Die Netzwerk-Orange
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Die Netzwerk-Orange

  1. 328 Seiten
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Die Netzwerk-Orange

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Über dieses Buch

Wir befinden uns in der Hauptstadt eines Unionsstaats im Jahr 2025. Die Gesellschaft funktioniert, der Einzelne fühlt sich einzeln. Doch kleine Verbesserungen tun immer Not. Der ehemalige Psychologieprofessor Franzer, nun mehr Ministeriumsbeamter, versucht seine Lieblingsstudentin zu überzeugen, an seinem Projekt eines automatischen Netzwerk-Therapeuten, dem Cyberpeuten, der Hilfesuchende mit Lehrfabeln versorgt, mitzuarbeiten. Dazu durchwandern sie wie in einem Tableau vivant eine in soziale Segmente gesplittete Welt - die Netzwerk-Orange. Doch eine Gruppe Studierender ist unzufrieden. Jack, Caren und Cathy ahnen, dass hinter der perfekten Fassade der Union geheime Mächte Angebot und Nachfrage steuern.Utopie oder Dystopie? Oder schon Realität? Die Netzwerk-Orange stellt die Frage, was in der "Verhaltensbox" Welt vom Einzelnen bleibt, wenn man die stabilisierenden Einflüsse des Netzes abzieht. In nüchtern-bürokratischem Stil und mit viel Ironie schreibt sich Thomas Raab auf die literarische Bühne zurück und versucht, die Aufgabe der Gesellschaftsbeschreibung von Soziologie und Ökonomie für die Literatur zurückzuerobern.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783903081017

1

Mittwoch

Der Brandungsbrecher
Scleractinia spp.
Schräg ins Schelfmeer einfallend durchfluten diffuse Sonnenstrahlen das blaugrüne Wasser. Korallenpolypen wiegen langsam hin und her. Sie leuchten violett, grün, rot, blau, orange. Zwischen ihnen schwänzeln bunt gemusterte Fischchen und Fische. Gleichsam liebevoll streichen sie über die geschwungene Silhouette des Riffs, das in der Ferne in erhabenem Graugrün versinkt.
Die Brandung wogt sanft über das Riff. Natürlich kann sie bisweilen mächtig werden, je nach Wetterlage. Augenblicklich aber greifen die Wellen in die Tiefe aus und streicheln über den Saum der stummen Landschaft. Ein Rotfeuerfisch mit seinen langen Flossenstrahlen schwebt über einem gelblich schimmernden Ensemble aus Feuerkorallen. Da – ein kecker Zackenbarsch richtet seine stierenden Augen auf den Staunenden. Seine weißen Pünktchen schimmern, als wären sie kleine Brillanten.
Majestätisch gleitet im Hintergrund ein Requiemhai durch eine riesige Schule von Großaugenschnappern, die ihm, einem einzelnen Organismus gleich, ruhig und scheinbar koordiniert den Weg freigeben. Scheinbar ziellos, einzig getrieben von Milieugradienten schlängelt der Hai den Riffabhang hinab und verschwindet langsam in Richtung der Lagune, die eine ausgedehnte Unterwasserwüste ist. Schräg unter ihm zeichnet sich, etwas trübe, aber dennoch rot leuchtend, ein fünfzackiger Seestern ab.
Zwei Süßlippen schwänzeln hinter einem kleinen Wäldchen Geweihkorallen hervor. Lustig schieben sie sich an einem Schwarm von Fledermausfischen vorbei. Ein archaisch wirkender Angler verzieht sich zügig zwischen zwei fein verästelten Tischkorallen, unter denen – ist’s wahr? – der Kopf der scheuen Muräne hervorlugt.
Am Rand des Riffs leuchten vereinzelt ein paar grellweiße Gehirnkorallen, deren Fissuren und Sulci geometrisch markant ins Auge fallen. Die Muräne schnellt erst zurück, als die Schaumkrone eines größeren Brechers sanft über die zum Ozean hin offene Riffseite Richtung Lagune ausfährt.
