Granturismo
eBook - ePub

Granturismo

  1. 232 Seiten
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Granturismo

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Über dieses Buch

Während ein kleiner Angestellter eine krisenbedingte berufliche Freistellung dazu nützt, sich den lebenslang gehegten Traum von jenem Aufbruch ohne ein bestimmtes Ziel, jener Reise um des Reisens willen, zu erfüllen, für die er bislang weder Zeit noch Mut aufgebracht hat, schickt ihn ein Schriftsteller als Hauptfigur seines Prosatextes auf eben jene große Fahrt. Von diesem Moment an werden die Fährnisse des einen zu Unannehmlichkeiten für den anderen. Ihre Wege kreuzen sich: Versiegt die Reiselust, wird die Romanfigur unbrauchbar, lässt der Hunger nach Abenteuern nach, liegt das mitunter an der Erfindungsgabe des Autors.Granturismo erzählt vom Entstehen und Scheitern eines Reiseromans. Wir begleiten den Protagonisten auf den skurrilsten Passagen seiner Fahrt, werden Zeugen überraschender Begegnungen und folgenschwerer Irrtümer. Ob mit todesverachtenden Liebespaaren, Seelenverkäufern mit angeknackstem Selbstbewusstsein oder längst verstorbenen Personen konfrontiert, sobald sich der Reisende gezwungen sieht, eine Atempause einzulegen, wendet sich sein Erfinder der eigenen Umgebung zu und avanciert auf diese Weise zum Helden einer ganz anderen, seiner "eigenen" Geschichte, die immer lebendigere Ausmaße annimmt.

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783902844095

Aus der geflüsterten Welt

Der erste Gedanke lässt ihn frösteln. Ist in der Zwischenzeit die kalte Jahreszeit hereingebrochen? Und, falls ja, wo hinein eigentlich? Kann es sein, dass er monatelang hier gelegen hat, oder ist der Reisende in einer Absteige gelandet, in der Kälte, Feuchtigkeit und Moder auf ihren nächsten Einsatz warten? Es riecht, als hätte jemand – es muss Jahre her sein – in der Nähe Früchte verdaut oder vergraben.
Irgendwo, fällt ihm jetzt wieder ein, hat es hier Stiegen gegeben, über die geht es hinauf und zwar dorthin, von wo er heruntergekommen ist. Was oben, wo immer oben sein mag, war, weiß er auf Anhieb nicht zu sagen, und er beschließt, erst einmal nicht daran zu denken. Zunächst gilt es, sich im Moment zurechtzufinden. Sein Kopf dröhnt innen wie außen gleichermaßen, und sowie er den Oberkörper aufrichtet, schwappt der Wein in ihm über. Egal, ob mit offenen oder geschlossenen Augen, an der Stockdunkelheit um ihn herum ändert das nichts. Vorsichtig stochern Hände, Arme und Ellbogen nach einem Anhaltspunkt in der Finsternis. Da er nur schwarzes Nichts zu fassen bekommt, macht er einen Schritt nach vorne, dann einen zurück und einen oder zwei zur Seite und schlägt dort sachte mit Schulter und Kopf gegen eine Begrenzung. Ihre Oberfläche gibt seinen Händen nach und ihm dadurch Halt. Eine elastische Barriere wie ein Sandsacksaum oder die Gummiwände, mit denen das persönliche Oberstübchen ausgekleidet ist. Findet man sich so in der eigenen Verrücktheit wieder? Jetzt kehrt auch die Wirkung des Alkohols zurück. Ist er irgendjemandem auf den Leim gegangen? Befindet er sich im Inneren des Nichts, dem chaotischen Endpunkt der Irrwege all jener, die von der Bildfläche verschwunden sind? Liegt sein leerer Körper spärlich beleuchtet irgendwo oben? Er unterscheidet sich in nichts von dem Nichts um ihn herum. Das, was manche die Seele nennen, ist ins Erdinnere hinabgestiegen, und das Innere in