FOLGE 1
GEBURTSTAG
Eines Abends öffnete sich in der Decke ein Loch, und Toni begriff, dass zuoberst im Haus noch gar nicht Schluss war. Eine Leiter im Flur führte an einen rätselhaften Ort, den seine Eltern Dachboden nannten. Toni kroch über den Teppich, hielt sich an einer Sprosse fest und schaute hinauf in die viereckige Öffnung. Er sah in einen Raum, der ganz anders war als die Zimmer des Hauses: mit schummrigem Licht und schrägen Holzwänden. Trockene, nach Staub riechende Luft sank zu ihm herab. Er versuchte hochzuklettern, seinem Vater hinterher. Aber seine Mutter nahm ihn auf den Arm und trug ihn in sein Zimmer. Er schrie.
Lange dachte er, das gesamte Haus sei von dieser fremden Welt umgeben. Er glaubte, das Loch, das er gesehen hatte, sei nur einer von zahlreichen Zugängen. Vor dem Einschlafen betrachtete er die Wände um sich herum. Dahinter vermutete er ein Universum aus verzweigten Gängen, verborgenen Türen und vergessenen Räumen. Er träumte davon, wie er durch dieses Labyrinth schlich, manchmal mit seinem Bruder, aber meistens allein, um dann am Ende unbemerkt in sein Zimmer zurückzukehren.
Als er groß genug war, dass er die Leiter selbst von der Decke herunterziehen konnte, stieg er ab und zu auf den Dachboden, um sich die Umgebung von oben anzusehen. Er rückte eine Kiste zum Dachfenster und stellte sich darauf. Dann blickte er hinunter in den Garten mit dem Mirabellenbaum und dem kleinen Teich. Hinter der Mauer lagen die Straße, das Freibad, der Fluss. Wenn er sich ans Fenster auf der anderen Seite stellte, sah er zum Bundeshaus und zur Drahtseilbahn, die von der Altstadt ins Quartier hinabführte. Direkt unter ihm die Vorgärten der Nachbarhäuser, Blumenbeete und Wäscheleinen mit flatternden Bettlaken.
Einmal kam er von der Schule nach Hause und hörte, wie in einem dieser Vorgärten zwei Nachbarinnen über seinen Vater redeten. Sie fragten sich, was er in seiner Praxis eigentlich anbot. Sie hatten die Kunden beobachtet, die ins Haus gingen: Eine stark Geschminkte sei dabei gewesen, ein Mann im Rollstuhl, eine Rentnerin, auch ein Araber oder etwas Ähnliches. Ein System sei nicht erkennbar. Sie sprachen darüber, was das Wort auf dem Schild am Eingang bedeuten könnte, ob vielleicht ein Rechtschreibfehler vorliege und es eigentlich „Scheinwerfer“ heißen sollte.
Toni hatte sich bis dahin nie die Frage gestellt, warum sein Vater zu Hause arbeitete und was er mit seinen Kunden überhaupt machte. Jetzt hakte er nach. „Das verstehst du nicht“, sagte seine Mutter, „du bist noch zu klein.“ Sein Vater aber legte ihm die Hand auf den Bauch und ließ ihn vom letzten Schulausflug erzählen. Dann lächelte er und sagte: „Im Zug habt ihr Kühe gezählt.“
Von nun an sah sich Toni die Menschen, die ins Haus kamen, genau an. Er schaute zu, wie sein Vater mit ihnen die Treppe hochstieg, lauschte dem Knarren der zweiten und der obersten beiden Stufen und hörte schließlich, wie sich oben die Tür schloss. Er versuchte zu erraten, wegen welcher Probleme die Kunden seinen Vater aufsuchten. Ob er richtig lag, erfuhr er aber nie. Denn wenn seine Eltern nach der Sitzung noch mit einem Besucher plauderten, ging es immer um Belangloses: Man vereinbarte den nächsten Termin oder redete über Ferienpläne. Einige Kunden interessierten sich für das Haus und wollten wissen, aus welcher Zeit der Bau stammte. Tonis Vater faselte dann irgendwas von Jugendstil, worauf die Mutter ihn immer mit weitschweifigen Ausführungen korrigierte.