Darwin stellte sich die Frage, warum im nährstoffarmen Milieu der Lagune so viele Arten in ihrer Pracht gedeihen können. Die Frage ist als ökologisches Riffparadox bekannt. Niemand hat sie bis heute gelöst. Wie eine Oase erhebt sich das Riff in der Nährstoffwüste. Das fragile Gleichgewicht von Nährstoffkonsum und Nährstoffproduktion darf nicht durch äußere Einflüsse gestört werden.
Über das Äon hin wird auch dieses Riff fossiler Riffkalkstein werden.
Franzer legte das Blatt bedächtig auf den Schreibtisch und blickte Buresch sanft an. Sie befanden sich in Franzers Büro.
„Jede Überzeugung, die über die unmittelbarsten Lebensbelange eines Menschen wie Essen, Schlafen und Sexualität hinausgeht, gibt diesem zwar innerlich Orientierung, kann ihm aber äußerlich große Schwierigkeiten bereiten“, sagte Franzer.
Skrupulös streifte er die Asche, die sich am Ende seines Zigarillos Marke El Credito gebildet hatte, zu einem rot und gelb glühenden Kegel ab. Der silberne Ministeriumsascher stand auf einem Beistelltischchen etwa zwei Meter rechts neben der Büroeingangstür.
Buresch und Franzer hatten Hände geschüttelt und befanden sich noch in Türnähe. Zigarillos von El Credito waren nicht teuer, gaben aber wohl Mut und rundeten die Persönlichkeit ab. Man schrieb das Jahr 2025. Man ist offenbar leicht zu überzeugen, wenn man nicht zu sehr damit beschäftigt wird nachzudenken, wovon man überzeugt wird.
„Ja, aber“, antwortete Buresch. „Ja, aber es sind doch alle zu Recht überzeugt, wenigstens echte Menschen zu sein!“
„Natürlich“, fuhr Franzer fort, „deswegen gibt es doch letztlich keine wirklichen Ausreißer mehr. Endlich haben sich alle auf die Utopie Mensch geeinigt!“
Er zog an seinem El Credito und wirkte sichtlich befriedigt. Schon als Student war er nicht nur auffallend begabt, sondern auch bereits Raucher gewesen.
„Seit der Erklärung der Neuen Menschenrechtskonvention der Union“, sinnierte er, „gibt es …“
Er stockte, es wollte nicht.
„Buresch“, fuhr er fort, „ich werde alt und habe die Jahreszahl der Neuen Menschenrechtskonvention vergessen!“
Ach ja. Buresch musste lächeln.
„2016, eine runde Zahl“, gab sie zurück. Sie war einst Franzers Lieblingsstudentin gewesen.
„Mit Utopie Mensch meinen Sie jedenfalls das, was Sozialpsychologen den Minimalkonsens nennen“, sagte Buresch beinahe ehrgeizig.
Franzer drehte sich derweil um und marschierte langsamen Schrittes auf das nach Süden hin geöffnete Fenster zu, durch das eine wunderbar gelbgrauorange Sonne schräg ins Büro schien.
„Der Minimalkonsens ist der Kern der Sache, der Kern der Berechnung. Natürlich ist er in der Konvention implizit festgeschrieben, aber dennoch hat er sich von selbst entwickelt. Kurz, niemand hat ihn erfunden. Er ist eine anthropologische Tatsache. Der Minimalkonsens liegt in der Natur des Menschen selber. Deshalb akzeptieren ihn fast alle, ohne dass sie groß über ihn nachdenken müssten.“
Er blickte durchs offene Fenster, starr, wie es Buresch wohl schien.
„Abgesehen von ein paar Studenten …“ murmelte sie fast verheißungsvoll.
