Psychoanalytische Heilpädagogik
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Psychoanalytische Heilpädagogik

Ein systematischer Überblick

  1. 237 Seiten
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Psychoanalytische Heilpädagogik

Ein systematischer Überblick

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Über dieses Buch

Psychoanalytische Erkenntnisse haben sich in der behindertenpädagogischen Theorie und Praxis in vielfältiger Weise niedergeschlagen. Vor allem die psychoanalytische Persönlichkeits-, Entwicklungs- und Beziehungstheorie wurde dabei breit von der Behindertenpädagogik rezipiert und für die Diagnostik, die Beratung, die Förderung und Therapie genutzt. Zusammen mit den neuesten Erkenntnissen aus der Säuglings-, Bindungs-, der Affekt- und Hirnforschung haben psychoanalytische Erklärungsansätze nicht nur zu einer neuen Auffassung von Störung und Behinderung geführt, sondern auch neue Perspektiven auf Entwicklungschancen und -risiken eröffnet. Seit den 1970er Jahren wurden eine Reihe von theoretischen und praktischen Konzepten einer Psychoanalytischen Heilpädagogik vorgelegt, allerdings kaum in eine umfassende und konsistente Form gebracht. Das Buch will in Weiter- und Zusammenführung dieser Arbeiten (und vor dem Hintergrund neuester Entwicklungen in Heilpädagogik und Psychoanalyse) die Grundlagen für eine Heilpädagogik ausführen, die sich psychoanalytische Einsichten und Erkenntnismethoden auch in der Praxis zunutze macht.

