Hinter den Augen
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Hinter den Augen

  1. 128 Seiten
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Hinter den Augen

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Über dieses Buch

Eine Frau unterzieht sich einer Untersuchung in einem Magnetresonanztomographen: Sie sieht verschwommen, ein möglicher Gehirntumor soll ausgeschlossen werden. In dieser knappen Stunde erzwungener Unbeweglichkeit auf sich selbst zurückgeworfen, schneiden ihre Gedanken analog zu den Aufnahmen des Gerätes quer durch ihr bisheriges Leben, legen Momente von Angst, Schuld und Liebe frei. Tom ist tot. Alma verheiratet. Steven im Fernsehen. Barto schläft sicher noch. Oder wartet er schon auf ihren Anruf? Vielleicht wäre er doch besser mitgekommen. Und ihr Vater? Wieso hat er diesen Satz fallen lassen, dass die Mutter ihn zurückgeholt habe? Was hat er damit gemeint?In sich überlagernden Schnittbildern untersucht Ulrike Ulrich in gewohnt genauer und mit feiner Ironie durchsetzter Sprache die Fragen nach Verantwortung und Schuld, nach Vergebung und Sinnhaftigkeit. Ihr kluger, sensibel gewobener Text wächst und verzweigt sich durch die Labyrinthe menschlicher Beziehungen zu einem tomographischen Roman über die Möglichkeit zur Veränderung.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783902844088
Ich kenne den Ablauf. Ich kenne das alles, wenigstens diesmal keine Kontrastflüssigkeit schlucken. Sie müsste ja gleich zu Kopf steigen. Wie Alkohol. Wenn Alkohol Tumorzellen für Gehirnzellen halten könnte. Und ich das für eine Routineuntersuchung. Haben sie ja gesagt. Draußen. Routineuntersuchung. Wieso darf ich nicht mit den Füßen wackeln, wenn sie meinen Kopf in Scheiben zerlegen? Wieso mussten sie mich überhaupt so weit hinein? Wollen sie sehen, ob ich ein Herz habe? Bloß weil mir alles verschwimmt. Bloß wegen der Augen. Verregnete Fenster. Und findet nicht alles Leben in Röhren statt? Der Lärm, den dieses Gerät macht. Zwischen Baustelle und Maschinengewehr. Aber auch irgendwie unterirdisch. Das muss ich verdrängt haben. Mein Bauch jetzt. Kann das Ergebnis verfälscht werden, weil mein Bauch rumort? Und wenn es wirklich ein Tumor ist. Was bleibt denn noch? Was bleibt denn noch, wenn es nicht die Augen. Wenn die Augen gesund. Dann muss ja das Hirn. Aus wie vielen Scheiben besteht es denn? Die Bilder. Werden sie bunt sein? Und der Tumor dann rot. Er müsse mich überweisen. Er müsse mich überweisen, hat der Augenarzt gesagt. Als ob es ihm leid täte. Als ob er bedaure, dass er selbst nichts gefunden hat. Dass er aufgeben musste. Mich ziehen lassen, mit guten Augen. Ich kann mir das nicht mal vorstellen. Dass die Bilder erst im Hirn verschwimmen. Dass sie da scharf hineinwandern und erst der Tumor die Grenzen verwischt. Aber da wäre nichts bunt. Nichts rot. Er wäre ein weißer Fleck. Ein weißer Fleck mit schlechten Werten. Immerhin ist niemand hier. Das würde ich nicht wollen, dass jemand mit mir in diesem Raum wäre. Schlimm genug, dass sie von außen in meinen Kopf schauen. Dass sie da draußen an einem Bildschirm sitzen und kontrollieren, ob ich mich auch nicht bewege und was mit den Bildern anzufangen ist. Vielleicht ruft gerade jemand: Tumor. Schau, da, hinter den Augen, ein Tumor, schon so groß, kein Wunder, dass sie nichts sehen kann. Ich bin froh, dass Barto nicht da ist. Was hätte er tun sollen? Er hätte mir nur immer gesagt, dass es keinen Grund gibt, sich Sorgen zu machen. Dass ich auch auf den ersten Augenarzt hätte hören können. Und dass es mehr als unwahrscheinlich ist. Und ich hätte nicht gewusst, ob er es zu mir oder zu sich sagt. Ob er wirklich so sicher. Über den Dingen. Ob meine Schwäche ihn stark sein lässt. Meine Angst. Wo ich doch überhaupt nur allein an meine Stärke herankomme. So allein wie jetzt. In einer Röhre. Unerreichbar. Außer für diesen Assistenzarzt. Eben noch die Stimme des Arztes über die Kopfhörer. Dass es losgehe. Wiederholt, dass es eine Stunde dauere. Eine knappe. Dass ich auch schlafen dürfe. Bloß nicht bewegen. Bloß bewegen darf ich mich nicht, in der Spule. In der Kopf-Spule. Den Kopf nicht wenden. Wie sollte ich auch. Und vorhin dieses Gefühl, als würde ich in ein Kühlfach geschoben. Den Zettel am Zeh. Dabei wird es jetzt warm im Resonanzkörper. Jetzt erstmal nach dem Magnetfeld ausrichten. Und im Widerhall erklingen. Wie im Lied. Aber keine Berge. Kein Jauchzen. Bloß dieser Magnetresonanzbeat. Wie viele Scheiben denn pro Minute? War das schon eine?
