III. Persische Dichtung
Lyrik
Die Neupersische Dichtung entstand mit dem Zerfall des arabischen Kalifats, dessen persische Gebiete nach und nach in die Hände iranischer Fürsten gerieten. Wachsendes persisches Selbstbewusstsein ging damit einher. Manche der persischen Dynasten beriefen sich auf – in der Regel wohl fiktive – vorislamischiranische Stammbäume. Viele pflegten gezielt das mehr als tausendjährige Erbe des großen iranischen Imperiums. Firdausī schrieb in mehr als 50 000 Versen sein „Königsbuch“, die Geschichte des persischen Reiches von den mythischen Anfängen bis zur islamischen Eroberung. Zarathustra und Alexander der Große sind wohl die frühesten historischen Gestalten in einer sonst in mythisches Dunkel getauchten Epoche, die weniger von Königen als von ebenfalls mythischen Helden beherrscht wird, die den Kampf des lichtvollen Iran gegen das von boshaftem Dunkel regierte Turan (Zentralasien) bestreiten. Aber auch die letzte vorislamische Dynastie, die Sassaniden (224–651), die ihre Kräfte in immer neuen Kriegen mit Byzanz verzehrten und deren kümmerliche Reste schließlich von den muslimischen Invasoren hinweggefegt wurden, erscheint bei Firdausī noch in märchenhafter Aura, von Wundern durchsetzt. Das riesige Werk wurde zum Nationalepos der Perser, Teile daraus wurden z.B. beim Ringen (zūr) im zūrchāne rezitiert, neben dem Polospiel war dieses Ringen der wichtigste Nationalsport der Perser. Das Polospiel gehörte zu den Vergnügungen der Höfe, vergleichbar den abendländischen Waffenturnieren. In einem Buch über die Liebe im Orient verdient es Erwähnung, denn seine zwei Instrumente, Schlegel (tschogān) und Ball (gūy) wurden zu einem beliebten Metaphernpaar, ähnlich häufig verwandt wie das von Rose und Nachtigall. Wie der Ball nach dem Schlag des Schlegels, so sehnt sich der in persischer Dichtung immer mit masochistischen Zügen behaftete Liebende nach den „Schlägen“ des/der Geliebten. Das Königsbuch ist das erste und gleichzeitig wichtigste Exempel der Gattung „Heldenepos“. Gleichwohl enthält es auch etliche meist sogar sehr reizvolle amouröse Szenen. Die persische Epik bildet übrigens den Hauptunterschied zur arabischen Dichtung, die das Versepos nicht oder kaum entwickelt hat. Verwandt bleiben sich beide Dichtungen im panegyrischen Fürstenlob, wo auch die persischen Dichter die oben beschriebene Form der Kasside benutzen. Die arabische Liebesdichtung entwickelt sich im Persischen unter dem Einfluss der Mystik zu einem zarten Gebilde, einer in clair-obscur schimmernde Atmosphäre getauchten, von stereotypen Figuren dominierten Wirklichkeitsschilderung. Wir werden uns daher im Folgenden hauptsächlich mit Epik befassen, denn dort finden sich die berühmten Liebespaare, die die Tradition der ‘Udhriten fortsetzen.
Viele der großen Gestalten des Schāhnāme, aber auch manche Szenen kehren in späteren Epen wie Variationen eines Themas wieder, wie etwa das königliche Paar Chosrou und Schirin, das Nizāmi in seinem zweiten Epos gestaltet hat, oder König Bahrām Gūr und seine geliebte, Laute spielende Sklavin Āzāde („Frei“), die bei Nizāmi als Fitne („Aufruhr“) und bei Amīr Chusrau Dihlawī, dem ersten Nizāmi-Imitator, als Dilārām („Herzenslabsal“) wiederkehrt, jedes Mal verwandelt und doch unverkennbar die gleiche: Es gibt aber natürlich auch andere Quellen für die persische Epik, deren wichtigste Gattungen sich seit dem Schāhnāme etablieren: das Heldenepos, das romantische Epos (englisch „romance“), das didaktische Epos und das mystische Epos. Die Grenzen lassen sich nicht scharf ziehen, und namentlich das Thema der Liebe fehlt in keiner dieser Gattungen. So gibt es etwa herzzerreißende Liebesgeschichten in den mystischen Epen ‘Aṭṭārs (vgl. unten S. 169ff.). Manche arabisch-‘udhritische Paare wie etwa Lailā und Madschnūn gelangten erst durch die persische Bearbeitung zu internationalem Ruhm. Aber auch ein hellenistischer Liebesroman wurde von einem bekannten persischen Dichter namens ‘Unṣurī in Verse gegossen; leider sind nur spärliche Bruchstücke davon erhalten.188 Eines der frühesten romantischen Epen in persischer Sprache ist das um die Mitte des 11. Jahrhunderts entstandene romantische Epos Wīs und Rāmīn von Gurgānī, auf das wir später näher eingehen werden. Zunächst aber sei ein kurzer Blick auf die persische Liebeslyrik geworfen, in der sich die persischen Epiker in der Regel auch hervorgetan haben.
Liebesgedichte aus dem Diwan Sa‘dīs
Der neben Ḥāfiẓ bedeutendste und beliebteste Lyriker Irans, Sa‘dī (1215–1292), ließ sich nach langen Reisen 1256 in Schiras nieder und verfasste dort u.a. seine zwei berühmtesten Werke: den „Duftgarten“ (Būstān 1257) und den „Rosengarten“ (Gulistān 1258); beides erbaulich-didaktische Texte, der (von Rückert verdeutschte) „Duftgarten“ ganz in Versen, der „Rosengarten“ – wohl der erste persische Text, der von Adam Olearius 1654 ins Deutsche übersetzt wurde und schon Goethe entzückte – in Prosa, mit zahlreichen eingestreuten Versen. Aber Sa‘dī ist auch Verfasser eines umfangreichen Diwans, der viele uns von Ḥāfiẓ her vertraute Motive bereits ein Jahrhundert früher antönt. Auch bei ihm wird schon ein namenloser Geliebter in kosmische Höhen verherrlicht. In manchen Ghaselen parodiert er aber auch diese Übertreibung.
Die kosmische Größe des Geliebten
Ich lebe in dem Augenblick, da ich, im Wunsch nach dir, sterbe, ich gebe mein Leben hin in der Hoffnung, zum Staub deiner Gasse zu werden.
Am Morgen der Auferstehung, wenn ich das Haupt aus dem Staub erhebe, stehe ich auf durch dein Reden, mache mich auf die Suche nach dir.
In der Versammlung, wo die Schönen der beiden Welten hinkommen,
richte ich meine Blicke auf dich, bin der Sklave deines Gesichtes.
Wenn ich tausend Jahre im Schlafgemach des Nichtseins geschlafen habe, werde ich schließlich wach durch deinen Duft und Anblick.
Ich spreche nicht von Ed...