Notschek
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Notschek

  1. 300 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

"Ich fessle dich. Gefesselt bist du frei." - Bedingungen von Selbstbestimmung und persönlicher Identität sind ein zentrales Thema in Jonas-Philipp Dallmanns spannendem Debütroman.Als Notschek in die Mansarde zieht, kommt Unruhe in das abgelegene Vorstadthaus, in dem der Ich-Erzähler mit seiner Frau Maria lebt. Eigentlich soll Notschek nur vorübergehend Unterschlupf finden, aber sein Aufenthalt zieht sich in die Länge. Der nervöse Bohemien spielt sich als Rechthaber auf, er politisiert, verschlingt Zeitungen und sitzt in Wirtshäusern herum. Er scheint jedoch als Einziger eine beunruhigende Entwicklung zu verstehen: Kontingentierung lässt die Lebensmittel knapp werden, die Zeitungen werden verboten und eine Ausgangssperre wird verhängt.Das Leben verengt sich auf das Vorstadthaus und die Dreiecksbeziehung der Bewohner, die sich zunehmend mit sinnlosen Verrichtungen beschäftigen: Notschek ordnet einen Nachlass, Maria zeichnet Wäsche und der Ich-Erzähler patrouilliert durch Haus und Garten. Von einem Nachbarn erhält er eine Warnung - kurz darauf ist dieser verschwunden.Jonas-Philipp Dallmann spannt den Leser gekonnt auf die Folter. Seine Sprache und der unerwartete Handlungsverlauf entfachen einen geradezu klaustrophobischen Sog. Das scheinbar harmlose Kammerspiel um einen schrulligen Wichtigtuer und dessen grüblerischen Beobachter entpuppt sich als kafkaesk-orwellsche Gesellschaftsvision, in der die politischen Utopien und Wahnideen des 20. Jahrhunderts bruchstückhaft aufscheinen.

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Information

Jahr
2011
ISBN
9783902844019

Die Wohnung

Seit Stunden sitzen wir jetzt in Tomeks Wohnung (nein, in Tomeks Räumen, eine Wohnung kann man es nicht wirklich nennen), und nur langsam begreife ich, worüber Notschek und Tomek sprechen, welche Zusammenhänge sie erörtern, und wie sehr Maria und ich selbst durch das betroffen sind, was Tomek berichtet. Es ist unbegreiflich, und noch verstehe ich kaum die Hälfte all dieser Dinge. Aber bevor ich es nachzuerzählen versuche, muss ich zunächst den seltsamen Ort schildern, an dem dieses Gespräch statt-findet.
Tomek lässt uns sofort herein, gleich nachdem Notschek geklopft hat, öffnet er – fast scheint es, als befürchte er auf dem Gang eine Gefahr, denn er späht einmal prüfend herum, bevor er die Tür hinter uns schließt.
Tomek schüttelt mir die Hand, dann umarmt er Maria, die diese Herzlichkeit etwas verwundert über sich ergehen lässt; schließlich begrüßt er Notschek, als seien die beiden vor wenigen Minuten auseinandergegangen. Dabei tauschen Tomek und Notschek einen Blick, den ich nicht begreife und der sich wohl auf ein Geheimnis bezieht, das die beiden miteinander haben. Gleich fällt mir auf, dass Tomek noch immer seine alte Fellweste trägt und dass er im Gesicht schmaler geworden ist.
Wir stehen in einem kleinen Vorraum, einer Diele, deren Wände mit dunkelroter Farbe bemalt sind. Rechts hängt ein schmaler Spiegel und eine Kleidergarderobe, an der wir unsere Mäntel aufhängen. Das Gepäck, Notscheks Rucksack und unsere Taschen, stellen wir auf den Boden.
Sofort beginnt Tomek mit einer Führung durch seine Wohnung. Diese etwas überstürzte Vorführung seiner Räume begründet er mit den Worten, dass ein jeder erst sehen müsse, wo er angekommen sei; dabei nickt Tomek mit dem Kopf und zieht die Mundwinkel herab, als könne er für die Beschaffenheit der Zimmer nicht ganz die Verantwortung übernehmen. Er dreht sich um, öffnet eine zweiflüglige Tür und deutet wortlos auf eine Flucht von Räumen, eine Abfolge von Zimmern und Türdurchgängen. Nachdem er die Tür in eine Halterung am Boden gehakt hat, geht er voran ins erste Zimmer. In Tomeks Gang ist eine Vorsichtigkeit gekommen, denke ich, als ich bemerke, wie behutsam Tomek auftritt.
