Evidenzbasierte Pädagogik
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Evidenzbasierte Pädagogik

Sonderpädagogische Einwände

  1. 143 Seiten
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Evidenzbasierte Pädagogik

Sonderpädagogische Einwände

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Aktuell wird die Pädagogik mit dem konfrontiert, was die betriebswirtschaftlich ausgerichtete Bildungsökonomie, die empirische Bildungsforschung und die Bildungspolitik als sogenannte "Evidenzbasierung" bezeichnen. Anliegen des Buches ist die Auseinandersetzung mit dem zunehmenden Einfluss, den die Evidenzbasierung in Theorie und Praxis der Pädagogik und Sonderpädagogik gewinnt. Diese Auseinandersetzung wird in zweifacher Hinsicht geführt. Einerseits wird der Begriff der Evidenzbasierung auf seine Tragfähigkeit bezüglich der pädagogischen Theorie und Erziehungspraxis hinterfragt. Zum anderen formuliert der Band einen pädagogisch begründeten Gegenentwurf und markiert so eine begründete pädagogische Gegenposition angesichts der (oft falschen) Versprechen effizienter Steuerung des Menschen.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783170307803

Evidenzbasierte Pädagogik – Von der verlorenen Kunst des Erziehens

Oliver Hechler

»Aber der Mensch, der Gegenstand der psychosozialen Wissenschaft, hält nicht still genug, um sich in sowohl meßbaren wie relevanten Kategorien aufteilen zu lassen«
Erik H. Erikson

1 Einleitung

Im Grunde können ja gegen eine Evidenzbasierung pädagogischen Handelns keine vernünftigen Gründe angeführt werden, denn evidenzbasierte Pädagogik bedeutet nichts anderes als eine auf empirische Belege gestützte Erziehungskunst. Und der Forderung nach empirischen Belegen pädagogischen Handelns, und das ist völlig unstrittig, entspricht sowohl die pädagogische Disziplin als auch die pädagogische Profession. Wozu also die ganze Aufregung? Der Teufel sitzt mal wieder im Detail – und diesmal im Verständnis dessen, was unter Empirie verstanden wird. Denn es ist nicht der Begriff der Evidenzbasierung, der an sich Probleme aufwirft und zur kontroversen Diskussion führt, sondern das damit verbundene Verständnis von Empirie. Empirisch belegt sind nur diejenigen pädagogischen Interventionen, und das hat Katja Koch in ihrem Beitrag eindrucksvoll ausgeführt, die letztendlich den Anforderungen eines randomisierten kontrollierten Studiendesigns entsprechen (Koch 2016). Ähnlich dem Bereich der Medizin gilt dementsprechend auch in der Pädagogik die sogenannte randomized controlled trial (RCT) als der »Goldstandard« der empirischen Studienplanung und der Forschungsdesigns. Zwar lassen sich in der Forschung unterschiedliche Evidenzklassen ausmachen, so können auch Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Experten als empirische Belege für pädagogisches Handeln angesehen werden, doch bleibt die experimentelle Studie das Maß, an dem sich die Forschungsbemühungen messen lassen müssen. Pädagogische Forschung, will sie denn im aktuellen Wissenschaftsdiskurs Geltung beanspruchen und auch mit entsprechenden Forschungsmitteln ausgestattet werden, muss sich mit diesem Verständnis von Empirie auseinandersetzen. Es ist aber nicht nur die pädagogische Forschung, die durch die Anforderungen eines so verstandenen empirischen Forschungsdesigns stark beeinflusst wird, sondern eben auch das pädagogische Handeln – denn Ziel und Zweck dieser Forschungsbemühungen ist ja die Konstitution einer evidenzbasierten pädagogischen Praxis. Zeigt sich also auf der einen Seite die pädagogische Forschungslandschaft mittlerweile als überwiegend von quasi-experimentellen Studien mit Kontrollgruppendesign dominiert, so finden deren Ergebnisse auf der anderen Seite dementsprechend ihren Ausdruck in der Konzeptualisierung standardisierter Trainings- und Förderprogramme. Die Argumentationsstruktur und deren Umsetzung in Forschungsdesign und pädagogische Praxis sind in sich auch logisch und konsequent – allerdings treffen sie nicht den Kern dessen, was Pädagogik als Wissenschaft und Profession ihrem Wesen nach bestimmt. Etwas landläufig formuliert, ließe sich sagen: »Da werden Äpfel mit Birnen verglichen«. Insofern könnte man auch, wenn die Lage der Pädagogik hierfür nicht allzu prekär wäre, ziemlich gelassen feststellen, dass die ganze Diskussion um Evidenzbasierung sicherlich interessant sei, aber mit Pädagogik nichts zu tun habe und uns dementsprechend auch nicht weiter beschäftigen müsse. Diese Einstellung versteht sich leider nicht von selbst und trägt, vehement vertreten, eher zum Schwinden der eigenen disziplinären und professionellen Reputation bei – wahrscheinlich auch zu Recht, denn es gilt, diese Aussage zu begründen. Ansonsten wäre die Aussage nichts weiter als eine Behauptung. Diese notwendige Begründung soll in drei Schritten vorgenommen werden. Zum ersten wird es darum gehen, die konstitutions- und erkenntnistheoretischen Bedingungen der »Sache der Pädagogik« (Fuhr/Schultheis 1999) zu explizieren. Es geht also um die zentrale Frage, in welchen konstitutionstheoretischen und erkenntnistheoretischen Zusammenhängen unsere disziplinären und professionellen Bemühungen ganz grundsätzlich verortet sind, so dass damit auch die Bedingungen des Erkennens und die Möglichkeiten der pädagogischen Praxis eindeutig abgesteckt werden können. Hieran schließt sich zum zweiten die Frage, ob die berufsmäßige Erziehung als professionelle Praxis gelten kann und ob die »Erzieher von Beruf« (Prange/Strobel-Eisele 2006, 44) als Vertreter einer Profession angesehen werden können. Sind diese grundlegenden Bestimmungsversuche gelungen, geht es zum dritten um die Darstellung dessen, was unter Pädagogik vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten zu verstehen ist, oder besser: was darunter begründet verstanden werden kann. Und so kann dann abschließend, der Blick ist ja nun geschärft und der Bedeutungshorizont eingegrenzt, nochmal genauer das Phänomen »Evidenzbasierung« betrachtet werden, um zu einem Urteil über dessen Bedeutung für die pädagogische Theorie und Praxis zu gelangen1.

