1 Risikobewertung bei Stalking
1.1 Theoretischer Hintergrund
Gewalt und Aggression sind keine neuzeitlichen Phänomene. Dennoch entstanden validierte Ansätze und Instrumente zur strukturierten Risikobewertung erst in den letzten 25 Jahren. Dies geschah, nachdem Monahan (1981) festgestellt hatte, dass Risikoprognosen von Psychologen und Psychiatern eine hohe Fehlerquote besaßen. Wie in anderen Bereichen der psychologischen und medizinischen Beurteilung wurde deutlich, dass unstrukturierte klinische Ansätze das individuelle Gewalt- und Aggressionsrisiko der Patienten nur sehr ungenau abschätzen können (Grove & Meehl, 1996).
In der Folge wurden deshalb diejenigen Faktoren empirisch untersucht, die bei Inhaftierten und Patienten besonders stark mit zukünftigem gewalttätigem Verhalten korrelierten. Auf Basis dieser Studien konnten robuste Prädiktoren für gewalttätiges Verhalten identifiziert werden, die wiederum die Entwicklung der strukturierten Risikobewertung ermöglichten.
Die verschiedenen Risikofaktoren lassen sich in statische (generell unveränderbare) und dynamische (potentiell veränderbare) Prädiktoren unterteilen. Um das Gewaltrisiko abzuschätzen, finden sich entsprechend der Vielzahl der Prädiktoren auch verschiedene Instrumente (Douglas & Skeem, 2005). Sie lassen sich grundsätzlich in aktuarische (nomothetische) und standardisierte klinische (idiographische) Instrumente unterteilen.
Die Effektstärke der Instrumente zur Beurteilung des Gewaltrisikos ist etablierten Tests in anderen medizinischen und psychologischen Disziplinen mindestens ebenbürtig (Douglas & Webster, 1999) und übersteigt damit das Zufallsniveau deutlich.
Typischerweise zeigen Studienergebnisse, dass die als Hochrisikofälle identifizierten Personen in 80% auch tatsächlich Gewalttaten begehen (Ogloff & Davis, 2005).
Dennoch sollte der Untersucher sich im individuellen Fall nicht ausschließlich auf die Vorhersage eines solchen Instruments verlassen.
»So wenig wie wir dazu heute in der Lage sind, werden wir wahrscheinlich niemals mit Sicherheit feststellen können, welche Personen in Zukunft gewalttätig werden und welche nicht. Empirisch validierte Risikofaktoren erlauben uns jedoch festzustellen, in welchem Ausmaß die zu Beurteilenden die Faktoren von Anderen teilen und sie ermöglichen uns somit, eine Beziehung zu ihrem eigenen Risikoprofil herzustellen.«
(Mullen & Ogloff, 2009, S. 1991)
Die Aufgabe der Risikobewertung ist es also, möglichst exakt zu evaluieren, in welchem Ausmaß die validierten Risikofaktoren hinsichtlich der spezifischen Fragestellung tatsächlich vorliegen.
In den letzten 15 Jahren wurde eine Vielzahl von Instrumenten zur Risikobewertung zukünftiger Gewaltdelikte und zur Abschätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit entwickelt. Diese lassen sich, wie bereits erwähnt, in zwei Kategorien einteilen. Eine kurze Aufzählung von relevanten Instrumenten findet sich in Tabelle 1. Zusätzlich zu diesen Instrumenten gibt es auch rein aktuarische (nomothetische) Instrumente.
Die aktuarischen (nomothetischen) Instrumente basieren ausschließlich auf der statistischen Beziehung zwischen Risikofaktoren und der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Gewalt. Dieser Ansatz ist, abgesehen von der klinischen Erhebung der Risikofaktoren selbst, rein mechanistisch (Ogloff & Davis, 2005; Quinsey, Harris, Rice & Cormier, 2006). Kliniker können, wenngleich dies nicht allgemein empfohlen werden kann, die aktuarisch ermittelte Risikowahrscheinlichkeit im Einzelfall adjustieren (adjustierte aktuarische Prädiktion).
Die Strukturierte Klinische Beurteilung (SKB) ist ein Entscheidungsmodell, das die Grundlage für viele erfolgreiche Risikobeurteilungsinstrumente bildet (Douglas, Ogloff & Hart, 2003). Dieses Modell basiert selbst auf validierten empirischen Untersuchungen und bietet Richtlinien zur systematischen und strukturierten Einzelfallanalyse. Dabei erlaubt es dem Untersucher, flexibel auf individuelle Charakteristika einzugehen.
Die Richtlinien der SKB inkorporieren außerdem moderne Konzepte im Feld der Risikobeurteilung. Diese berücksichtigen auch andere Risikoaspekte, wie zum Beispiel die Dauer, die Art, den Schweregrad und den Grad der Unmittelbarkeit der Bedrohung, sowie die Person des Opfers und den Umgang mit dem Täter selbst (Ogloff & Davis, 2005).
