In Paradisum
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In Paradisum

  1. 555 Seiten
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Über dieses Buch

Marino, dieser unscheinbare, farblose Marino, hat einen Mann getötet; und er hat ihn nicht nur getötet, er hat ihn zuerst entmannt, ihm dann die Kehle durchgeschnitten und Teile seines Körpers im Gefrierschrank aufbewahrt, um davon zu essen. Marino hat das allerdings auf Wunsch seines Opfers getan. Jetzt sitzt er im Gefängnis und schreibt alles auf. Eigentlich ist es nicht er, der schreibt, es ist nicht seine Stimme, die hier spricht, er notiert nur, was er diktiert bekommt …Diese Geschichte ist tatsächlich geschehen. Dennoch ist Yves Petrys "In Paradisum" keine Rekonstruktion der realen Ereignisse, sondern eine Reaktion darauf. Aus einer Anekdote der Skandalpresse erschafft Petry einen tiefgründigen Roman, macht mit literarischen Mitteln das Bizarre plausibel und das Schreckliche erträglich. Er verleiht dem Opfer postum eine Stimme und stellt diese düstere folie à deux in ein überraschend romantisches Licht.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783903081024

1

Die Tür geht auf, und für Marino ist es keine Überraschung, dass der Mann, der dort erscheint, nur eine Unterhose anhat. Das haben sie so verabredet. Überraschender ist der Gesichtsausdruck des Mannes. Die halb geschlossenen Augen deuten auf ein gewisses Maß von Sedierung. Seine Schritte sind ein wenig unsicher. Doch die straff angespannten Kiefermuskeln drücken eine große Entschlossenheit aus. Das Kinn ist leicht in die Höhe gereckt, die Lippen ragen herausfordernd hervor. Er sieht aus wie eine Kreuzung aus Zombie und Märtyrer, wie ein vor Kampfeslust flimmernder Schlafwandler. Höchstwahrscheinlich ist dies ein Effekt der Drogen, die er genommen hat.
Die Wohnzimmervorhänge sind sorgfältig geschlossen. Kein Schimmer ist mehr von der Außenwelt zu sehen. In einer Ecke verbreitet eine Stehlampe mit einem grobbaumwollenen Schirm ein nicht allzu helles Licht. Es könnte beinahe gemütlich sein, wenn das Zimmer nicht ansonsten leer wäre, von einem Esstisch mit zwei Stühlen und einem Sofa abgesehen.
Auf einem der Stühle sitzt Marino. Wovor er sich vorher schon gefürchtet hat, überfällt ihn plötzlich als unverrückbare Tatsache: Der Moment ist nicht gut gewählt. Nicht, weil es noch zu früh ist, nicht, weil es bereits zu spät ist, nicht, weil ein anderer Zeitpunkt besser gewesen wäre, sondern weil es falsch ist, selbst einen Zeitpunkt zu wählen.
Jetzt kann er nicht mehr zurück. Er steht auf und folgt dem Mann, der sich schweigend mit dem Rücken an eine Wand stellt. Links und rechts von ihm befinden sich, jeweils eine Armlänge entfernt, zwei Metallringe, die dort vor einigen Tagen angebracht wurden. Mit zwei kurzen Seilen, die auf dem Tisch bereitliegen, bindet Marino die Handgelenke des Mannes an den Ringen fest.
Auch was er sonst noch tun soll, haben sie vorher verabredet.
Auf dem Gesicht des Mannes liegt ein recht verträumter Ausdruck, um seine Lippen spielt sogar ein Hauch von Spott, als fände er Marinos Schüchternheit lustig. Marino zieht einen Stoffstreifen, den er aus einem alten Kleid geschnitten hat, aus der Hosentasche und verbindet damit dem Mann die Augen, der dies widerstandslos zulässt.
Marino lässt eine Hand über die Brust des Mannes gleiten. Die andere Hand fährt über Schenkel und Geschlecht. Er kennt diesen Körper. Er hat ihn schon öfter gespürt. Damals hatten sie Sex miteinander. Diesmal werden sie sehr viel weiter gehen.
Geplant ist, dass Marino sich nicht wie der Liebhaber dieses Körpers verhält, sondern wie dessen Schinder. Oder sogar wie etwas, das noch weniger menschlich, noch unpersönlicher ist: eine tödliche Krankheit, ein rein körperlicher Unfall. Aber wie glaubwürdig ist es, wenn eine tödliche Krankheit wie verabredet zuschlägt?