Eine Drittmeinung. Vielleicht hätte ich eine Drittmeinung einholen sollen. Die einer Ärztin. Wieso nicht zu einer Augenärztin gegangen? Schon früher: der Kinderarzt, der Halsnasenohrenarzt, der Kinderpsychologe, der Zahnarzt. Immerhin die Kieferorthopädin. Aber dann auch wieder der Gynäkologe. War das damals auch ein Arzt, der mir den Gips aufgeschnitten hat, den zu eng gegossenen Gips, mit der kleinen Kreissäge aufgeschnitten und gesagt, ich solle mich nicht so anstellen? Da könne ja gar nichts. Und noch heute die Innenarmnarbe. Gleich neben der Venenverweilkanüle. Die pulsnahe, gipslange Narbe. Ein Arztanwärter vielleicht. Damals. Und es hat ja auch nicht geblutet, unter dem Gips hervor. Er konnte ja dem Kind sagen, es solle nicht weinen, nicht schreien. Nicht das Gesicht verziehen. Es könne ja gar nichts. Und da gibt es doch dieses Rätsel. Auf Englisch. Father and son in an accident. Father dies. Und dann der Sohn ins Krankenhaus. Und da. Says the surgeon: I can’t operate. This is my son. Wie kann das sein? Und dann denken alle ewig nach. Oder sagen: War nicht der richtige Vater. Der Stiefvater ist gestorben. Und niemand sagt: ist die Mutter. Und ich habe auch einen Hausarzt. Und nur zwei männliche Meinungen zu den Augen. Zweimal: negativ. Die Augen sind völlig in Ordnung. Ich kann Ihnen nicht sagen, wieso sich Ihre Sehkraft verschlechtert. Und beide Male die Frage, ob ich mir sicher sei. Ob ich wirklich schlechter sehe. Als ob ich mir das einbilden würde. Als ob ich nicht wüsste, was scharfe Konturen sind. Wie das früher aussah. Vor kurzem noch. Als ob ich das nicht mehr wüsste. Und diese Kopfschmerzen, die könnten ja auch. Nicht dass er unsympathisch wäre. Dieser Arzt, draußen. Assistenzarzt. Anwärter. Anlagenbeobachter. Er hat sogar eine angenehme Stimme. Bartos Stimme ist schöner. Wenn Barto seinen Namen sagt, bloß seinen Namen, dann kommt es auf meiner Seite der Leitung zum Leuchten. Bartolomeo. Bartolomeo Gamper. Hier leuchtet nichts. Diese Röhreninnenwand. Diese glatte weiße Röhreninnenfläche. Die hat keine Leuchtstoffröhren. Kein Sonnenbankblaulicht, das einen unter die Haut sehen lässt. Selbst wenn hier ein Spiegel im Inneren der Röhre angebracht wäre, würde ich von meiner Durchleuchtung nichts erkennen. Über meinem Bett die Sonnenbank. Da war ich wahrscheinlich dreizehn. Nachts unter der Sonnenbank geschlafen. Im Off-Betrieb. Tagsüber konnte man sie herunterlassen, einschalten. Immer nur einseitig beleuchtet. Wendung nach fünfzehn Minuten. Und das wäre es ja gewesen. Als Dreizehnjährige unter einer Sonnenbank begraben zu werden. Da hätte ich mir gar keinen eigenen Tod mehr verdienen brauchen. Barto hat mich begleiten wollen. Wenigstens bis zum Haupteingang. Ich hab ihm versprochen, mich gleich danach. Vielleicht schläft er jetzt wieder. Vielleicht kann er nicht schlafen und wartet auf meine Nachricht. Ich hätte es gar nicht erzählen sollen. Es ist doch meine Angst. Ob ich nicht Akupunktur versuchen wolle. Hat er gefragt. Das könne doch helfen. Er versteht nicht, was passiert. Ich verändere mich. Es ist ja nicht nur die Sichtweise. Sie werden feststellen, dass mein Herz in den Kopf gewandert ist und auf die Sehnerven drückt. Natürlich ist da kein Platz für ein Herz. In meinem Kopf. Es stört nur beim Denken. Es drückt auf den Sehnerv. Was ist das für ein Hasenherz, das sich hinter den Augen. Und dann: Ich hatte Tom einfach vergessen. Tom, der als einziger nicht mehr lebt.