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Information

Jahr
2009
ISBN
9783170277762

1 Zu Geschichte und Aktualität der Heilpädagogik

1.1 Ein kurzer Blick in die Vergangenheit

Im Folgenden möchte ich mich der Liaison zweier Disziplinen zuwenden, die beide ein ähnliches Schicksal mangelnder Reputation von Seiten ihrer übergeordneten erziehungs- bzw. humanwissenschaftlichen Scientific Community erleiden: der Heilpädagogik und der Psychoanalyse. Eine Verknüpfung beider gibt es seit Alfred Aichhorns bahnbrechendem Werk „Verwahrloste Jugend“ aus dem Jahre 1925. Im Geleitwort dazu verlangt Sigmund Freud zum einen nach einer psychoanalytischen Schulung des Erziehers, „weil ihm sonst das Objekt seiner Bemühung, das Kind, ein unzulängliches Rätsel bleibt“ (vgl. Freud 1977, 8). Zum andern betont er die Eigenständigkeit der Erziehungsarbeit, die nicht mit einer psychoanalytischen Beeinflussung verwechselt werden dürfe. An anderer Stelle macht er das Interesse der Pädagogik für Psychoanalyse darüber kenntlich, dass ein Erzieher „nur sein kann, wer sich in das kindliche Seelenleben einfühlen kann, und wir Erwachsenen verstehen die Kinder nicht, weil wir unsere eigene Kindheit nicht mehr verstehen“ (vgl. Freud 1970 a, 128).
Die Heilpädagogik hat im Laufe ihrer Geschichte eine tiefgreifende Wandlung erfahren, ob der Begriff des Paradigmenwechsels tatsächlich zutrifft, bleibt umstritten (vgl. Bürli 2005, Cloerkes 2001, Hillenbrandt 1999, Mand 2003). So lassen sich ideengeschichtlich die folgenden Modelle voneinander abheben:
  • karitatives Paradigma – Behinderung als gottgewolltes Schicksal, das nach hingebungsvoller Liebestätigkeit verlangt;
  • humanistisches Paradigma – Behinderung als Ausdruck von Menschsein, das nach erzieherischen Hilfen zur Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung verlangt;
  • exorzistisches Paradigma – Behinderung als Besessenheit, die nach Austreibung oder erfahrungswissenschaftlich basierter Beseitigung verlangt;
  • Rehabilitations-Paradigma – Behinderung als Funktionsverlust oder Defekt, denen mit gezieltem Funktionstraining begegnet wird;
  • personorientiertes Paradigma – Behinderung als individuelles Merkmal, welchem mit defektspezifischen Maßnahmen zu begegnen ist;
  • interaktionistisches Paradigma – Behinderung als soziale Kategorie; Interventionen sind an Interaktion, Kommunikation und Bedürfnissen zu orientieren;
  • systemorientiertes Paradigma – Behinderung als Produkt einer Systemrationalität;
  • gesellschaftstheoretisches Paradigma – Behinderung als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, dem mit Solidarisierung, Gesellschaftsveränderung und kritischer Aufklärung zu begegnen ist (vgl. Bürli 2005, 73f).
Einig ist man sich darin, dass die Veränderungen und Diskussionen zu mehr oder weniger großen Verunsicherungen geführt haben. Dennoch hat der emphatische Anspruch von Paul Moor, einem der großen Heilpädagogen seiner Zeit, bis heute für uns alle nichts von seiner Gültigkeit verloren: „Heilpädagogik ist diejenige Pädagogik, welche vor die Gesamtzahl der über das Durchschnittsmaß hinausgehenden Erziehungsschwierigkeiten gestellt ist.“ Seiner Frage: „Was heißt Erziehung angesichts der eingeschränkten Lebensmöglichkeiten eines entwicklungsgehemmten Kindes?“ wird unter Einbeziehung aktueller Tendenzen nachzugehen sein (vgl. Moor 1969, 260ff).
Eingeführt wurde der Begriff in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch bereits 1861, doch erst in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind Bemühungen zu ihrer Begründung als eigenständiger Wissenschaft zu beobachten. Und nicht vor den siebziger Jahren kam man überhaupt auf die Idee, die gesellschaftliche Einbettung des Phänomens einer Behinderung in den Blick zu nehmen (vgl. Gerspach 2008a). Inzwischen liegen in Abkehr von einer rein defizitorientierten Sicht eine Vielzahl neuerer Erkenntnisse vor, die die Selbstentwicklung unterstützende Perspektiven eröffnen. Der Begriff der Menschenwürde ist primär dadurch bestimmt, dass er den Menschen vor Diskriminierung schützt. Würde „als jene des nichtknechtischen Subjekts“ setzt an der Überwindung des Defizitdenkens an, indem jene „soziale Problemlagen“ in den Mittelpunkt gestellt werden, die defizitär sind. „Der Begriff des Defizits wird also in die soziale Situation verlagert, die Naturalisierung am Individuum als Defizit wird aufgebrochen (...) Behinderung ist eine gesellschaftliche Konstruktion. Das heißt keineswegs, dass es nicht gewisse Besonderheiten der Natur gäbe (...)“ (vgl. Jantzen 2008, 230ff). Mit Speck und Bürli könnte man festhalten, dass die Heilpädagogik gekennzeichnet ist durch eine „anthropologisch ganzheitliche Orientierung, die einer drohenden personalen und sozialen Desintegration begegnet und Lebenssinn erschließt“ (vgl. Bürli 2005, 68; Speck 2003, 32 f).
