impliziert für jede Verfahrensentwicklung eine doppelte Frage: Hinsichtlich welcher Merkmale soll jemand mit welcher Referenzgruppe verglichen werden? Die zwei Teile der Frage sind auf unterschiedliche Arten von Stichproben ausgerichtet: zum einen auf Merkmalsstichproben, also eine Auswahlmenge eignungsrelevanter Indikatoren aus der Vielzahl psychologischer Beschreibungsmöglichkeiten, und zum anderen auf Personenstichproben, also eine Auswahlmenge von Untersuchungsteilnehmern, deren Datenprofil dann als Maßstab für die Einordnung des individuellen Testergebnisses dient. Als Bezugspunkte kämen prinzipiell auch Sachkriterien in Betracht, die vorab festgelegt wurden (vgl. Klauer, 1987).4 Statt soziale Vergleiche anzustellen (etwa gemäß der Leitfrage: Gehört jemand zu den besten 10 % der Referenzstichprobe?), rasterte man die Testergebnisse jetzt nach einem einheitlichen Bewertungsschema, wie es z. B. für die Zensurenvergabe bei Klausuren üblich ist. Sind mindestens 95 % der Aufgaben richtig gelöst, wird mit »1« benotet; 94 % bis 82 % richtige Antworten entsprechen einer »2« etc. In eignungsdiagnostischen Kontexten ist es aber zuweilen schwierig, verbindliche Grenzwerte nach Vorbild der Notenvergabe zu fixieren. Ab wann hätte man z. B. den Persönlichkeitstest gerade noch bestanden, gewissermaßen mit »Vier minus«? Eignungsurteile sind zwingen...