Wahrheit ein dunkles und feuchtes Gewirr von Gängen. Der Reisende gräbt seine Finger so tief wie möglich in die seine Umgebung begrenzende Substanz und schleppt etwas, das nach wie vor sein Körper sein dürfte, ja müsste, Zentimeter für Zentimeter weiter. Zweifellos handelt es sich um einen Tiefpunkt, einen persönlichen Abgrund, in den jeder hin und wieder gerät und aus dem man sich mit Hilfe blinden Vertrauens herausmanövriert. So sieht es also in ihm aus, im inneren Erdreich seines Aderwerks und Nervengeästs. Hier kommt man her und hierhin kehrt ein jeder zurück, … womöglich um sich zu versichern, woher er gekommen ist. Die Schritte fallen ihm zusehends leichter, er schiebt einen Fuß vor den anderen, den Leib in ständigem Kontakt mit der feuchten, samtenen Wand. Hier war bereits vor ihm jemand, hier kommt sicherlich immer wieder jemand vorbei, um genau das durchzumachen. Schrittweise verklingen Abenteuerlust und Waghalsigkeit im Echo des Weins. Es riecht nach holziger Fäulnis. Der Reisende presst seinen Körper an die Wand, als müsse die Finsternis irgendwo aufhören und dort einen schmalen Blick freigeben. Die Wand neben ihm krümmt sich oder war bis eben gekrümmt und biegt sich jetzt wieder gerade. Er hat bereits einige Schritte hinter sich, und da er weder auf eine Treppe noch eine Leiter gestoßen ist, dürfte er sich von jeglicher Aufstiegsmöglichkeit immer weiter entfernen.
Als er sich umdreht, ist da Wand, gegen die er prallt und zur Seite hin ausweicht, um gegen eine zweite zu prallen. Weiter geht es immer nur in einer Richtung – wo rechts und links ist, vermag er nicht mehr zu beurteilen, ebenso wenig weiß er, wo vorne oder hinten liegt, zumal was jetzt links wäre, ohnedies vorher rechts gewesen sein dürfte. Im Laufe dieses Versuchs, sich zu orientieren, kommt ihm zum ersten Mal der Gedanke, dass er sich in einem Labyrinth befindet. Eigentlich denkt er zuerst an ein Labyrinth, dann an sich selbst als jemanden, der in eine solche Ausweglosigkeit geraten ist. Seine Hände tasten einen Gang entlang als folgten sie einem roten Faden, einer Lunte, die in die Orientierungslosigkeit hinein abbrennt. Instinktiv sucht er nach einem Lichtschalter. Mit jedem Schritt, weiß er, breitet sich das Labyrinth mit höherer Geschwindigkeit als dieser Schritt um ihn herum aus, kreuzt, schlägt Haken, legt falsche Fährten, biegt ab und baut Holzwege ein. Bliebe er stehen, änderte das nicht viel, denn die Wege, die er nicht beschreitet, verzweigen sich dessen ungeachtet in alle erdenklichen Richtungen. Die Ausweglosigkeit des Labyrinths erinnert den Reisenden an sein bisheriges Leben. Lediglich die Finsternis passt nicht dazu. Im Grunde ist immer alles spärlich beleuchtet gewesen, auch das, was besser im Dunklen geblieben wäre. Nunmehr dürfte es ihm gelungen sein, auch noch das letzte Licht auszumachen. Hinter seiner Abenteuerlust verbirgt sich pure Angst. Angst zeigt sich immer wieder, als stütze sie sich auf den Schultern des Abenteurers auf und recke dieserart ihre entmutigende Fratze aus dem Hinter- in den Vordergrund. Er ist kurz davor aufzugeben, erwägt stehen zu bleiben, beide Handflächen an der Wand einige Schritte zurückzutreten und die Beine breit zu machen, bis ihn eine körperlose Instanz nach Waffen absucht und ihn mit einem Griff auf die Schulter endgültig auslöscht. Wahrscheinlich um ihn in Finsternis zu verwandeln, auf dass die Dunkelheit noch undurchdringlicher werde.