Vor allem angestoßen durch Aloys Leber wurde seit den siebziger Jahren eine Reihe von theoretischen und praktischen Konzepten einer Psychoanalytischen Heilpädagogik vorgelegt, allerdings bis auf wenige Ausnahmen (vgl. etwa Fröhlich 1994) kaum in eine umfassende, konsistente Form gebracht. Leber kann als Begründer der Psychoanalytischen Heilpädagogik gelten. In Weiterführung wie Zusammenführung dieser Arbeiten und angeregt durch interessante Entwicklungen in Heilpädagogik und Psychoanalyse in jüngster Zeit soll nun diese Verbindung auf eine solide und konsistente Basis gestellt werden.
Zudem sei sogleich darauf hingewiesen, dass die Psychoanalytische Heilpädagogik seit ihren Anfängen auf einen großen Widerstand trifft. Von konservativer Seite wurde ihr gesellschaftskritischer Ansatz scharf attackiert, die Richtung der materialistischen Behindertenpädagogik warf ihr wiederum vor, die klassenspezifische Sozialisation zu vernachlässigen, so dass sie nur eine Spielart bürgerlicher Wissenschaft sei (vgl. Gerspach 1987, 135). Aktuell beharrt etwa Jantzen, dem ansonsten große Verdienste um eine kritische Aufarbeitung der Heilpädagogik zukommen, noch immer darauf, dass nur dreimal in der Geschichte der Behindertenpädagogik – nämlich durch Séguin, Vygotskij und ihn selbst – herausgearbeitet worden sei, dass nicht der so genannte Defekt der körperlichen Schädigung die Behinderung hervorbringt, sondern die dadurch hervorgebrachte soziale Isolation und unterschlägt damit u.a. die bahnbrechenden Leistungen von Aloys Leber oder Helmut Reiser (vgl. Jantzen 2008, 232). Auch die umfangreiche Prospektivstudie von Bürli verweist ein einziges Mal auf den tiefenpsychologischen Ansatz, nennt aber keine Vertreter/innen dieser Richtung (vgl. Bürli 2005, 53).
Der Psychoanalyse – jetzt mit Blick auf ihre Rolle als übergeordnete Referenztheorie wie -praxis einer Psychoanalytischen Heilpädagogik – erleidet seit alters her ein ähnliches Schicksal. War ihr zunächst bereits die bis dato strikt tabuierte Thematisierung der (infantilen) Sexualität beinahe zum Verhängnis geworden, so liegt ihr aktuelles Gefährdungspotential darin, sich einer technokratischen Verwaltung des modernen Subjekts erfolgreich zu verweigern. Freuds schlichte Erkenntnis, dass Phantasien psychische Realität im Gegensatz zur materiellen besitzen und dass die psychische Realität die maßgebliche ist (vgl. Freud 1916 – 17, 383), schließt eine bewusst geplante und operationalisiert umgesetzte Einflussnahme auf die Einpassung des Individuums in bestehende Strukturen aus. Die Psychoanalyse nimmt das Primat im Seelenleben für die Affektvorgänge in Anspruch und führt „den Nachweis eines ungeahnten Ausmaßes von affektiver Störung und Verblendung des Intellekts bei den normalen nicht anders als bei den kranken Menschen“ (vgl. Freud 1970a, 123). Dies desavouiert herrschende kognitivistische Ideologien ebenso wie es zudem zu einer tiefen narzisstischen Kränkung auf der Subjektseite führt.
Es ist also nicht eine „intellektuelle Schwierigkeit“, die die Psychoanalyse für manche unzugänglich macht, sondern eine „affektive Schwierigkeit: etwas, wodurch sich die Psychoanalyse die Gefühle des Empfängers entfremdet. So dass er weniger geneigt wird, ihr Interesse oder Glauben zu schenken (...) Wer für eine Sache nicht genug Sympathie aufbringen kann, wird sie auch nicht so leicht verstehen“ (vgl. Freud 1970b, 130). Zudem öffnet Freud ein weites Tor für die Nutzbarkeit der Psychoanalyse jenseits der Medizin: „Dann lassen Sie sich mahnen, dass es noch ein anderes Anwendungsgebiet der Psychoanalyse gibt, das dem Bereich der Kurpfuscher entzogen ist und auf das die Ärzte keinen Anspruch erheben werden. Ich meine ihre Verwendung in der Pädagogik“ (vgl. Freud 1926 e, 284f). Etwas skeptischer klingt allerdings jene spätere Formulierung: „Es hat doch beinahe den Anschein, als wäre das Analysieren der Dritte jener ‚unmöglichen‘ Berufe, in denen man des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann. Die beiden anderen, weit länger bekannten, sind das Erziehen und das Regieren“ (vgl. Freud 1937c, 95).
Inzwischen haben sich die wissenschaftstheoretischen Fronten in den Humanwissenschaften in aller Breite weiter verhärtet. Heute lautet der Vorwurf beinahe unisono, Psychoanalyse sei veraltet, was ich so zu lesen verstehe, dass ein sperriges Denken, welches