Tonis Mutter bezeichnete das Haus manchmal als ihr drittes Kind – eine Formulierung, die sie für äußerst schöpferisch hielt. Immer wieder erwähnte sie das Glück ihrer Familie, im schönsten Stadtteil von Bern zu leben. Je älter Toni wurde, desto weniger konnte er ihr Urteil nachvollziehen. Er glaubte die Beobachtung zu machen, dass die Menschen in der Nachbarschaft fleischigere Gesichter hatten als anderswo. Vielleicht war es eine Folge von zu ausgewogener Ernährung, zu vielen Grünflächen, zu verkehrsberuhigten Straßen, schlicht zu viel davon, was man Lebensqualität nannte. In diesen Sumpf aus Gesundheit und Wohlbefinden passte er nicht rein. Und obwohl er nun im Haus am Erlenweg derselben Arbeit nachging wie einst sein Vater, mietete er eine Wohnung in einem nördlichen Außenquartier der Stadt, wo ihm alles etwas schmutziger vorkam.
Heute redete man in der Nachbarschaft längst nicht mehr so viel über die Praxis wie noch während Tonis Kindheit. Denn in den Jahren, seit er ausgezogen war, waren an den Häusern der Umgebung etliche weitere Schilder wie Popups hervorgeschossen. Die Angebote reichten von Shiatsu, Reiki und Qigong über Tanz-, Mal- und Edelsteintherapie bis zu Fußreflexzonenmassage und Schröpfen. Der Familienbetrieb der Weingarts fiel zwischen all den anderen Praxen gar nicht mehr auf. Inzwischen hatte sich Tonis Mutter im obersten Stock ihren Wohnbereich eingerichtet, in der Mitte lagen die drei Behandlungsräume, im Erdgeschoss die Diele mit dem Empfang sowie die Küche und der Salon, der auch als Wartezimmer diente.
Toni war es nun schon ein paar Jahre gewohnt, täglich kurz nach neun Uhr im Erlenweg einzutreffen. Eines Morgens im Frühherbst saß ein alter Mann mit graugelbem Haar auf den Stufen vor der Eingangstür. Toni warf die Zigarette weg und verlangsamte seinen Schritt. Der Alte hatte dünne Arme und Beine, aber einen runden Bauch. Er hatte die Hände auf die Knie gelegt und lächelte Toni an. Toni grüßte knapp und versuchte, an ihm vorbei zur Tür zu kommen.
„Sie sind ziemlich unverschämt“, sagte der Alte, immer noch lächelnd.
„Sie versperren mir den Weg. Ich arbeite hier.“
„Gestern klang das aber ganz anders“, entgegnete der Mann. Er betrachtete Toni und versuchte offenbar, ein Gähnen zu unterdrücken.
Toni wollte gerade erwidern, dass sie sich ja überhaupt noch nie gesehen hatten, als sich die Tür öffnete und seine Mutter heraustrat. „Hier sind Sie also“, sagte sie freundlich zu dem Alten. „Haben Sie die Toilette nicht gefunden? Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.“ Sie griff nach seinem Arm und führte ihn hinein. Kurz schaute sie Toni an und flüsterte: „Du bist bleich, geh mal früher ins Bett.“
Er betrat die Diele. Nebenan, im Salon, knarrte der Boden. Toni neigte den Kopf etwas zur Seite, um hineinzuspähen. Ein junger Mann mit roten Haaren stand vor einem der Bilder an der Wand. Sein Blick war trüb, um die Lider bläuliche Schatten. Er ging weiter zum nächsten Bild und blieb schließlich vor der Kommode stehen. Er griff nach dem Kerzenlöscher auf der Ablagefläche, betrachtete ihn von allen Seiten, betastete die Löschkappe. Nach einer Weile schien er endlich darauf gekommen zu sein, wofür das Ding gut war. Er spielte den Vorgang durch, indem er die Kappe über den unbenutzten Docht einer Kerze auf der Kommode stülpte. Dabei stellte er sich so ungeschickt an, dass der Kerzenständer beinahe umfiel. Er konnte ihn gerade noch mit der freien Hand festhalten. Dann schaute er sich um. Toni kratzte sich am Kopf und ging in die Küche.