Werden im SKB-Modell Prognosen getroffen, sind diese (1) relativ, d. h. vergleichend zu Anderen in ähnlichen Umständen (2) ohne numerischen Wert (3) generell deskriptive, aktionsbezogene Kategorien (niedrig, mittel, hoch), die (4) mit dem Ausmaß an zu erwartenden gewaltpräventiven Interventionen in enger Verbindung stehen und teilweise auch durch sie definiert werden, sowie (5) auf dem Vorhandensein von Risikofaktoren im vorliegendem Fall basieren.
Es wird diskutiert, ob im praktischen Alltag aktuarische oder standardisierte klinische Instrumente zu bevorzugen sind. Aus Sicht der Autoren ist dies eine größtenteils unsinnige Debatte, da für beide Ansätze eine ausreichende Evidenz besteht.
Aktuarische Instrumente eignen sich zur orientierenden Einschätzung des Baseline-Risikos. Sie beziehen sich auf eine geeignete Vergleichsgruppe und basieren daher auf dem statistischen Zusammenhang zwischen Risikofaktor und zukünftiger Gewalt (d. h. die im individuellen Fall vorliegenden Risikofaktoren sind mit denen einer Vergleichsgruppe verwandt oder identisch, die wiederum ein bestimmtes Risiko X für zukünftige Gewaltdelikte aufweist). Es bleibt festzuhalten, dass eine exakte Vorhersage eines bestimmten Risikos für den individuellen Probanden
Art des Deliktes/der Gewalttat Instrument zur Risikobewertung
Tab. 1.1: Instrumente zur Risikobewertung verschiedener Straftaten/Gewalt
auf Basis von Gruppenvergleichen nicht möglich ist (im Sinne von: »Die beurteilte Person besitzt ein Risiko X«).
Aus unserer Sicht sind validierte SKB-Instrumente hilfreich, da sie sowohl eine Risikoeinschätzung erlauben, als auch zum Verständnis der relevanten Faktoren beitragen. Diese Informationen helfen wiederum im Umgang mit dem erhöhten Risiko des Einzelnen, da an den nun identifizierten Faktoren fokussiert gearbeitet werden kann.
Das Ziel einer jeden Risikobewertung ist das individuelle Risikomanagement. Hierfür eignen sich in erster Linie die dynamischen (variablen) Risikofaktoren, da präventive Ansätze nur unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Risikos entwickelt werden können.
Diesbezüglich konnte Mullen (2000) zeigen, dass Stalkingopfer am wirksamsten geschützt werden können, wenn der Untersucher die individuellen und veränderbaren Risikofaktoren identifiziert und den Stalker bei einer diesbezüglichen Verhaltensänderung unterstützt. Für mittel- und langfristige Vorhersagen können hingegen auch statische Risikofaktoren (biographisch/invariabel) verwendet werden.
1.2 Wie passt das Stalking Risk Profile ins allgemeine Feld der Risikoforschung?
Das Feld der Risikoforschung entwickelte sich in den letzten 20 Jahren stark weiter. In ähnlicher Weise wuchs die Erfahrung im Umgang mit Stalkern und ihren Opfern (Mullen, Pathé & Purcell, 2009). Wir wissen nun mehr über die einzelnen Faktoren, die bei der Beurteilung des individuellen Risikos für wiederholtes Stalking und stalkingassoziierter Gewalt wichtig sind (Mullen et al., 2006).
Die aktuellen Instrumente zur Beurteilung eines allgemeinen Gewaltrisikos sind jedoch ungeeignet, um das Risiko für stalkingassoziierte Gewalthandlungen adäquat beurteilen zu können. Es ist somit ein Instrument notwendig, das ausschließlich auf stalkingspezifischen Risikofaktoren basiert.
Es sei zunächst darauf hingewiesen, dass parallel zur Entwicklung des Stalking Risk Profile (SRP) ein weiteres ähnliches Instrument entstanden ist: Das Stalking Assessment and Management (SAM, Kropp, Hart & Lyon, 2008). Die Autoren des vorliegenden Manuals sind jedoch der Ansicht, dass das SRP für klinisch tätige Ärzte und Psychologen angemessener und nützlicher sein kann, da es auf zahlreichen Studien mit vielen hunderten Stalkern und Opfern basiert (MacKenzie, Mullen, Ogloff, McEwan & James, 2008; McEwan, Mullen & MacKenzie, 2009; McEwan, Mullen & MacKenzie, 2010; McEwan, Mullen, MacKenzie & Ogloff, 2009; Mullen & Martin, 1994; Mullen & Pathé, 1994; Mullen, Pathé & Purcell, 2001; Mullen, Pathé et al. 2009; Mullen, Pathé, Purcell & Stuart, 1999; Pathé & Mullen, 1997; Pathé, Mullen & Purcell, 2000, 2002; Purcell, Moller, Flower & Mullen, 2009; Purcell, Pathé & Mullen, 2001, 2002; Purcell, Pathé & Mullen, 2004; Thomas, Purcell, Pathé & Mullen, 2008; Warren, MacKenzie, Mullen & Ogloff, 2005).
Ergebnisse unserer Studien stellen eine enge Beziehung zwischen dem jeweiligen Risiko und dem Stalkertypus her. Aus diesem Grund ist das SRP mit der von Mullen et al. entwickelten Stalkertypologie verknüpft (Mullen et al., 1999).