Das würde mir passen. Eine richtige Krankheit zu haben. Eine, die mit Gedächtnisverlust einhergeht. Wie sonst wäre zu verstehen, dass ich kaum je an ihn gedacht habe? Kurz nur. Beim Anblick eines Rauchers, dessen Finger vom Drehen gelb waren. Bei einem Lied von Jimi Hendrix im Radio. Aber wann zuletzt? Bevor dieses Mail kam. Wann habe ich zuletzt an ihn gedacht? Auf den Kopf hab ich mich doch immer verlassen können. Denken, dachte ich, das geht immer. Aber was, wenn es nicht mehr? In der letzten Zeit sogar an Selbstmord. Wieso eigentlich Hasenherz? Was ist so falsch daran, Haken zu schlagen und davonzulaufen? Und wieso kann ich das Wort Haken nicht denken, ohne ein Kreuz zu sehen? Nicht einmal beim Davonlaufen. Davonlaufen, bevor das Sehen aufhört. Bevor das Denken aufhört. Was, wenn ich Hilfe bräuchte? Ich bin so vorauseilend. Und glaubst du etwa, wenn du die Kreuze heranziehst, könntest du dich dahinter. Könntest dich hinter diese Kreuze zurückziehen. Als wäre da keine selbstgemachte Schuld. Und das hier ja auch wie ein Beichtstuhl. So abgeschlossen. Von außen so uneinsichtig. Ein Beichtbett. Bloß gibt mir der Arzt nicht den Priester. Den musst du dir selbst machen, den Ablassbeauftragten. Ich möchte bei Barto sein. Vielleicht schläft er wieder. Ich liebe ihn. Sagt die Frau, die das Herz im Kopf trägt. Er hat ja keine Ahnung, mit wem er. Ich traue nur meinen schlechten Gefühlen. Die guten halte ich für Chemie. Sein Ring liegt jetzt draußen in einer Schale. Wie bei Unfallopfern. Oder Straftätern. Stillhalten soll ich. Unbedingt stillhalten. Als wäre das. Ich hab nicht auf alle meine Bewegungen Einfluss. Manchmal durchzuckt es mich. Schüttelt mich. Wenn ich weine. Dass man hier drin nicht weinen darf. Es gibt doch sicher viele, die hier drinnen weinen müssen, die größere Angst haben als ich. Größere Not. Es gibt doch immer größere Angst und Not. Wird man dann festgeschnallt? Wenn man noch weniger Einfluss hat. Die Augen tun weh. Tun auch weh, wenn ich weine. Keine Erleichterung. Es ist nicht so, als ob die Tränen die Schmerzen wegspülen könnten. Und dass es ein Tumor sein könnte. Nachdem ich Barto angeschrien hatte. Da hab ich es selbst gedacht. Noch bevor ich beim zweiten Arzt war. Nachdem ich ihn angeschrien hatte vor Wut. Gedacht, dass ich so eine Wut gar nicht habe, dass es die gar nicht gibt in mir, es sei denn, sie sei gewachsen. In einer Frau Ende dreißig. Was kann da noch wachsen? Wenn es kein Kind ist. Und das weiß ich sicher, dass es kein Kind ist. Das Einzige, was dann noch wachsen kann, ist ein Tumor. Und aus so einem Tumor kommt dann die Wut. Kommt zum Ausbruch. Eine Latenzwut wahrscheinlich. Gibt es denn auch latente Tumore. Barto hatte nur Pech, dass er gerade. Oder auch nicht. Vielleicht gar kein Zufall. Denn das ist gelernt, dass die Wut sich gegen den Mann richtet. Weil vom Männlichen immer die Gewalt. Weil das Männliche immer am längeren Hebel. Aber nie eine Handhabe. Nur immer das Opfergefühl. Sich da eingerichtet. In diesem Gefühl. Da ist diese Röhre, auch ohne festgeschnallt zu sein, geradezu. Und keine Frauen sehen, wenn ich bei Haken an Kreuze denke. Immer nur Stiefel und Männer und Männlichkeit. Sie einfach nicht sehen. Obwohl ich es besser weiß. Und nie sagen würde: bessere Menschen. Aber von häuslicher Gewalt lesen. Frauen an Männern. Und es nicht sehen. Einfach nicht sehen.