Marino zieht die Unterhose herab und lässt sie bis auf die Knöchel rutschen. Er geht einige Schritte zurück, und dann passiert etwas Unvorhergesehenes: Mehr als die gestreckten Arme oder die gefesselten Handgelenke ist es diese Unterhose auf den Fußknöcheln, die sich ihm als Bild vollkommener Auslieferung aufdrängt.
Um den Mund des Mannes spielt immer noch das vage, mysteriöse Lächeln. Vielleicht ist dies eine Folge des Entzückens, das die Drogen in ihm hervorrufen. Möglicherweise ist es zum Teil ein Ausdruck von Angst. Aber Marino sollte nicht in erster Linie versuchen, die Gedanken des Mannes zu ergründen. Er muss sich vor allem auf seinen Part konzentrieren.
Er tritt wieder an den Mann heran. Der Körper des zweiundvierzig Jahre alten Mannes ist in hervorragender Verfassung. Wenn es Marino nicht gäbe, hätte der Tod möglicherweise noch viele Jahre benötigt, um ihn einzuholen. Nur das Pochen in der Brust ist schneller und heftiger als normal. Marinos Herzschlag beschleunigt sich dadurch auch allmählich.
„Ist das alles?“, ertönt es plötzlich in bestürzend wachem Ton, den Marino ganz und gar nicht erwartet hat, aus dem Mund dieses Schlafwandlers.
„Los, Marino. Tu was“, sagt der Mann. Es scheint fast, als müsste er lachen. Seine herausfordernden Worte hallen in dem nahezu leeren Raum und widersprechen den gemachten Vereinbarungen vollkommen. Es war verabredet, dass der Mann und Marino den Namen des anderen während der Vorstellung vergessen oder zumindest nicht aussprechen sollten. Eine Atmosphäre der Anonymität, auch wenn sie künstlich war, erschien ihnen absolut notwendig, um die Aufführung erfolgreich zu Ende zu bringen.
Nun grinst der Mann sogar, als könne er trotz der Augenbinde die Röte auf der Stirn, den verdutzten und entrüsteten Ausdruck auf Marinos Gesicht sehen.
„Mit wem sprichst du?“, raunzt Marino ihn an, woraufhin der Mann aufhört zu grinsen. Aber ein unbestimmter Zug liegt weiterhin um seine Lippen.
Wortlos lässt Marino den Mann zurück und geht in die Küche. Aus einem Messerblock zieht er das Messer, das an diesem Abend eine wichtige Rolle spielen soll. Das rechtwinkelige Dreieck der Klinge ist ungefähr zwanzig Zentimeter lang und an der Basis fünf Zentimeter breit. Er hat es, soweit er sich erinnern kann, nie zuvor benutzt. Er öffnet eine Schublade, nimmt eine Rolle Klebeband heraus und schneidet einen Streifen ab. Nachdem nun die Verabredung gebrochen wurde, ist er auf einmal fest entschlossen, sie strikt zu befolgen.
Als er wieder im Wohnzimmer ist, legt er das Messer auf den Tisch und geht dann zu dem Mann. Der scheint in geistesabwesendes Sinnieren versunken zu sein.
„Keine Namen, verstanden?“, flüstert Marino ihm ins Ohr und presst den stark haftenden Klebestreifen auf seinen Mund. Der Mann ist offenbar einigermaßen überrascht, gibt aber kein einziges Geräusch von sich, das als Zeichen des Protestes verstanden werden müsste.
Marino nimmt das Messer. Es ist, als ginge der Glanz und die Glätte des Stahls in seiner Hand auf ihn über. Jetzt ist er ebenso anonym wie dies Messer. Auch der inszenierte Charakter der Handlungen stört ihn jetzt plötzlich nicht mehr. Das Messer selbst ist wirklich genug. Es fühlt sich sogar wirklicher an, als er erwartet hat.
Er drückt die kalte, stählerne Klinge auf den Magen des Mannes. Dieser zieht in einem Reflex den Bauch ein und entspannt sich dann wieder. Doch vollkommen locker scheint er nicht zu sein. Jetzt, da sowohl Augen als auch Mund verdeckt sind, ist es noch schwieriger geworden, seinen genauen Zustand einzuschätzen.