Seine Mutter bediente die Kaffeemaschine. „Ich hoffe, du warst freundlich zu Herrn Ott“, sagte sie. „Wir haben morgen eine Probesitzung mit ihm, und wenn ihm die Behandlung guttut, will er regelmäßig vorbeikommen.“
„Und der Typ im Salon?“, fragte Toni.
Sie stellte drei volle Tassen auf ein Tablett, nahm die Milch aus dem Kühlschrank. „Das ist sein Sohn. Sieht man doch. Der Arme muss ihn wahrscheinlich überallhin begleiten. Herr Ott kann ja keine drei Schritte mehr gehen, ohne sich zu verirren.“ Mit dem Tablett in den Händen ging sie an Toni vorbei.
Er rief sie zurück. „Darf ich den Alten behandeln?“
„Wieso?“, fragte sie.
„Nur so. Teilst du ihn bitte mir zu?“
„Das ist ein anspruchsloser Fall.“ Sie drehte sich ab und sagte im Gehen noch: „Etwas für Julius.“
Julius hatte alle Einladungen für Flücks Geburtstagsfeier verschickt, die Nachbarn waren informiert, die Lautsprecher und die Lichtanlage hatte er abgeholt. Ihm blieb noch Zeit, um sich um ein Geschenk für Sonjas Rückkehr zu kümmern. Er kaufte ihr einen Indischen Lorbeer, den er neben ihr Bett stellte, und klebte Gegenstände an den Stamm, die er mit ihr in Verbindung brachte: ein winziges Stück eines Wespennests, eine versteinerte Schnecke, einen Papagei aus Plastik.
„Vergiss es“, hatte sie am Telefon zu ihm gesagt, „ich bin nicht so eine.“ Er stand trotzdem rechtzeitig am Bahnsteig. Sie stieg aus dem Zug aus und wiederholte, sie gehöre nicht zu den Frauen, die gern abgeholt würden. „Ich hätte den Bus nehmen können“, sagte sie. „Mein Rucksack ist nicht schwer, und den Weg nach Hause finde ich auch.“ Sie war braungebrannt, trug die Kopfhörer um den Hals, das Haar darunter, sodass es eng anlag, die Sonnenbrille in der Hand. Im Zug hatte sie sich offenbar noch geschminkt. Sie freute sich, dass er gekommen war. Er sah es ihr an.
Im Auto erzählte Sonja von einem Haus auf dem Vulkan, das wegen des Windes mit Stahlseilen befestigt war, von einem Rumoren unter der Erde, von schwarzem Sand. Wahrscheinlich ahnte sie, dass Julius ihre Rundmails nur flüchtig gelesen hatte.
„Früher hab ich mir nach jeder Ferienreise eingeredet, ich hätte mich verändert“, sagte sie, als sie das Länggassquartier erreichten. „Und eigentlich habe ich mir vorgenommen, das diesmal nicht zu tun. Aber drei Wochen unter dem Eindruck von solchen Naturgewalten – so was geht nicht spurlos an dir vorbei.“
Er hätte Lavagestein nehmen sollen, dachte er, als er ihr das Bäumchen zeigte, das er für sie besorgt hatte. Das wäre besser gewesen; ein paar verschiedenartige Vulkanite um den Stamm herum. Doch sie lachte über jede einzelne Idee und gab ihm einen Kuss. Dann ging sie duschen.