1.3 Warum ist es notwendig, ein auf Stalking zugeschnittenes Risikobewertungsinstrument zu entwickeln?
Mit dem stetig zunehmenden Bekanntheitsgrad von Stalkern und ihren Opfern wuchs auch die Notwendigkeit für eine exakte und effektive Risikobeurteilung. Wie andere forensische Dienste versuchten sich auch die Autoren dieses Manuals, in der Beurteilung der Stalker zunächst an bestehenden Richtlinien zu orientieren. Dabei traten jedoch bald unterschiedliche Probleme auf. Aktuarische Instrumente wie der STATIC-99 (Harris, Phenix, Hanson & Thornten, 2003), der VRAG (Quinsey, Harris, Rice & Cormier, 1998), das ODARA (Hilton et al., 2004), aber auch strukturierte klinische Instrumente wie das HCR-20 (Webster et al., 1997), die PCL-R (Hare, 2003), das RSVP (Hart et al., 2003) und der SARA (Kropp et al., 1999) wurden auf Basis bekannter statischer und dynamischer Risikofaktoren zur Beurteilung des zukünftigen Risikos für physische, sexuelle und/oder häusliche Gewalt entworfen.
Während einige dieser Instrumente in der Beurteilung mancher Fälle von Nutzen waren, führten sie in anderen Fällen aber zur Unter- oder Überschätzung des stalkingassoziierten Gewaltrisikos und waren daher nicht zur abschließenden Risikobeurteilung geeignet. Instrumente zur Beurteilung von innerehelicher Gewalt unterschätzten die zum Teil erheblichen Konsequenzen für Opfer, die vor der Stalkingepisode nicht mit dem Stalker zusammenlebten. Andere Risikofaktoren schätzten das Risiko in bestimmten Zusammenhängen als zu hoch, in anderen als zu niedrig ein oder besaßen Implikationen, die sich nicht auf das Stalking übertragen ließen. Im Gegensatz zur Risikobeurteilung der allgemeinen Gewalttätigkeit konnte beim Stalking keine Assoziation zum Geschlecht nachgewiesen werden und eine vorhandene geistige Erkrankung senkte das Gewaltrisiko bei Stalkern sogar. Eine Beziehungsinstabilität war bei Stalkern hingegen so häufig zu finden, dass sie eine nur noch sehr geringe Trennschärfe besaß.
Des Weiteren vernachlässigen Instrumente zur Risikobewertung stalkingunabhängiger Gewalthandlungen die Erfassung der kontextuellen Bedingungen des Stalkings. So spielt die Beziehung zwischen Opfer und Stalker, ob real oder fiktiv, erwiesenermaßen eine zentrale Rolle für die Eintrittswahrscheinlichkeit von zukünftigen stalkingassoziierten Gewalttaten. Kropp, Hart und Lyon (2002) konnten zeigen, dass die Kenntnis und vor allem das genaue Verständnis der individuellen Beziehung wichtige Voraussetzungen für eine adäquate Bewertung stalkingassoziierter Gewalttaten sind. Anders als bei vielen stalkingunabhängigen Formen der Gewalt sind stalkingassoziierte Gewalttaten dadurch gekennzeichnet, dass der Kreis möglicher Opfer in manchen Fällen bereits im Voraus eingrenzbar ist. Stalking ist in vielen Fällen auch durch langandauernde Nachstellungen charakterisiert, die in ihrer jeweiligen Ausprägung und Intensität deutlich fluktuieren können. Ebenso variiert das damit verbundene Risiko für stalkingassoziierte Gewalttaten.
Kropp, Hart und Lyon (2008) versuchten einige der hier beschriebenen Unzulänglichkeiten in bereits etablierten Instrumenten zu berücksichtigen. Das von ihnen entwickelte SAM wurde in Anlehnung an andere Instrumente wie das RSVP oder das SARA (die von denselben Autoren stammen) entworfen. Das SAM wuchs von einem systematischen Review der relativ spärlichen Literatur zu einem Instrument der Risikobewertung bei Stalking heran und soll dem Rechts- und Gesundheitssystem, aber auch dem Sicherheitspersonal helfen, mit Stalkern und ihren Opfern umzugehen.
Es beinhaltet Fragen zum Schweregrad, zum Risiko drohender Gefahr und zur Dauer und Frequenz des Stalkings beim Indexfall. Ebenso kann das Risiko einer anhaltenden Gefahr und die Wahrscheinlichkeit von zukünftigem Stalking evaluiert werden.
Stalking wird von den Autoren des hier vorliegenden Manuals etwas anders betrachtet. Beim Stalking handelt es sich unserer Auffassung nach um ein bestimmtes Muster von Verhaltensweisen und Einstellungen, welche wiederum mit psychologischem und sozialem Schaden für Opfer und Täter einhergehen können.
Als Kliniker mit begrenzter Zeit und limitierten Ressourcen ist es unsere Absicht, einen einzelnen, verständlichen und umfassenden Leitfaden zu entwickeln, der dabei hilft, die spezifischen Kausalfaktoren des Stalkings zu identifizieren, sowie Therap...