Ich bin schuld. Sagen sie das auch in anderen Sprachen? Ich bin schuld. Und schreibt man es sogar groß? Aber das wäre ja Größenwahn. An seinem Tod schuld sein zu wollen. Das wäre doch hirnrissig. Pathologisch. Und erst der zweite Arzt hat das Wort gesagt: Tumor. Und dann: Ausschließen. Den Tumor ausschließen. Tragen kann man sie auch. Die Schuld. Wie eine stehen gelassene Tasche. Als ob sie jemand anderem gehörte. Wie eine Kommode beim Umzug. Die man immer mitnimmt. Bei jedem Umzug. Und immer stellt man sie in die Diele, das Erste, was man sieht, wenn die Wohnung betreten wird. Oder doch eher wie ein Kleid. Ein Schuldkostüm, leicht, gar nicht beschwerlich. Und man ist doch verhüllt. Von der Schuld. Man trägt sie jetzt bodenlang. Dieses Rattern. Am schlimmsten sind die Momente der Stille. Wie Feuerpausen. Im Wissen, es geht gleich weiter. Das ist kaum zu ertragen. Und was soll das wieder bedeuten? Etwas ertragen. Wenn man sie zurücksetzen könnte. Die Bedeutung der Wörter. Wie Passwörter zurücksetzen. Wenn man sie einfach auf 0 setzen könnte. Wenn alle Bedeutung 0 wäre. Das wäre ja die Umkehr von Babel. Nicht vorstellbar, wie damit umzugehen wäre. Und das könnte passieren, wenn ich einen Hirntumor habe. Dann könnte mir das passieren. Dass ich keine Bedeutung mehr. Dass mir nichts mehr etwas bedeutete. Und ich spüre es ja bereits, wie ich immer weniger deuten kann. Auch wenn es nicht die Sprache ist, die mir verschwindet. Vielleicht kommt das noch, wenn der Tumor in andere Regionen. So ein Tumor kann ja riesig sein. Aber wenn es nur mir allein passierte, wenn nicht alle gleichzeitig einen Tumor bekämen, der ihnen die Bedeutung auf 0 setzt. Nicht bloß die der Wörter. Und auch 0 würde es nicht mehr geben, in ihrer Bedeutung. Und wenn ich nun aber die Einzige bin, dann würde man versuchen, mich wieder hineinzuholen in die Bedeutung. Würde man doch versuchen. Wäre das überhaupt möglich? Oder hänge ich dann fest? In der Bedeutungslosigkeit. Und nicht mal Bartos Stimme. Nicht mal seine Berührung. Nicht mal sein Blick. Und wäre das dann die Strafe? Alttestamentarisch. Dafür, dass ich ewig nicht an ihn gedacht hatte. Bis sie dieses Treffen geplant haben. Bis dieses Mail kam. Mit der Liste. Eine Excel-Tabelle mit 122 Zeilen. Eine Extraspalte für den neuen Namen. Den jetzigen. Ausschließlich Frauen mit neuen Namen. Kein einziger Mann. Und einige Namen in rot, ohne Nummer, ohne E-Mail. Bitte melden, wer noch Kontakt hat. Seine Zeile grau unterlegt und in der Zelle für die E-Mail: Leider verstorben. Als käme ein Brief zurück. Empfänger leider verstorben. Nicht: Hat sich das Leben genommen. Mein erster Gedanke. Gewusst hat es niemand. Niemand wusste genau, was passiert ist. Und das versteh ich ja nicht. Wieso es niemand gewusst hat. Dabei. Ich bin die, die es wissen müsste. Ich war mit Tom befreundet. Die anderen Hundertzwanzig. Haben wahrscheinlich auch gedacht, dass er es wieder versucht hat. Wie damals. Denn das wussten alle.