„Ich will nicht mehr für deine Mutter arbeiten“, sagte sie beim Abendessen. „Inzwischen verbringen wir in ihrem Haus mehr Zeit zusammen als hier. Und von den ganzen Kunden mit ihren Sorgen und Problemen habe ich auch genug. Zwei Jahre mache ich das jetzt schon. Das reicht.“ Sie drehte Nudeln auf die Gabel und hielt sie vor den Mund, während sie weitersprach: „Ich möchte wieder was Seriöses arbeiten. Geht’s dir nicht auch so? Wenn mich Leute während der Reise nach meinem Beruf gefragt haben, musste ich immer ausweichen. Manchmal habe ich einfach behauptet, ich sei immer noch Exportsachbearbeiterin. Obwohl mir das fast genauso peinlich ist.“
Julius fragte sie, ob sie sich wirklich wieder an einen Schreibtisch setzen wolle, sagte, dass sie im Büro nie glücklich gewesen sei und dass sie nirgendwo so häufig Urlaub nehmen könne wie bei seiner Mutter.
„Dir würde ein bisschen Abstand von ihr auch guttun“, sagte sie. „Ich habe es ja auch geschafft, mich von meiner Familie zu lösen.“
Er aß schweigend weiter, Sonja erzählte wieder von Aschewolken und Lavaströmen. Wenn sie nicht schon so lange ein Paar gewesen wären, dann hätten sie wohl als Erstes miteinander geschlafen. Noch bevor geredet, geduscht oder gegessen wurde. Vielleicht hatte sie während ihrer Wanderungen ja Männer getroffen. Abenteurer. Italiener. Typen, die sich als Lebenskünstler bezeichneten.
„Es war besser, dass du nicht dabei warst“, meinte sie. „Mit Steffi hättest du dich sowieso nicht verstanden.“
Am nächsten Tag hatte der neue Kunde seine erste Sitzung. Kaspar Otts rosiges Gesicht ließ Julius vermuten, dass er noch keine siebzig war. Ein junger Mann mit auffällig roten Haaren begleitete ihn und sprach an seiner Stelle. Julius’ Mutter lächelte ernst. Man werde alles tun, um Herrn Ott zu helfen. Julius stellte sich den beiden vor. Sonja stand daneben, reichte ihnen nach einem kurzen Zögern auch die Hand und sagte leise: „Sonja Laurent.“
Julius führte Kaspar Ott hinauf in sein Behandlungszimmer. Dort half er ihm, auf dem Ledersofa Platz zu nehmen, und sagte: „Dann schauen wir mal.“ Der Alte strich mit einer Hand ein paar Mal über die Armlehne. Julius hatte seiner Mutter nie gesagt, wie ungern er ältere Menschen berührte. Manchmal wünschte er sich, er dürfte Handschuhe benutzen.
Gerade als er beginnen wollte, klopfte es. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und Sonja schaute mit einem fordernden Schweigen herein. Julius entschuldigte sich bei dem Alten, trat auf den Flur und zog die Tür hinter sich zu. „Was denn?“, flüsterte er.
„Überlässt du mir den Kunden?“, fragte sie leise. „Ich wünsche mir schon lange so jemanden.“
„Einen alten Mann?“
„Einen Dementen. Jemanden mit Alzheimer zu behandeln, muss wie eine Art Drogentrip sein, nur ohne Suchtgefahr und Nebenwirkungen: intensiv, farbenfroh, temporeich.“
„Ich dachte, du willst kündigen.“
„Du hörst mir nie richtig zu, aber wenn ich mal dumm daherrede, nimmst du es gleich ernst.“
Hinter der Tür hatte der Alte zu summen begonnen. Tonleiter rauf, Tonleiter runter.
„Bitte“, sagte Sonja.
Er küsste sie auf die Wange. „Schön, dass du hierbleibst.“ Dann öffnete er ihr die Tür zu seinem Zimmer. Sie umarmte ihn kurz und trat ein.
Julius übernahm um halb zehn den Kunden von Sonja. Danach suchte er sie. Er wollte wissen, ob ihr die Sitzung gefallen hatte. „War es so, wie du es dir vorgestellt hast?“, fragte er, als er sie im Garten fand.
„Sicher“, antwortete sie nur.
Es überr...