Wir betreten einen Raum mit ockerfarbenen Wänden, der kaum größer ist als der Flur, nur ein wenig langgestreckter. Zwei große Schränke und eine Kommode stehen darin. Mit ausgestrecktem Arm die Schränke abgehend, macht Tomek uns auf Verzierungen an den Türen aufmerksam, Schnitzereien, die sich kompliziert ineinander verschlingen und ovale Medaillons umschließen. Nun beginnt Tomek, die Schubladen der Kommode zu öffnen. Sie enthalten offenbar Putzmittel und Silbersachen, die in Tücher gewickelt sind. Während Tomek einzelne Silbersachen aus ihrer Umhüllung wickelt, sie ins Licht zieht, um sie Maria vorzuführen, blicke ich mich genauer um.
Erst jetzt begreife ich, wie seltsam Tomeks Wohnung geschnitten ist: Sie besteht offenbar nur aus einer langen Flucht von Kabinetten, die hintereinandergereiht sind wie Perlen an einer Schnur; die ganze Wohnung ist eigentlich nichts als ein Korridor. Der Eingang liegt an einem Ende dieses Korridors, und so blickt man beim Hereinkommen direkt zu seinem anderen Ende hin, das vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Meter entfernt ist. Die Zimmer oder Kammern sind mit hohen Türen verbunden, und jeder Raum ist in einer anderen Farbe getüncht: der erste in mattem dunkelrot, dann folgt ein Raum mit ockerfarbenen Wänden, dann einer in seegrün, das nächste Kabinett ist himmelblau ausgemalt, das darauffolgende hat hellgelbe Wände, dann folgt eines in tannengrün, und ganz am Ende des Ganges ist ein aschgraues Zimmer zu sehen. Fenster scheint es nicht zu geben, nur Oberlichter, die zu einem Innenhof blicken, denn ihr Glas ist geriffelt und undurchsichtig. Die Zimmer sind hoch; erst weit über dem Türdurchgang des Raumes, in dem wir stehen, beginnt ein umlaufender Fries, und dann folgen Simse und Umrahmungen mit Zahn-leisten und Konsolen, die schließlich in eine flachgewölbte Decke übergehen. In ihrer Mitte sitzt eine Stuckrosette, und dort hängt eine Lampe, die einer Straßenlaterne ähnelt.
Tomeks Räume sind dicht möbliert. Fast überall bedecken Schränke, Regale oder Borde die Wände, und in der Mitte stehen Sessel, Sofas und Stühle; nur ein schmaler Durchgang in der Mitte des Korridors ist immer freigehalten. Tomeks Wohnung, denke ich, wirkt wie ein prächtiger, aber enger Nebengang von Räumen, die aus irgendeinem Grund nicht mehr vorhanden sind.
Tomek hat die Vorführung der Kommodendinge inzwischen beendet und führt uns weiter in den Raum mit den seegrünen Wänden. Auf beiden Seiten stehen schmale Holztische, und darüber sind Borde angebracht, in denen Lebensmittel, Konserven und Behälter verschiedener Größe aufgestellt sind. Ich entdecke Gläser mit Einmachobst, die offenbar aus den Beständen des Fruchtertrages herrühren; Notschek hat sie Tomek wohl bei einem seiner letzten Besuche geschenkt. In einer Ecke sind ein kleiner Herd und ein Wandausguss zu sehen, und darüber befindet sich eines der schmalen Oberlichter. Tomek erklärt uns die Vorrichtung, mit der man es öffnen kann: Zunächst muss man eine Stange hinter einem Schrank hervorholen, ihr Ende, das mit einem Haken versehen ist, in eine Öse am Fensterrahmen einklinken und das Fenster dann vorsichtig herunterziehen. Tomek führt es uns vor; er holt die Stange hinter dem Schrank hervor, ergreift sie, geht in die Hocke, bewegt sie über dem Kopf hin und her und blickt angestrengt hinauf, während er das Instrument einzuhaken versucht. Einen Augenblick lang erinnern seine Haltung und sein Gesichtsausdruck mich an Notschek, Notschek bei der Apfelernte. Ich blicke zu ihm hin; Notschek beobachtet das Fenster, vor dem der Stab schwankt, ohne die Öse finden zu können. Schließlich gelingt es Tomek, sie zu erreichen, eine zufällige Bewegung lässt den Haken einrasten, und mit einer schnellen Bewegung zieht Tomek ihn zu sich herunter. Quietschend öffnet sich ein schmaler Fensterflügel, und durch die entstandene Öffnung blicken wir in eine stumpfe Schwärze – in einen Lichtschacht, wie Tomek erklärt, was seltsam klingt, da der Schacht doch dunkel ist. Aus der Schwärze klingen Geräusche herauf; Stimmen und das Surren einer Maschinerie. Kurz glaube ich, das Geräusch wiederzuerkennen, das ich schon im Treppenhaus gehört habe und das sich anhört, als öffne jemand die Türen von Metallschränken. Spinnweben hängen an dem Scharnier des Fensterflügels; jetzt dringt ein kalter Luftzug herunter.