2 Konstitutions- und erkenntnistheoretische Bedingungen

Wie versteht der Mensch seine Umgebung und wie verhält er sich zu ihr? Wie nimmt er die Dinge der Welt wahr und geht mit diesen um? Und welche Konsequenzen ergeben sich aus den Eigenschaften der Phänomene unserer uns umgebenden Welt? Diese Fragen gilt es grundsätzlich zu klären, um Aussagen über das Wesen der Gegenstände zu erlangen, mit denen wir uns als Wissenschaftler und professionelle Praktiker beschäftigen. Und man muss kein großer Wissenschafts- und Erkenntnistheoretiker sein, um diese Klärung vornehmen zu können.

Die Welt und ihre Teilwelten

Die Beschäftigung mit diesen Fragen geht, wie sollte es auch anders sein, zurück auf die griechische Antike. Seit Platons Überlegungen zur Dialektik ist klar: »Scheint dir nun nicht, sprach ich, die Dialektik recht wie der Sims über allen anderen Dingen zu liegen und über diese keine andere Kenntnis mehr mit Recht aufgesetzt werden zu können, sondern mit den Kenntnissen es hier ein Ende zu haben?« (Platon 2006, 442). Es scheint also Situationen und Sachverhalte in der Welt zu geben, über die nicht eindeutig Kenntnis zu erlangen ist, die eben mehrdeutig sind und sich, zur damaligen Zeit, fast überwiegend im Bereich der menschlichen Lebenspraxis finden lassen. Aristoteles (2006) greift dann diese in der Dialektik gefasste und empirisch begründete Denkfigur auf und unterscheidet die Welt, in der wir leben, in zwei Teilwelten. So spricht er zum einen von der Welt, die sich auf die durch die Menschen hervorgebrachte Veränderlichkeit bezieht, und zum anderen von der Welt des Notwendigen, des Unveränderlichen und des Immerwährenden. Diese Welt, also die des Unveränderlichen und Immerwährenden, ist charakterisiert durch naturwüchsig ablaufende Prozesse, durch eindeutige Bestimmbarkeit, durch stete Formen (Bollnow 1959), durch die Dominanz des Entweder-/oder-Prinzips und durch die Möglichkeit, dass theoretische Operationen der Praxis vorauslaufen können. Theorie verfährt in dieser Welt subsumtionslogisch: Kenne ich die grundlegende Gesetzmäßigkeit eines Phänomens, lassen sich die gleichen Phänomene dieser Gesetzmäßigkeit unterordnen. So müssen die Gesetze der Thermodynamik und der Statik zum Beispiel nicht bei jedem neuen Flugzeugbau und bei jeder neuen Brückenkonstruktion jeweils neu expliziert und auf den Einzelfall übertragen werden. In jüngster Vergangenheit hat Oevermann (2000) diese Welt als »nicht-sinnstrukturierte Welt« (439) bezeichnet und stellt sie damit der »sinnstrukturierten Welt« (439), also der Welt, die auf die von Menschen hervorgebrachte Veränderlichkeit abhebt, gegenüber. Diese Welt hingegen zeichnet sich durch Unbestimmbarkeit und unstete Formen (Bollnow 1959) aus, sie folgt dem Sowohl-als-auch-Prinzip. In dieser Welt ist »die Praxis viel älter als die Theorie« (Schleiermacher 1983, 11). Theorie verfährt hier im Modus der Rekonstruktionslogik. Diese Welt unterstellt menschlichem Erleben und Handeln grundlegende Sinnhaftigkeit. Der Mensch hat die Wahl und ist gezwungen zu wählen (Schmid 1998), und jeder Wahl laufen sinnstrukturierte und rekonstruierbare Entscheidungsprozesse voraus, die sich eben nicht durch standardisierte Muster zu Wege bringen lassen. Der Einfachheit halber und der Aktualität geschuldet, soll im Folgenden nur noch von sinnstrukturierter Welt und nicht-sinnstrukturierter Welt gesprochen werden, wobei ja klar geworden sein sollte, dass auch naturwüchsig ablaufende Prozesse im Großen und Ganzen besehen natürlich »sinnhaft« sind. So ergibt es eben Sinn, wenn Pollen einer Pflanze sich in der Umgebung verteilen, weil so der Bestand der Art gesichert bleibt. Nur entscheidet sich nicht die Pflanze im Rahmen eines Urteilsbildungsprozesses dafür, die Pollen in die Welt zu schicken. Verantwortlich dafür sind biologisch strukturierte Reifungsprozesse, die wir Menschen natürlich auch kennen. So wachsen wir, wir bekommen Zähne, die uns dann wieder ausfallen und Platz für neue machen, wir altern und vieles mehr. Aber ansonsten sind wir aufgefordert und gezwungen, unserem Leben eine individuelle Form zu geben – und das über den gesamten Lebenslauf. Es bleibt also festzuhalten, unsere Welt lässt sich probeweise in zwei Teilwelten unterscheiden.
Tab. 1: Merkmale der »Teilwelten« und deren Protagonisten (erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit)
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Gesellschaftliche Teilsysteme