Franzer fuhr fort: „Was aber ist mit den vielen für uns Forscher unwichtigen Überzeugungen, die den Einwohnern doch oft viel wichtiger sind als der Minimalkonsens? Kleine Dinge. Aber auch so genannte Sinnfragen. Ich denke an Worte wie Gleichheit, Gerechtigkeit oder Freiheit. Solche Worte können immer noch zum Zerfall der Gesellschaft führen …“
Und also hatte Franzers und Bureschs neuerlicher Kontakt mit einer Diskussion begonnen, wie er Jahre zuvor mit einer Diskussion geendet hatte.
„Alle brauchen jedenfalls gewisse Ziele“, äußerte Buresch gerade, immer noch vor Franzers Schreibtisch stehend.
„Soviel steht fest“, gab Franzer zurück, „genau das heißt eben Menschsein – hoffen.“
Buresch schien noch nicht ganz zufrieden, ihr beider Bonding noch nicht hergestellt.
„Und gemeinsame Hoffnungen sind der Kitt der Gesellschaftsgruppen“, sagte sie, „jener Segmente, auf denen unser Staat beruht.“
Sie blickte Franzer von hinten sichtlich erwartungsvoll an, doch er gab keine richtige Antwort, sondern murmelte bloß „Staat?“.
Buresch starrte jedenfalls in Franzers Rücken. Anzugsrücken, Farbe unwichtig. Er blickte aus dem Fenster. Die Autos, die Büros, Menschen, der Sauerstoff. Ihr wurde anscheinend unbehaglich, weil sie Franzer auf den Rücken starrte und ihren Blick aus Diskretion oder Angst oder Langeweile nicht durchs Büro wandern lassen konnte. Aschenbecher, Schreibtisch, Fenster, Rollläden, Beistelltischchen. Also setzte sie sich in den vor Franzers Schreibtisch einladend aufgestellten Korbsessel. Hatte er diese Situation im Voraus geplant?
Die etablierten Glieder der Gesellschaft sind gebildet, erfolgreich und selbstbewusst. Sie leben, arbeiten und konsumieren auf hohem Niveau und haben ihr Leben unter Kontrolle. Ihre Fixanstellungen ermöglichen es ihnen, so gut sie nur können, Werbung, Fernsehen und Stellenangebote zu ignorieren.
Lola Buresch war damals, bevor Franzer von der lokalen Universität ins Ministerium für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung gewechselt war, dessen Studentin gewesen. Gerade hatte sie sich mitten in der Anfertigung ihrer Dissertation in Ökopsychologie befunden, als Franzer den Ruf ans Ministerium nicht hatte ablehnen können oder müssen. Jetzt stand sie kurz vor dem Abschluss der Arbeit, Franzer immer noch Zweitgutachter, extern. Mit 42 Jahren war für sie naturgemäß noch nichts zu spät. Ein Ausdruck ihres Manuskripts stapelte sich ungebunden auf Franzers Büroschreibtisch. Da ist es.
„Setzen Sie sich doch“, sagte Franzer, der weiterhin aus dem Fenster starrte. Autos, Menschen. Er nagte am Stumpf seiner El Credito.
„Ich sitze bereits“, antwortete Buresch.
Hatte er nicht gehört, dass sie sich bereits gesetzt hatte – oder war dies Teil seiner Inszenierung? Sie hatten sich mehr als zwei Jahre lang nicht gesehen; Franzers ehemaliger Assistent, nunmehr selbst mit Lehrbefugnis, hatte die Erstbetreuung ihrer Dissertation übernommen. So konnte es sein, dass Buresch Franzer mittlerweile nicht mehr gewohnt war. Dennoch war er bei der Fertigstellung der Abschlussarbeit immer, ohne dass sie es gewahr geworden wäre, verstärkend anwesend gewesen.