Plötzlich, als wolle sich seine neuartige Umgebung über ihn lustig machen, geht Licht an, kommt irgendwoher, ist überall sichtbar, und dem Reisenden schießt augenblicklich der Gedanke an ein Foto mit Blitz durch den Kopf. Eine Fotografie, um ihn in all seiner Lächerlichkeit festzuhalten und schallend darüber zu lachen. Ein Trick, eine Mutprobe, mit der man sich Eintritt in die … in die Hartgesottenheit ländlicher Gepflogenheiten verschafft. Aber die Helligkeit verweilt, lässt ihn die Augen zusammenkneifen und gibt ihm Gelegenheit sich umzusehen.
Er steht in einem röhrenförmigen Gang, der auf beiden Seiten in Dunkelheit verläuft. Eine Lichtquelle ist nicht zu erkennen. Zu sehen ist niemand. Niemand, der Licht gemacht hat, niemand, den er nach dem Ausgang fragen könnte. Der Gang ist mit Sand ausgekleidet, ist in Sand hineingegraben und wird von nichts als Feuchtigkeit zusammengehalten. Der Boden knirscht unter seinen Schritten. Gleichzeitig mit dem Licht scheint jemand den Ton aufgedreht zu haben. Als er am Ende der Röhre angekommen ist, hat der Reisende die Wahl, links oder rechts in die Dunkelheit abzubiegen. Die Richtung spielt keine Rolle, es besteht kein Zweifel, dass es sich um die falsche handelt. Er hält den Kopf in die Dunkelheit. Im Finstern scheint es kühler zu sein. Wenigstens weiß er, wie er sich seine Umgebung vorzustellen hat. Wie das Innere einer Sandburg. Im Grunde harmlos. Der Reisende beschließt vorzudringen, solange er die Beleuchtung hinter sich weiß. Als das Licht ausgeht, erschrickt er, macht einen Schritt zurück, und das Licht geht wieder an.
Also doch ein Witz, eine humorvolle Einlage! Oder Detail einer groß angelegten Versuchsanordnung. Möglicherweise macht sich irgendwer Notizen oder hat gewettet, wie viel Zeit er brauche, um hinter irgendetwas zu kommen. Diesmal jedoch dringt Licht aus einer Glühbirne, die oberhalb seines Kopfes angebracht ist. Von diesen Glühbirnen gibt es mehrere, und sie leuchten einen Stollen entlang, dessen Ende in seiner fortwährenden Verlängerung nicht zu erkennen ist. Für einen Augenblick wähnt er sich einer in die Unendlichkeit aufgefächerten Spiegelung gegenüber, einer, in der er fehlt, weil sein Körper, fern von alldem und leer, spärlich beleuchtet an der Oberfläche liegt. Ganz hinten bemerkt er eine Gestalt zuerst winzig und dann unsichtbar werden. Ein ungelenkes Bündel Mensch verschwindet, und der Reisende stürzt hinterher. Mit einem Mal schöpft er Kraft aus der ungerechten Behandlung, die ihm widerfährt. Er weiß, glaubt zumindest zu wissen, dass, was immer dort geschehe, etwas ist, das nicht vorgesehen war. Jemand hat seinen Posten zu früh verlassen, niemand hat damit gerechnet, dass er so schnell begreifen werde, dass … begreife, dass ein Labyrinth nur denjenigen besiegt hat, der stehen geblieben ist. Er erreicht das scheinbar unendlich weit entfernte Ende verhältnismäßig früh, spürt, wie vor ihm etwas zur Seite hin abbiegt, sieht nirgendwo Licht angehen, hört aber stattdessen einen dumpfen Aufprall untermalt von unflätigen Flüchen.
Verdammtes!