Nun haben wir ja aus konstitutions- und erkenntnistheoretischer Sicht zunächst die beiden Teilwelten fast polar voneinander unterschieden. In gesellschafts- und kulturtheoretischer Hinsicht allerdings teilen sich die beiden Welten gemeinsame Strukturen. Gemeinsam ist sowohl der sinnstrukturierten als auch der nicht-sinnstrukturierten Welt die Gliederung in drei voneinander getrennte gesellschaftliche Teilsysteme (vgl. Stichweh 1994). Hierzu zählt erstens die Lebenspraxis, die die routine- und krisenhafte Alltagspraxis der Menschen beschreibt. Menschliche Lebenspraxis zeichnet sich durch den Zwang zum Handlungsvollzug aus, der allerdings nicht immer begründet und erklärt werden muss. Man muss sich und den anderen nicht permanent Rechenschaft ablegen. Als zweites Teilsystem ist die wissenschaftliche Geltungsbegründung anzuführen – also im weitesten Sinne die Wissenschaft und deren Institutionen und Personal. Hier findet sich zwar kein Handlungsdruck oder sollte sich keiner finden, denn wissenschaftliche Praxis sollte gerade von diesem befreit sein – nicht umsonst kann man dann auch begründet vom »Elfenbeinturm« der Wissenschaft(ler) sprechen –, die Erkenntnisse aber unterliegen einer systematischen Geltungsüberprüfung. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen sich bewähren und der wissenschaftlichen Kritik standhalten. Drittens schließlich können wir noch in die sogenannte verwissenschaftlichte Lebenspraxis unterscheiden, die Bezug nimmt auf die berufspraktischen Anwendungen wissenschaftlichen Wissens. Selbstverständlich ist nicht jeder Beruf wissenschaftsbasiert und muss es auch nicht sein – wobei die immer mehr fortschreitende Akademisierung früherer Lehrberufe sicherlich nicht ganz unbedenklich ist –, uns interessieren aber im Folgenden diejenigen Berufspraxen, die durch die Anwendung wissenschaftlichen Wissens gekennzeichnet sind.
Tab. 2: Merkmale der gesellschaftlichen Teilsysteme
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Teilwelten und gesellschaftliche Teilsysteme