Im Zimmer ist es ohrenbetäubend still. In Marinos Gehörgängen rauscht das Blut. Er fragt sich, ob irgendeine Musik im Hintergrund nicht besser gewesen wäre. Während er noch darüber nachdenkt, dass weder der Mann noch er Musikliebhaber sind und sie deshalb keine Ahnung gehabt hätten, welche Musik sie hätten auflegen sollen, haben seine Hände die Aufgabe bereits erledigt. Das Messer war schwer und scharf, das Fleisch war weich, es ging von selbst. Er hat kaum hinsehen müssen, wie seine Hände zu Werke gingen, die jetzt von einer warmen, klebrigen Flut überströmt werden.
Später wird dies, auch von Marino selbst, als eine Tat der ultimativen Selbstverstümmelung, durch die Hand eines anderen ausgeführt, gedeutet werden. Doch in diesem Moment ist es ein wenig anders. Es ist so, dass der Mann sein Leben beenden will: als ein Entmannter. Dies ist die Geste des Stolzes und der Weltverachtung, die ihm niemand nachmachen wird.
Marino geht einige Schritte zurück und starrt auf den triefenden Stumpf, den befleckten Boden, die sich windenden Rinnsale, die an den Schenkeln hinabfließen, die Unterhose auf den Knöcheln, die schon ganz durchtränkt ist. Ein seltsam süßer Geruch erfüllt allmählich das Zimmer. Auch dies ist eine alles andere als angenehme Überraschung.
Der Mann hat noch keinen Ton von sich gegeben. Es ist, als spüre er tatsächlich keinen Schmerz. Sein Penis sei das letzte Stückchen Fleisch, das ihn noch mit der Welt verbinde, hatte er behauptet. Und es sei an Marino, diesen Strang zu durchschneiden. Jetzt lebt der Mann nicht mehr, und zugleich ist er noch nicht tot. Er scheint ganz in sich gefangen zu sein. Möglicherweise kringelt sich seine Lebenslinie nun zu einer Spirale, zu dieser phantastischen Gleichzeitigkeit aller Bilder, aus denen das Leben besteht. Oder wer weiß, aus welchen Visionen er die Kraft schöpft, sich über den Schmerz zu erheben. Der Mann bleibt so vollkommen regungslos stehen, dass Marino sich langsam sogar ein wenig ausgeschlossen fühlt. Kurz schießt ihm der Gedanke durch den Kopf, dem Mann noch mehr Schmerzen zuzufügen.
Doch dann beginnt das Gesicht des Mannes zu verkrampfen, und er zerrt an den Ringen, an die er gefesselt ist. Er geht ein paar Zentimeter in die Knie und spannt die Muskeln seiner blutigen Schenkel wie ein Gewichtheber in Aktion. Er vermittelt auf einmal den Eindruck, sich kaum noch auf den Beinen halten zu können.
Marino legt das Messer und den Penis auf den Tisch. Was soll er jetzt tun? Das Sich-Krümmen des Mannes macht ihn nervös. Als dieser auch noch zu schnauben beginnt und versucht, das Klebeband auf seinem Mund wegzupusten, gerät Marino in leichte Panik.
Vielleicht will der Mann ihm etwas sagen. Marino ist zwar neugierig, was das sein könnte, aber er fürchtet, der Mann könnte am Ende einfach nur losschreien.
„Wenn es wehtut, hören wir damit auf“, artikuliert er laut und nachdrücklich, aber mit zitternder Stimme. So hatten sie es schließlich vereinbart. Er zieht das Klebeband von den Lippen. Der Mann keucht schwer. Sein inzwischen schweißüberströmtes Gesicht ist rot angelaufen. Auf seiner Stirn zeichnet sich ein Aderngeflecht ab, das Marino noch nie zuvor bei ihm gesehen hat. Er riecht wild und säuerlich.
„Bind mich los … Marino … Bind mich los“, murmelt er. Einen Moment lang ist Marino drauf und dran, ihm das Klebeband wieder über die Lippen zu spannen, doch dann beschließt er zu tun, worum der Mann ihn bittet. Wer weiß, vielleicht ist alles schneller vorbei, als sie erwartet hatten.
Er löst die Schlingen an seinen Handgelenken.
„Ein Stuhl … Bring mir einen Stuhl …“, flüstert der Mann, an die Wand gelehnt. Um seine Füße hat sich eine große Pfütze gebildet.