Tomek verschließt das Oberlicht wieder mit Hilfe des Stabes und stellt ihn ordentlich zurück hinter den Schrank. Einen Moment lang überdenke ich die Umständlichkeit dieser ganzen Anordnung und will Tomek befragen, warum er den Stab hinter dem Schrank aufbewahre, warum er ihn nicht einfach fest mit dem Fensterflügel verbinde, aber gleich habe ich diesen Gedanken wieder vergessen.
Tomek wendet sich nun dem nächsten Raum zu, dem Zimmer mit den himmelblauen Wänden. Auf beiden Seiten sind Sessel und Sofas aufgereiht, sodass ihre Aufstellung an ein Eisenbahnabteil erinnert. Tomek erklärt uns diese Form der Möblierung mit Rücksichten auf die Bequemlichkeit, die er habe nehmen müssen. Einige der Sessel, die mit ihren Füßen weit in den Raum ragen, seien alt, erklärt Tomek, ihre Polsterung sei schadhaft. Andere wiederum seien für die alltägliche Benutzung zu schade, zu wertvoll – über ihre Sitzflächen hat Tomek kordelartige Schnüre gespannt. Plötzlich komme ich mir vor wie bei einer verunglückten Schlossbesichtigung. Weiß Tomek eigentlich, was er tut, denke ich, während ich beobachte, wie er mit den Fingern die Polsterung eines Sessels prüft, den rötlichen Samt knetet, ihn tief eindrückt, um ihn dann zurückschnellen zu lassen. Notschek beobachtet Tomeks Vorführungen aufmerksam; bald drückt er ebenfalls an dem Stoff herum, setzt sich, wie in einem Möbelgeschäft, in den Sessel und blickt von dort lächelnd um sich, die Hände breit auf den Lehnen. Tomek kommt nun weitläufig auf die Geschichte des Sessels zu sprechen; er erzählt davon, wie er ihn bei einem Trödelgeschäft aufgetan, wie er ihn entdeckt hat, und auf welche Weise er in die Oststadt transportiert worden sei; für den Transport hat er, Tomek, eigens einen Handwagen organisiert und ist mit ihm mehr als zehn Kilometer durch die Stadt gezogen.
Die Ausführlichkeit, mit der Tomek die Vorführung der Wohnung durchführt, verwundert mich. Immer noch haben wir ja nicht erfahren, warum wir so schnell zu ihm kommen mussten, was eigentlich der Grund unseres Besuches ist. Außerdem ist es spät, wir sind von der Reise müde, erschöpft. Wird Tomek uns nicht endlich eine Schlafgelegenheit anbieten, denke ich. Aber noch immer ist er mit seinen Vorführungen beschäftigt. Er öffnet eine Klappe in der Wand, hinter der sich ein eingebauter Schrank verbirgt, der, wie Tomek erklärt, zur Aufbewahrung von Erfrischungen dient. In seine Rückwand sind runde Löcher geschnitten, die eine Verbindung zu einem Lüftungsschacht haben. Immer wieder öffnet und schließt Tomek die Klappe, dabei blickt er lächelnd zu Maria, die ihm zunickt, während sie mit einer Hand eine Strähne aus dem Gesicht zu schieben versucht.