Und jetzt auch noch ein Bein beinahe taub. Jetzt auch noch diese Taubheit. In das Bein atmen. In den Unterschenkel. Nicht bewegen. Einatmen. Und ausatmen. Ich kann das. Einatmen. Und ausatmen. Und nicht. Und einatmen. Langsam. Und ausatmen. Vollständig ausatmen. Ich kann das. Ich kann diesen Unterschenkel erreichen. Der gehört auch zu mir. Und einatmen. Und ausatmen. Die Gedanken vorbeilassen. Atmen. Ich kann das nicht. Dieser Unterschenkel. Die Knierolle hätten sie sich sparen können. Ich werde gleich zucken. Ich werde ihn schütteln. Es geht gar nicht anders. Wieso habe ich ihn gefragt? Den zweiten Augenarzt? Was alles möglich wäre. Denkbar. Wieso ist jetzt schon mein Bein taub? Ich atme. Ich atme. Atme erst ein und dann aus, in den Unterschenkel. Ich werde durchblutet. Sehen sie das auf den Bildern? Wie tief ich geatmet hab. Hat das Einfluss auf die Resonanz? Müsste es doch. Aber Sauerstoff kommt gar keiner vor, in der Wertung. Er könnte mich nicht mal hören, der Arzt. Die Männer da draußen. Sie könnten mich gar nicht hören. Ich müsste schon diesen Notknopf bedienen. Und wenn er dann reinkommt. Und fragt, was denn los sei. Wenn er die Messung unterbricht und wissen will, ob mir schlecht ist. Soll ich dann sagen, dass ich ihn nicht mehr spüre? Den rechten Unterschenkel. Ob ich ihn mal bewegen dürfe. Ein Schluckauf wäre wahrscheinlich ein Grund zum Abbrechen. Wenn Barto jetzt an mich dächte, wenn ich dann einen Schluckauf bekäme. So hat es doch immer geheißen. Es denkt jemand an dich. Und die ganze Zeit über, wenn ich keinen Schluckauf habe? Ich glaube schon, dass er jetzt an mich denkt. Dass er jetzt wach ist und an mich denkt. Ich habe ihm diese Sorge bereitet. Wie ein Bett oder ein Mittagessen. Und bin ich jetzt endlich wichtig? Es ist ja nicht so, dass ich das Bild nicht verstehen könnte. Dass man die Gedanken wie Wolken vorbeiziehen lassen soll. Und atmen. Ich verstehe, was damit gemeint ist. Aber ich kann mir keinen blauen Himmel vorstellen. Bloß Wolken, die Wolken jagen. Wenn Tom mich damals nicht angerufen hätte, wenn er mich nicht gefragt hätte. Out of the blue. Sagt man doch. Aber ich kann mir keinen blauen Himmel vorstellen. Trotzdem. Ich habe das einfach nicht ernst genommen. Dieses Verschwimmen. Hat doch erst nach dem Abitreffen begonnen. Erst danach. Und spricht das nicht gegen den Tumor? Es hatten ja viele schon Brillen. Und ich war noch stolz, dass ich keine brauche, auch nicht zum Lesen der Speisekarte. Auf die Scharfsicht bin ich ja stolz gewesen. Als hätte ich sie verdient. Und meine Augen. Was ist so schön an ihnen? Was sieht man durch nasse Fenster? Barto sagt, es sei nichts zu erkennen. Keine Veränderung. Sie seien noch immer. Die Farbe ist ihm egal. Nur mir zuliebe spricht er manchmal von Blau. Es sieht ja jeder nur sich. Und darum sind sie für Barto so schön. Bloß von innen ist alles verwischt. Wie weit sind sie denn jetzt? Mit welcher Ebene haben sie? Als ob es darauf. Aber irgendwann kommt das Kontrastmittel. Intravenös. Wenigstens diesmal nicht schlucken. Du lässt dich immer durchleuchten. Weil du Bilder willst. Deutbare Bilder. Wie viele Röhren, wie viele Röntgenbilder? Und wäre es nicht dasselbe? Wenn Tom nie angerufen hätte. Wenn er nie in mich verliebt. Wäre es nicht dasselbe? Und wer sagt denn überhaupt, dass er sich das Leben. Leider verstorben. Nur weil er damals gesprungen ist. Vielleicht.