Es war deine Idee, denkt Marino, während er den Stuhl holt. Seine Hände zittern. In dem Moment, als er sich mit dem Stuhl in den Händen umdrehen will, hört er den Schlag, mit dem der Mann auf die Seite gefallen ist. Die Augenbinde hängt nun um seinen Hals. Die Augen hat er zugekniffen. Die Unterhose noch auf den Knöcheln, windet er sich nun in seinem Blut. Er stöhnt und schluchzt. Er presst die Hände in den Schritt. Es besteht kein Zweifel: Dies ist nur noch Schmerz. Welche mentale Kraft der Mann auch von sich aus hatte und welche Kraft er zusätzlich noch von den Drogen erhoffte – dieser Körper drückt nichts anderes mehr aus als die riesige Übermacht des Schmerzes, das unentrinnbare Zupacken seiner Meridiane.
Marino stellt den Stuhl ab. Er geht wieder zum Tisch, um das Messer zu holen. Dann geht er neben dem Mann in die Knie und versucht, sich durch Abscheu und Schrecken hindurch vorzustellen, wie er das anpacken muss. Auf soviel sich windendes Elend ist er nicht vorbereitet. Er hatte gedacht, der Todeskampf des Mannes verliefe würdiger.
Plötzlich zögert er nicht länger, er macht von einer zufälligen Bewegung des Mannes Gebrauch, um dessen Kopf nach hinten zu ziehen, und schneidet ihm mit einer schwungvollen Bewegung die Kehle durch. Das Messer ist scharf, das Fleisch ist weich. Die Kraft, mit der Marino hinlangt, wird prompt durch die Strahlkraft der Schlagader erwidert. Der Mann bewegt sich schon nicht mehr. Ein Blutschwall erobert den Wohnzimmerboden.
Stunden später hockt Marino immer noch auf dem Stuhl, den er für den Mann geholt hat. Eine Totenwache, von der ihm vor allem sein immer wiederkehrendes Erstaunen über die unglaubliche Menge an Blut in Erinnerung bleiben wird. Die gleiche Menge Wasser hätte längst keinen solch katastrophalen Eindruck gemacht. Ein ultimatives Selbstporträt, in dem der Mann seinen endgültigen Zusammenbruch dargestellt und erlebt hat, in allen nur möglichen Tönen von Rot und Braun. Wie winzig sieht im Vergleich dazu das Stückchen Penis auf dem Tisch aus. Die kleine Blutspur, die aus ihm geflossen ist, erweckt in Marinos träumerischer Wahrnehmung den Eindruck, es sei aus eigener Kraft weggekrochen, weg von dem Chaos, dem es entstammte.
Dem irrwitzigen Gerücht, Marino habe den Penis gebraten und aufgegessen, muss hier entschieden widersprochen werden. In welchem kranken Hirn diese Phantasie auch entstanden sein mag, es war auf keinen Fall das von Marino. Er hat das Ding später einfach zu dem Rest ins Grab gelegt, wie im Übrigen auch die Forensiker bestätigt haben.
In Marinos Garten haben er und der Mann einige Tage zuvor eine schmale, nicht allzu tiefe Kuhle gegraben. Marino weiß noch, dass den Mann, ungeachtet seiner entschlossenen Munterkeit, eine plötzliche Niedergeschlagenheit erfüllt hatte, und das sicher nicht nur, weil das sehnige Wirrwarr aus Baumwurzeln das Graben erschwerte. Irgendwann hatte er das Graben Marino überlassen müssen. Der Anblick seines eigenen Grabes hatte eine Übelkeit erregende Panik in ihm aufkommen lassen, die er erst nach einer langen Dusche mit viel Hydromassage und Selbstverwöhnung wieder hatte abschütteln können.
Marino weiß nun zumindest, wohin mit der Leiche. Es wird übrigens allmählich Zeit, etwas zu unternehmen, wenn er bis zum Morgen alle Spuren der Ereignisse beseitigen will.
Ehe er den Leichnam begraben kann, muss laut Absprache noch eines geschehen. Es war Marinos Idee, doch jetzt, da er das Messer in den Hintern des Mannes stecken will, ist ihm die Notwendigkeit dieser Handlung nicht ersichtlich. Dies ist leider nicht der richtige Zeitpunkt, dies ist nur der vereinbarte Zeitpunkt. Doch vielleicht wird er später erneut herausfinden, warum er dies seinerzeit tun wollte. Es fällt ihm zum Glück nicht allzu schwer. Er hat inzwischen eine gewisse Erfahrung mit dem Gewicht und der Schärfe des Messers und mit der weichen Textur des Fleisches. Er muss nicht viel dabei nachdenken. Die Handlung ruft in ihm keinen besonderen Widerstand hervor, der überwunden werden müsste.