Man muss Tomek verstehen, denke ich, Tomek lebt allein, sicher hat er nur selten Besuch. Tomek freut sich, uns die Wohnung vorführen zu können. Tomek steht ja allein, denke ich. Und um Tomeks Erklärungen abzukürzen, ihm wohl zu tun, beginne ich, die Einrichtungen und Anordnungen des Inventars zu loben, was Tomek zu freuen scheint. Mit verlegenem Grinsen blickt er zur Decke, wehrt meine Worte mit Zierlichkeit ab, bezeichnet die Wohnung als Provisorium, als Übergangslösung, die sich schnell, allzu schnell verfestigt habe, von der er jetzt aber nicht mehr lassen könne. Gleichzeitig ruft mein Lob aber auch, gegen meine Absicht, neuen Eifer hervor: Tomek setzt die Führung fort und leitet uns ins hellgelbe Zimmer, welches offenbar das Badezimmer ist. Eine Wand des Raumes ist bis in Augenhöhe mit gelblichen Fliesen bedeckt, und in Hüfthöhe hängen zwei Waschbecken aus Porzellan. Tomek erklärt uns nun die Bedienung der Wasserhähne und des Wasserstöpsels, der an einer langen Kette befestigt ist, die Anordnung der Seifenschalen und die Benutzung der Bürsten, die sehr zart erfolgen müsse. Dann wendet er sich einer Ecke zu, die mit einem dünnen Vorhang abgeteilt ist. Tomek zieht ihn zur Seite, und man sieht, dass dort eine Klosettschüssel aufgestellt ist; über ihr hängt ein unförmiger Wasserkasten. An dem Kettenzug der Spülung hat Tomek einen orange-braunen Fellpuschel befestigt, der wie der Schwanz eines Fuchses aussieht. Mit ruckartigen Bewegungen zieht Tomek daran, nach einigen Versuchen löst er schließlich die Spülung aus, ein Rauschen ertönt, und die Klosettschüssel füllt sich mit Wasser. Kurz bevor sie überzulaufen droht, lässt der Zufluss des Wassers aber nach, und langsam beginnt es nun abzulaufen. Während es gurgelt, hält Tomek den Fellpuschel in der Hand und blickt in die Schüssel, bis das Wasser ganz abgelaufen ist, lächelnd sieht er ihm sozusagen dabei zu, während er gleichzeitig immer wieder zu Maria und Notschek späht, als sei die Vorführung des Klosetts ein Kunststück, dem die Anerkennung nicht versagt werden dürfe. Dann gibt er uns den Rat, die Spülung nicht zu oft auszulösen und abzuwarten, bis das Becken ganz geleert sei, was Notschek mit zustimmendem Nicken beantwortet. Auch Maria tritt an den Kettenzug und betastet einen Augenblick lang den Puschel.
Danach führt Tomek uns weiter, immer den langen Wohnungs-Korridor entlang, nun in das tannengrüne Kabinett, das als Arbeitszimmer dient. Hier hat Tomek seinen Tisch, einen altertümlichen Schreibsekretär, und einen Bürosessel aufgestellt. Regale mit Büchern und Aktenordnern bedecken die Wände, und auf dem Boden liegen Bündel von Papier. Plötzlich erinnert der Raum mich an die Mansarde, an Notscheks Mansarde. Hat auch Tomek seine Wohnung nicht längst überhäuft, denke ich, während ich das Papier ansehe. Der schadhafte Fußboden des Ganges draußen vor der Wohnung fällt mir ein, der Gang, in dem leicht Unfälle möglich sind. Tomek öffnet Fächer und Klappen des Sekretärs, schaltet die Tischleuchte ein (ein milchig helles Licht verbreitet sie) und lässt schließlich sogar Notschek Platz nehmen. Notschek setzt sich breitbeinig auf den Bürosessel und legt die Hände auf die Tischplatte, dann greift er prüfend zum Aufbau des Sekretärs und in einzelne Fächer, wie, um sich davon zu überzeugen, dass sie in einer zweckmäßigen Höhe angeordnet sind. Er hebt den Briefbeschwerer, wiegt ihn; schließlich nimmt er einen Stift in die Hand und kritzelt etwas auf ein Stück Papier. Dabei blickt er immer wieder zu Tomek, der Notscheks Versuche durch praktische Ratschläge unterstützt; er zeigt Notschek, wie der Sessel mit einem Hebel in der Höhe verstellt werden kann und wie man an der Seite des Sekretärs ein Geheimfach öffnet. Maria hat sich von Tomeks Vorführungen abgewandt, sie steht vor dem Bücherregal und liest mit angewinkeltem Kopf die Titel der Buchrücken.