  • sich dialektisch seiner objektiv-gesellschaftlichen wie subjektiv-individuellen Widersprüche versichert,
  • darüber hinaus dem latenten Sinn hinter dem manifesten Verhalten nachgeht
  • und keine sogleich griffigen Patentrezepte parat hält,
als zu mühsam erachtet wird. Die globalisierte Wirtschaft verlangt unmittelbare Leistung und kurzfristige, auf die Bilanz durchschlagende Resultate und schafft damit Entgrenzung als massen- und individualpsychologische Dimension. Abwarten-Können und Triebaufschub-Leisten sind nicht mehr marktgängig. Es verwundert nicht, dass auch die Wissenschaft in diesen Sog geraten ist. Die Zeit verlangt nach schlichten Konzepten.
Häufig ist auch zu hören, dass sich kaum mehr eine Einrichtung an der Psychoanalyse als ernstzunehmendem Wissensfundus orientiere. Hier wäre sogleich einzuwenden, dass es nicht um eine bestimmte psychoanalytische Technik geht, die vor Ort ein zu eins umzusetzen wäre, sondern um eine innere Haltung, wie und wo ich den Anderen stehen sehe und vor allem zuzulassen und zu reflektieren, wie und wo er mich stehen sieht. Es geht um die Wahrnehmung der auch unbewussten Dimensionen wechselseitiger professioneller Beziehungsausgestaltung, mit der allein Entwicklungsblockaden und -irrungen zu erkennen und sinnhaft einzuordnen sind, was erst zu tiefgehenden und anhaltenden Veränderungen beizutragen vermag. Körner begegnet dem Vorwurf der Antiquiertheit der Psychoanalyse damit, dass sie
  • als eine Kulturwissenschaft unmenschliche Lasten sichtbar macht, die „dem Einzelnen von einer auf Triebeinschränkung bauenden Kultur auferlegt werden“, und
  • einen umfassenden Entwurf vom Menschen wagt und ihn „in all seinen Existenzweisen“ abbildet (vgl. Körner 2007, 29).
A la longue wird die theoretische Selbstamputierung, mit der man glaubt, auf Psychoanalyse verzichten zu können, fatale Konsequenzen für die Praxis nach sich ziehen. Noch verheerender wirkt sich eine populärwissenschaftliche Rezeption der Psychoanalyse aus. So werden dann lebensgeschichtliche Daten empathielos aneinandergereiht, die monokausal als Erklärung für deviantes Verhalten herhalten müssen. Einfühlbare Motive, die im Erleben einer signifikanten frühen Lebenssituation wurzeln und den Charakter von Einmaligkeit aufweisen, werden in einem hypothetischen Beweisverfahren durch Ursachen ersetzt, denen eine instrumentelle Wirkung unterstellt wird. Damit erachtet man Theorie und Praxis fälschlicherweise als abschließbar. Dagegen wendet Lorenzer ein: „Allgemeine Gesetzesaussagen lassen sich hier nicht als Ergebnis eines abgeschlossenen Erklärungsvorgangs gewinnen“ (vgl. Lorenzer 1974, 44). Die bloße Behauptung eines beschädigenden Zusammenhangs zwischen der individuellen Persönlichkeitsstruktur und gesellschaftlich bestimmten Sozialisationsprozessen muss durch den genauen Begriff ersetzt werden, „wie dieser Zusammenhang hergestellt wird und wie er sich in der individuellen Struktur äußert“ (vgl. Lorenzer 1977, 11). Nur über diesen präzisen Bezug zur Psychoanalyse lässt sich Heilpädagogik als sinnverstehende Wissenschaft begründen (vgl. Gerspach 1981, 19).
Solange etwa Beobachten zur Grundlage von objektiven Aussagen über einen Menschen mit Behinderung gemacht wird, geht vergessen, dass dies immer eine subjektive Auswahl und Deutung beinhaltet. Der Beobachter bringt selber seine eigene Subjektivität ein, daher sind unbewusste Identifikationen niemals auszuschließen (vgl. Kron 1988, 61f). Einer hermeneutischen Betrachtung indes erschließt sich Erkenntnis in einem anderen als einem derartigen Bezugssystem technischer Verfügung, wie Habermas zeigt: „Sinnverstehen bahnt anstelle der Beobachtung den Zugang zu den Tatsachen“ (vgl. Habermas 1973, 157).
Damit zurück zum Thema. Wenngleich der Begriff Heilpädagogik eine enge Verwandtschaft zur Medizin und zu medizinischen Heilungsansprüchen vermuten lässt, hat es im strengen Sinne nie eine medizinische Fassung der Heilpädagogik gegeben (vgl. Bleidick 1971, 56). Bereits Moor betonte, dass es um Pädagogik und nicht um Medizin gehe und wandte sich damit gegen jede biologische Verkürzung (vgl. Moor 1969, 260ff).