Der Reisende verlangsamt, um nicht wieder vorschnell in irgendwas zu geraten, zögert, bis die Schimpftirade verebbt, und biegt auf alles gefasst um die Ecke. Prompt geht Licht an und lässt ihn auf ein staubiges Häufchen Zusammengesunkenseins schauen, das keucht, rotgesichtig versucht, wieder auf die Beine zu kommen und ihn keines Blickes würdigt, wie einer, der auch angesichts einer Niederlage nicht daran denkt, dieselbe einzugestehen.
Sind Sie für das hier verantwortlich, erkundigt sich der Reisende in strengem Ton. Beim Anblick dieses schmutzigen Wichts meint er begriffen zu haben, dass er in einen Jux für Touristen geraten ist, der eigentlich anders hätte verlaufen sollen.
Ich habe keine Ahnung, wo es zu Ihrer Gruppe geht, sagt die Gestalt, die sich bei näherem Hinsehen als mitgenommener, ansonsten älterer Herr entpuppt. Die eigenen Mutmaßungen von vorhin sind dem Reisenden peinlich. Wer rechnet in einem solchen Kaff schon mit einem derart ausgeklügelten Freizeitkonzept?
Welche Gruppe, möchte er, entschlossen sich nicht mit faulen Ausreden abspeisen zu lassen, wissen. Immerhin hat er es ganz alleine hier heruntergeschafft.
Ihre Gruppe von Besuchern, was immer, der alte Mann richtet sich auf, vermeidet es jedoch nach wie vor, den Reisenden anzusehen, als fürchte er, seinem Blick nicht standhalten zu können.
Ich bin allein unterwegs. Der Reisende klopft sich dort ab, wo er auf dem Weg hierher die Wände berührt hat. Das macht er ganz langsam und ohne hinzuschauen.
Blutiges Ungemach, murmelt das Männchen, während es wie aus einer Blase angepumpt zu etwas aufquillt, das wohl schlicht Normalgröße sein dürfte; eben noch über diese hinaus, dann sackt es vornüber, als kämen die vielen Jahre, die es auf dem Buckel hat, gerade noch rechtzeitig zum Tragen. Ich weiß nichts von keiner verdammten Gruppe, mein Bester!
Ungemein viele Jahre müssen das sein, denn sowohl der Zustand der Kleidung des Männchens als auch was es da anhat in diesem Zustand lassen vermuten, es habe sich eines Tages auf dem Weg ins Büro in den Epochen verirrt. Ein gleichermaßen gebückter wie korpulenter Herr ragt aus den Fragmenten eines dunklen Mantels, dessen ehemalige Eleganz durchlöchert, aufgerissen, nachgerade zerfetzt ist, und macht, wenn schon nicht einen versöhnten, so doch einen verharmlosten Eindruck. Wo der Mantel endet, lugen Beine in aufgekrempelten Hosen und löchrigen, selbst und provisorisch geflickten Schuhen hervor. Oben hängt ein verfilzter Schal heraus, um einen faltigen Hals geschlungen, der in ein Gesicht mündet, in dem mächtige Koteletten und was irgendwann eine Hornbrille gewesen sein dürfte – zwischen Bügel und Fassung mit Klebeband zusammengehalten, ein Glas trübe und gesprungen – die wesentlichen Merkmale darstellen. Den Abschluss bildet ein verbeulter Hut mit ranziger Krempe. Abgesehen von dieser Nachlässigkeit und dem Geruch nach Magensäure und Erbrochenem, geht von dem alten Mann etwas Abwesendes aus. Er wäre sichtlich lieber alleine geblieben, da jedoch eine Begegnung nun einmal stattgefunden habe, wisse er auch nicht recht weiter. Seine Idee, so viel steht fest, ist es nicht gewesen.
Wurde bereits erwähnt, dass der Mann ein wenig dick ist? Jedenfalls sieht er nicht unbedingt wie einer aus, der andere reinlegt, eher wie selbst hereingefallen, die Personifikation der schlimmsten aller Weltwirtschaftskrisen auf alten Fotos. Die Verkörperung einer miserablen Statistik. Irgendwo steht ein Hemdkragen weg.