Bringt man nun die gesellschaftlichen Teilsysteme mit den zwei Teilwelten zusammen, dann entsteht ein interessanter, aussagekräftiger und begründeter Interpretationsrahmen für die Verortung der Phänomene, mit denen wir es als Menschen, als Wissenschaftler und professionelle Berufspraktiker zu tun haben. Schauen wir zunächst auf die nicht-sinnstrukturierte Welt. Die nicht-sinnstrukturierte Welt beschäftigt sich im Rahmen der skizzierten Teilsysteme überwiegend mit naturwissenschaftlich zu beschreibenden Phänomenen. Das heißt, auf der Ebene der Lebenspraxis geht es ganz basal um praktische dezentrierte Naturerfahrung. Praktische Naturerfahrung heißt, dass wir zum Beispiel deutlich spüren, wenn es regnet und uns der Wind um die Ohren pfeift. Auch registrieren wir schmerzhaft, wenn wir uns in den Finger schneiden und Blut fließt oder wir uns den Kopf am Kofferraumdeckel anschlagen, so dass eine Beule oder ein blauer Fleck entsteht. Oder wir erfahren die Gesetze der Physik, wenn wir einen Auffahrunfall verursacht haben. Im Grunde geht es um die Auseinandersetzung mit den Regeln oder den Gesetzmäßigkeiten der gegenständlichen Welt, die uns umgibt. Die Ebene der wissenschaftlichen Geltungsbegründung hingegen widmet sich der experimentellen Erforschung dieser Gesetzmäßigkeiten. Hier wird danach gefragt, warum denn der Apfel vom Baum fällt und nicht nach oben schwebt. Auch werden die verschiedenen Umlaufbahnen und Kräfteverhältnisse von Planeten und Himmelskörpern erforscht, so dass es möglich wird, diese Himmelskörper mittels Raketen und anderen Weltraumfahrzeugen zu erreichen. Und mittlerweile basiert die gesamte lokale und globale Kommunikation darauf, dass es möglich geworden ist, Satelliten auf eine stabile Umlaufbahn um unsere Erde zu bringen und dort zu halten. Die Liste all dessen, was Gegenstand der experimentellen Naturforschung ist, ist lang. So verdanken wir es der naturwissenschaftlichen Forschung, dass wir in ein Flugzeug steigen und in Urlaub fliegen können. Ebenso verhält es sich mit den Erkenntnissen der biologischen, physikalischen und chemischen Forschung, die uns unser Leben deutlich und spürbar erleichtert haben. Trotz der Vielfältigkeit der Phänomene ist diesen eines gemeinsam: immer geht es darum, dass die einmal erforschte Gesetzmäßigkeit eines Phänomens subsumtionslogisch auf alle weiteren Fälle des jeweiligen Phänomens angewandt werden kann. Und das ist, wie wir ja bereits gesehen haben, auch gut so – denn sonst würden wir uns nicht so ohne weiteres in ein Flugzeug setzen, über eine Brücke gehen oder im Hochhaus arbeiten. Die Ebene der verwissenschaftlichten Lebenspraxis schließlich zielt auf die ingenieuriale Wissensanwendung des naturwissenschaftlichen Wissens ab. Der prototypische akademische Beruf im Bereich der verwissenschaftlichten Lebenspraxis