Dennoch führte dieses Missverständnis zu einer Abkehr von der Bezeichnung Heilpädagogik. Hanselmann schlug vor, sie durch Sonderpädagogik zu ersetzen (vgl. Hanselmann 1941, 7). Dieser Begriff bürgerte sich vor allem auf dem schulischen Sektor ein – man denke nur an die Sonderschulen –, offenbarte aber eine eher noch größere Schwierigkeit: Aus der Zuständigkeit der Sonderpädagogik für Kinder mit Behinderungen ergab sich fast wie von selbst die Legitimation für ihre Überstellung an Sondereinrichtungen, kurz: ihre Aussonderung. Aus diesem Grund wurde im Zuge einer gesellschaftskritischen Aufarbeitung der Standortbestimmung der eigenen Profession von Kollegen wie Feuser oder Jantzen der Begriff Behindertenpädagogik ins Spiel gebracht, der aber auch nicht unumstritten blieb. Denn Behindertenpädagogik ist zu nahe mit einer gesellschaftlichen Stigmatisierungspraxis assoziiert (vgl. Iben 1975, 68).
Zuletzt wird der Förderaspekt herausgestrichen – so in der neuen Begriffswahl Förder- anstelle von Sonderschulen. Allerdings erscheint auch dieser Wechsel nicht unproblematisch, suggeriert er doch einen erhöhten Förderbedarf behinderter Kinder, der dann schnell in instrumentelle Lernprogramme gegossen wird. Schließt man sich der Auffassung von Haupt an, dass es beim grundlegenden Lernen nicht darum gehen kann, einem Kind etwas beizubringen, sondern ihm behilflich zu sein, sich in emotionaler und sozialer Sicherheit mit der Lebenswelt vertraut zu machen, wäre dieser Befürchtung vorgebeugt (vgl. Haupt 2006, 133). Mit Bürli könnte man zusammenfassend sagen: „Förderung ist nicht infolge Defizite, sondern infolge Förderbedarf legitimiert“ (vgl. Bürli 2005, 54).
Die Namensänderung des Verbandes Deutscher Sonderschulen (VDS) in Verband Sonderpädagogik e.V. löste ebenfalls Kontroversen aus (vgl. Mattner 2000, 15). Anderseits trägt sein Verbandorgan noch immer den Titel „Zeitschrift für Heilpädagogik“, und auch die „Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete“ ist uns erhalten geblieben. Allerdings wurde im universitären Bereich die Kombination Heil- und Sonderpädagogik gänzlich aufgegeben und die Bezeichnung von Instituten auf Sonderpädagogik reduziert. Zuweilen ist, zum Beispiel bei Studiengängen, auch der vor allem in der DDR gebräuchliche Begriff der Rehabilitationspädagogik zu finden, der insofern nicht unproblematisch erscheint, als er sehr deutlich den physischen Aspekt nahe legt. Dies alles ist in erster Linie dem Vorbehalt gegenüber dem Vorsatz Heil geschuldet, der Assoziationen an (nicht einlösbare) medizinische Ansprüche weckt.
Ich plädiere dennoch für eine Beibehaltung der Bezeichnung Heilpädagogik, auch wenn sie in der fachinternen Diskussion unpopulär geworden ist. Mir will die Bevorzugung von Sonderpädagogik bzw. Behindertenpädagogik nicht recht einleuchten. Heilpädagogik legitimiert keine gesellschaftliche Aussonderung, während Sonderpädagogik dahingehend stets gerne falsche Assoziationen geweckt hat. Auch Behindertenpädagogik kann sich dem Moment von Diskriminierung nicht entziehen.
Wird aber der Blick vom Gebrechen, welches dem Individuum als scheinbar naturalistisches anhaftet, auf problematische Sozialisations- und Interaktionsprozesse verlagert und auf diese Weise die negative gesellschaftliche Wertung offenkundig, erscheint Heilpädagogik noch am ehesten brauchbar, wie es schon Leber und Speck formuliert haben (vgl. Leber 1984, 478; Speck 1988, 12). Kobi nahm einmal heil im Sinne von ganz auf, womit er einen ganzheitlichen Ansatz vertrat, der nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat (vgl. Kobi 1988, 32ff; Bürli 2005, 60). In ähnlicher Absicht umschrieb Möckel Behinderung als Stocken des geistigen Stromes zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lehrern und Schülern und folgerte: „Neue Perspektiven für Erzieher in einer als aussichtslos empfundenen Erziehungssituation – das ist Heilpädagogik“ (vgl. Möckel 1988, 245). Gröschke kürzte seinerzeit die Diskussion ab mit den Worten: „Heilpädagogik ist und bleibt Pädagogik“, und er begründete dies wie folgt: „Die Dialektik von Allgemeinem und Besonderen muss zukünftig innerhalb einer Pädagogik für alle ausgehalten werden, ohne Abspaltung einer ‚Sonderpädagogik‘, aber auch ohne gleichmacherische Einebnung und Standardisierung der gesellschaftlich gängigen Erziehungs- und Bildungsformen“ (vgl. Gröschke 1992, 20).
Falls wir der falschen Verknüpfung zum medizinischen Heilen nicht aufsitzen – die es nach Häußler nie gegeben hat (vgl. Häußler 2000, 34) –, erscheint mir hernach die Beibehaltung des ursprünglichen Begriffs d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. 1 Zu Geschichte und Aktualität der Heilpädagogik
  6. 2 Relevante Erkenntnisse der Psychoanalyse für die Heilpädagogik
  7. 3 Psychoanalytisches Verstehen in der Heilpädagogik
  8. 4 Ausgewählte Themen Psychoanalytischer Heilpädagogik
  9. 5 Zur Praxis der Psychoanalytischen Heilpädagogik
  10. 6 Literaturverzeichnis