Als wenn er der Einzige wäre. Bloß der Einzige, bei dem nichts mehr gut zu machen ist. Ich erinnere mich nicht. Dabei wäre diese Verschwommenheit ein guter Ort zum Erinnern. Diese Röhre auch. Hier könnte sich doch etwas heraushämmern lassen aus dem Vergessen. Oder sogar nachher auf den Bildern. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie. Die Schuld sitzt irgendwo da in der. Ich wüsste nicht mal, in welcher Gehirnhälfte. In der weiblichen? Dass ich das jetzt denke. Dass ich dieses Konzept weitertrage. In welcher nun also? Rechts? Oder links? Von wem aus gesehen? Und haben Sie bei ihm damals auch so eine Untersuchung gemacht? Als er gefallen war. Oder gesprungen. Gab es die schon? Nachher hieß es dann: Stoffwechselkrankheit. Als ich ihn da besucht habe. In der Klinik. Habe ich mich da auch schon besser gefühlt als die anderen? Wie bei der Excel-Tabelle. Oder sogar Sensationslust? Nachher sagen zu können: Ich war in der Anstalt. Zu zweit sind wir dahingegangen. Ihn zu besuchen. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Wir waren in einem Zimmer. Zu dritt. Vielleicht war das sein Zimmer dort. Sein Leben. Für wie viele Wochen? Und wir waren nur zu Besuch. Ein einziges Mal. Hatte ich damals keine Schuldgefühle? Ich erinnere mich gar nicht daran. Weil es noch einmal gut gegangen war. Und die Stoffwechselerklärung eine Erlösung. Als gäbe es bei Behandelbarem keinen Handlungsbedarf mehr. Aus den Augen verloren. Nicht viel später. Bei hundertprozentiger Sicht. Aber nicht wir uns. Ich ihn. Ist Schuld überhaupt ein Gefühl? Ist Schuld nicht der Ersatz für Gefühle? Und darin eingerichtet. In das schlechte Gewissen hineingewachsen. Ich kann mich an die Anstalt nicht erinnern. Deren Name für Verrücktsein steht. In der ganzen Stadt ein Synonym für das Herausfallen aus der Norm. Und wenn einer möglicherweise gesprungen ist, jedenfalls ohne Fremdverschulden aus dem zweiten Stock, dann wird er eingewiesen. Standardmäßig. Dann wird er behandelt. Ich trage noch meinen alten Namen. Wenigstens haben sie nicht Mädchenname geschrieben. Gibt es das Wort noch? Auf Formularen. Und Mädchen an sich ja schon ein Skandal. Wenn man Teekesselchen spielte damit. Mein Teekesselchen ist eine kleine Insektenlarve. Meins ist ein weiblicher Mensch vor der Heirat. Ich werde diesen Namen behalten. Wie haben sie die Frauen gefunden, die geheiratet haben? Unauffindbar sind ausschließlich Männer geblieben. Und was...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Hinter den Augen
  5. Fern Bleiben