„Man darf Menschen niemals bestrafen, sondern muss sie, wenn ihre Überzeugungen schädlich werden, sachte und didaktisch auf den Boden des Minimalkonsenses zurückholen“, setzte Franzer, der Sonne zugeneigt, fort. „Wir haben hier im Ministerium mithilfe von Computertechniken eine Prozedur entwickelt, die genau das ermöglicht.“
Er gönnte sich eine Pause. „Diese Prozedur packt die Leute bei ihrer Intelligenz!“
Buresch schlug das linke über das rechte Bein – gutes Aussehen ist nicht so wichtig – und räusperte sich.
„Ich würde gerne über meine Dissertation sprechen“, versuchte sie das Thema zu wechseln.
Franzer drehte sich zu ihr um. Er legte den kurzen Weg zu seinem Schreibtischsessel zurück und setzte sich, den Blick neutral verloren auf Bureschs typisches Gesicht gerichtet.
„Ihre Dissertation ist, nicht anders als ich erwartet habe, natürlich sehr gut“, sagte er und langte, gerade noch bevor die Asche seines El-Credito-Zigarillos auf die sauber schwarze Schreibtischoberfläche fallen konnte, zu dem ihm rechter Hand stehenden zweiten Büroascher aus dunkelgrauem Blei und schnippte die Asche ab.
„Sie sind die beste Psychologin, die ich kenne – außer mir vielleicht“, sagte er verschmitzt. „Ich würde Sie gerne ins Ministerium holen.“
Franzer lächelte beinahe gewinnend, als würde er die überraschende Wirkung seines unvermittelten Vorstoßes vorhersehen.
Buresch wurde in der Tat sichtlich unwohl zumute. Ihr Plan war doch offenbar gewesen, Franzer nicht nur von ihrer ökopsychologischen These zu überzeugen, sondern auch seine Unterstützung für weitere akademische Arbeiten, die auf dieser These aufbauen sollten, zu gewinnen! Artikel, Vorträge, Gastprofessuren mussten geradezu auf ihrer Agenda stehen.
„Ihr Plan war bestimmt, mich von ihrer ökopsychologischen These zu überzeugen und meine Unterstützung für weitere Forschungen zu gewinnen“, sagte Franzer.
Da fing Buresch ihn gewiss zu lieben an. Er war auch ganz offensichtlich der intelligenteste Mensch, den sie je kennengelernt hatte, sie war ihn nur nicht mehr gewohnt.
Die Etablierten sind jenes gesellschaftliche Leitsegment, das seinen persönlichen Status nicht zur Schau stellen muss. Understatement ist die Devise. Dennoch sind sie Themen wie Karriereplanung, Altersvorsorge und Vermögensaufbau gegenüber aufgeschlossen. Letzteres gilt für alle Geldanlagen von Gold über Immobilien bis zu Aktienfonds, Optionsscheinen und Staatsanleihen.
„Ihre These über den Zusammenhang von Wohlstand in der Union und der psychischen Ökonomie des Einzelnen ist schlicht und einfach sehr gut“, äußerte Franzer jetzt, und Buresch schien erleichtert.
„Ja, es ist wohl erwiesen“, sagte sie, wohl um der Peinlichkeit des offensiven Lobs etwas entgegenzusetzen, „je wohlhabender die Leute, desto weniger streben sie nach anwendbarem Wissen und kümmern sich stattdessen, den Lebensstil in ihrem Referenzsegment zu kopieren. Reüssieren sie im Stil, fühlen sie sich als freie Individuen und damit glücklich.“
Franzer nickte.
„Meine Datenlage ist aber noch schwach“, fügte Buresch wie bescheiden hinzu.
„Wir hab...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. 1 Mittwoch
  5. 2 Donnerstag
  6. 3 Freitag
  7. 4 Samstag
  8. 5 Mittwoch
  9. 6 Samstag
  10. 7 Dienstag
  11. 8 Donnerstag
  12. 9 Donnerstag
  13. 10 Freitag
  14. 11 Mittwoch
  15. 12 Montag
  16. Inhalt