ist der Ingenieur. Es ist die berufliche Aufgabe des Ingenieurs, die auf dem Wege der experimentellen Naturforschung hervorgebrachten Erkenntnisse mit den Ansprüchen der Lebenspraxis zu verbinden – also ganz konkret: Flugzeuge, Brücken, Tiefgaragen, Häuser, Telekommunikationsnetze, Stromkreisläufe, Ölförderplattformen, Raumstationen, Dialysegeräte, Schwefelgasanlagen und vieles mehr zu konstruieren und zu fertigen. Dem Ingenieur hilft es bei seiner vielfältigen Arbeit, auf gewisse und eindeutige Gesetzmäßigkeiten, die zumeist in Formeln und Rechenoperationen zur Anwendung kommen, zurückgreifen zu können. Immer und in jedem Fall sind dann die Gesetzmäßigkeiten, die angewendet werden, gleich. Ein »Sowohl-als-auch« gibt es hier nicht – und wenn es doch mal zu Komplikationen kommt, spricht man diese zumeist dem »Faktor Mensch« und dessen Versagen zu.
Die sinnstrukturierte Welt hingegen hat erfahrungs- und sozialwissenschaftlich zu beschreibende Phänomene zum Gegenstand. Hier ist die Ebene der Lebenspraxis durch anthropomorphe Erkenntnis charakterisiert. Es geht auf dieser Ebene um die Wahrnehmung der Mitmenschen als intentionale Akteure, als Personen also, die fortlaufend Sinn und Bedeutung herstellen und deren Handeln durch individuelle Gründe motiviert ist, die sich so leicht nicht vorhersagen lassen. Menschsein bedeutet in dieser Perspektive, die Angewiesenheit auf gemeinsam geteilte Aufmerksamkeit und gemeinsame Kooperation (Tomasello 2010, 2014). Und diese Sachverhalte sind alles andere als unkompliziert und trivial herzustellen. Man weiß im Grunde nie, wie sich das Miteinander gestalten wird. Darüber hinaus beinhaltet anthropomorphe Erkenntnis Erfahrungsprozesse, die man mit sich selbst machen kann, die durch das Zusammensein mit anderen entstehen oder aus den Erfahrungen mit der Welt resultieren. Diese Erfahrungsprozesse, zu denen dann eben auch Lern-, Erziehungs- und Bildungsprozesse gehören, zeichnen sich durch ein hohes Maß an Individualität und Subjektivität aus. Und so sind korrespondierend auch die Institutionen und das Personal der wissenschaftlichen Geltungsbegründung aufgefordert, diesen Phänomenen erfahrungswissenschaftlich auf den Grund zu gehen. Die Methodologie und das methodische Vorgehen dieser erfahrungswissenschaftlichen Forschung orientieren sich dann entsprechend ihren Gegenständen am rekonstruktionslogischen Paradigma. Wir versuchen dann anhand der ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Evidenzbasierte Pädagogik? Erziehung geht anders! Zur Einleitung
  6. Ankunft im Alltag – Evidenzbasierte Pädagogik in der Sonderpädagogik
  7. Evidenzbasierte Pädagogik – Von der verlorenen Kunst des Erziehens
  8. ADHS und Evidenzbasierung
  9. Ökonomisierung + Inklusion = Evidenzbasierte Pädagogik?
  10. Miniaturen
  11. Autorenspiegel