Ich blicke zurück auf die Enfilade der kleinen Räume, der Kabinette von Tomeks Wohnung. In keinem der Räume fühlt man sich recht am Ort, recht angekommen, denke ich, immer will man in den nächsten hinübergehen, aber auch dort verspürt man einen Sog, der von dem darauffolgenden ausgeht, und eigentlich könnte man beständig zwischen ihnen hin- und herlaufen, von einem Ende des Korridors zum anderen, ohne je in der Wohnung anzukommen. Tatsächlich, im Grunde ist die Wohnung von Tomek gar nicht erreichbar, denke ich; eigentlich sind wir gar nicht in ihr angekommen, nur vorübergehend nehmen wir hier ja unseren Aufenthalt. Die Oststadt, denke ich auf einmal, indem ich mir den Laut des Wortes langsam in Gedanken vorsage; sind wir denn nun tatsächlich in der Oststadt angekommen? Fast scheint es mir in diesem Augenblick, als hätten wir bisher kaum ihren Rand erreicht, als sei die Oststadt von Tomeks Wohnung weiter entfernt als von unserem Haus. Aber doch sind wir ja hier, denke ich dann, mitten in der Oststadt sind wir nun, dort, wo sich auf der Karte alles schwarz und undurchdringlich zusammenzieht. Und einen Augenblick lang glaube ich die Kälte des Zugwindes in den Gängen zu spüren, obwohl Tomeks Wohnung gut geheizt ist.
Notschek und Tomek stehen immer noch über dem Schreibtisch. Tomek erklärt Notschek die Handhabung der Schreibmaschine, bewegt verschiedene Hebel und lässt den Schreibmaschinenwagen hin- und herfahren, wobei eine Glocke ertönt. Maria hat sich auf einen Sessel gesetzt, mit langsamen Bewegungen blättert sie in einem Buch mit olivgrünem Einband; ihre Lider sind halb geschlossen.
Wie lange will Tomek uns noch aufhalten, denke ich, während ich beobachte, wie Tomek ein Stück Papier in die Maschine spannt, wie lange sollen wir noch hier sitzen? Ich blicke auf die Uhr, es ist schon nach drei Uhr morgens. Will Tomek uns nicht endlich eine Schlafgelegenheit anbieten, denke ich, und in einem plötzlichen Entschluss trete ich an Tomek heran. Ich muss Tomek jetzt zur Rede stellen, denke ich, Maria und ich sind in der Schwebe, wir wissen ja gar nicht, woran wir sind. Tomek muss endlich Auskunft geben, ob er uns beherbergen will. Und ich hüstele Tomek an und versuche im beiläufigen Tonfall einen Hinweis auf die fortgeschrittene Uhrzeit.
„Fast drei Uhr ist es ja schon”, sage ich, indem ich diese Tatsache durch einen bedauernden Tonfall als eine Sache hinzustellen versuche, für die niemand die Verantwortung trägt, die aber nun einmal existiere und auf die man zu reagieren habe.
Tomek blickt nicht auf; gerade ist er dabei, an der Schreibmaschine irgendetwas einzuregeln – nur Notschek sieht kurz zu mir herüber, mit einem Blick, der eine Art Beschämung enthält, als hätte ich mit der Erwähnung der Uhrzeit gegen ein Gesetz der Höflichkeit verstoßen. Da Tomek meine Bemerkung offenbar nicht gehört hat, beginne ich erneut.
„Wir sind ja auch schon lange unterwegs”, sage ich, „...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Widmung
  6. Zeitungen
  7. Die Mansarde
  8. Kontakte und Korrespondenz
  9. Apfelernte und Fruchtertrag
  10. Lebensmittelkarten
  11. Die Warnung
  12. Flüchtlinge
  13. Ausgangssperre
  14. Einkäufe
  15. Unruhe
  16. Der Speicher
  17. Die Wäschezeichnung
  18. Schuld und Müdigkeit
  19. Der Aufbruch
  20. Die Maler
  21. Die Oststadt
  22. Der Block
  23. Die Wohnung
  24. Die Kette
  25. Die Umlegung
  26. Der Schreibblock
  27. Die Hochakademie