So. Es ist gut, dass Marino dies endlich aufgeschrieben hat. Ein Vergnügen war das nicht. Hier und da wurde ein Detail weggelassen, das zu widerlich war, um es in Worte zu fassen. Eine gewisse Distanz musste beachtet werden. Doch ungeachtet dieses unvermeidlichen Grades an Abstraktion und Knappheit ist dies die genaueste Wiedergabe dessen, was an jenem Abend passiert ist. Sie weicht in einigen Punkten von der Version ab, die mit Blick auf Marinos Prozess erstellt wurde. Doch das weiß niemand, außer Marino und mir.
Es hat Monate gedauert, Marino dazu zu bringen, die Geschichte aufzuschreiben. Monatelang hat er sich an einer anderen Version festgeklammert, hat er sich aufrichtig Mühe gegeben, an eine Geschichte zu glauben, die seine Richter milder stimmen sollte. Während der ganzen Zeit musste ich mich auf wütenden, hämmernden, aber machtlosen, tonlosen Protest im Vakuum des Todes beschränken. Doch diese Worte sind für mich wie frische Luft. Sie geben mir das Gefühl, wieder zu atmen.
Ich gebe ohne weiteres zu, es ist nicht mehr als ein Gefühl. Es wäre übertrieben zu behaupten, ich lebe. Schließlich habe ich keinen eigenen Körper mehr. Aber ich habe wieder eine Stimme. Wirklich tot würde ich mich selbst nicht nennen. Ich habe unglaublich große Lust zu sprechen. Und in Marinos Körper habe ich erneut einen Zuhörer gefunden. Mehr noch als einen Zuhörer. Einen Mitverantwortlichen, genau wie damals, als ich noch einen Körper hatte.

2

Über dem Waschbecken in Marinos Zelle hängt ein Spiegel, den man von der Wand reißen kann, wenn man dazu in der Stimmung ist, den man auf den Boden werfen kann, wenn man das Bedürfnis hat, den man aber nicht zerbrechen kann. Er ist nämlich aus Plastik. Man könnte sich selbst oder andere nicht mit den Scherben verletzen. Das Gefängniswesen hat einen vorausschauenden Blick. Marino ist übrigens gar nicht in destruktiver Stimmung. Er ist nur ein wenig besorgt.
Bis vor kurzem waren sich fast alle darin einig, dass Marino Mund, siebenunddreißig Jahre alt, jünger aussieht, als er ist. Doch seine heutige Lage hinterlässt allmählich deutliche Spuren. Bei einem bestimmten Lichteinfall bekommt sein Gesicht einen körnigen Charakter, den es früher nicht hatte. Man sieht dann die Nähte in dem, was früher eine glatte Einheit war. Das blasse, zerknitterte Äußere ist vor allem eine Folge des Regimes, dem er hier unterworfen ist, dem Mangel an körperlicher Bewegung, an frischer Luft, an Tageslicht, der wenig ausgewogenen Nahrung, die man ihm hier auftischt. Zum Glück ist da noch immer der feuchte Glanz in seinen graublauen Augen, frisch und lebendig wie ein Märzhimmel. Sein Blick kann noch funkeln wie der eines Kindes, wie der von jemandem, der zum ersten Mal lebt und nicht, wie so viele seiner Altersgenossen, zum zehntausendsten Mal.
Der Mund wölbt sich in einem breiten Paar fleischiger, aber überraschend weicher, glänzender Lippen hervor, Kinderlippen im Männerformat. Sie wirken nackt in dem dunklen, stachligen Schleier, von dem sie umgeben sind und der auch auf seinen Wangen liegt, obwohl er sich täglich rasiert. An Stirn und Schläfen weicht der Haaransatz zurück. Doch sein Bart...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. Kapitel 1
  5. Kapitel 2
  6. Kapitel 3
  7. Kapitel 4
  8. Kapitel 5
  9. Kapitel 6
  10. Kapitel 7
  11. Kapitel 8
  12. Kapitel 9
  13. Kapitel 10
  14. Kapitel 11
  15. Kapitel 12
  16. Kapitel 13
  17. Kapitel 14
  18. Kapitel 15
  19. Kapitel 16
  20. Kapitel 17
  21. Kapitel 18
  22. Kapitel 19
  23. Kapitel 20
  24. Kapitel 21
  25. Kapitel 22
  26. Kapitel 23
  27. Kapitel 24
  28. Kapitel 25
  29. Kapitel 26