Die letzte Gruppe, die ich gesehen habe, saß in einem Wirtshaus und gab sich Mühe, nicht wie eine Gruppe zu wirken. Dem Reisenden fällt nichts Besseres ein.
Du kannst eine Kerze eben nicht an zwei Enden anzünden, Freundchen. Der alte Mann schiebt den Hut aus der Stirn, als wäre es für gewisse Überlegungen nicht mehr der richtige Zeitpunkt. Angesichts der Stirn verleihen die bärtigen Backen seinem Richtung Kinn schmäler werdenden Gesicht etwas von der Schnauze eines Dachses.
Wer sitzt nicht lieber am Wirtshaustisch? Lass mich nachdenken: Bei mir war das zuletzt, glaube ich … Der Mann scheint in Erinnerungen zu kramen, der Reisende unterbricht ihn: Mir fällt ein, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, Herr … äh?
Auf der Insel haben sie Teddy zu mir gesagt.
Fein, Teddy also, ich, … mich können Sie …
Erzähl das einem Matrosen. Der alte Mann hat das Versteckspiel aufgegeben, jedoch nicht um es gegen besondere Aufmerksamkeit einzutauschen. Eher hat all das, mit dem er zuvor alleine gewesen ist, vorübergehend einen Körper und ein Gesicht erhalten – ist jetzt ansprechbar.
Ist nicht meine Tasse Tee, mit diesen Worten öffnet er die ramponierte Aktentasche, an deren Griff er sich die ganze Zeit über festgehalten hat, als vertraue er auf ihre Gabe, ihn, wenn es so weit ist, aus einer brenzligen Situation in eine andere zu befördern oder seine Erscheinung, sollte es damit nicht klappen, in ihrem Inneren aufzunehmen. Obwohl alles andere als prall gefüllt, wird die Tasche nur noch von müden Nähten zusammengehalten, als wirke das Wenige, das sie beinhaltet, auf Dauer zersetzend. Der Reisende ist gespannt, was zum Vorschein kommen wird. Hat er in Teddy die Mensch gewordene Endlichkeit des Abgrunds, in den er geraten ist, vor Augen? Einen Höllenknecht, der demjenigen, der es gewagt hat, hinter die Kulissen zu blicken, mit immensen Koteletten und harten Bandagen zu Leibe rückt.
Hier unten hast du den Sahne-Zug bestiegen, sagt Teddy eher zu sich selbst, holt eine Flasche aus seiner Aktentasche, zieht den Korken, der offenbar nur lose im Flaschenhals sitzt, mit den Zähnen heraus und hustet ihn lautstark auf den trittfesten Sandboden. Er spricht in einem für Wohlbeleibte typisch sanften Sing-Sang.
Drei Cheers …, Teddy nimmt einen kräftigen Schluck, der Reisende stammelt: Wohl bekomm’s! Vielleicht dürfte ich Sie …, Teddy winkt ab und zwar mit einer so seltsamen Handbewegung, dass der Reisende nicht nur verstummt, sondern es für besser hält, da der Alte sich in die Dunkelheit eines abzweigenden Stollens hinein in Bewegung setzt, schweigend hinterherzukommen. Sobald Teddy den Gang betritt, geht dort Licht an, gleichzeitig wird es im Rücken des Reisenden dunkel.
Bewegungsmelder, sagt Teddy grinsend und reicht die Flasche nach hinten, alles voll davon, wo wir hintreten, wird Licht. Vorhin hatte ich den Eindruck …
Funktioniert eben nicht gängig: Ein weiterer Tropfen im Eimer.
Der Reisende weicht vor der ihm hingehaltenen Flasche zurück. Er meint gesehen zu haben, wie weißlicher Rauch aus dem Flaschenhals aufsteigt.
Sensible Fleckchen, irgendwo im Sand verborgen, illuminieren den Abschnitt, an dem du dich befindest. Aber Obacht! Wer zu lange strammsteht, findet sich alsbald von Finsternis umgeben.
Um eine sich anbahnende Komplizenschaft nicht zu gefährden – wer weiß, ob er den Alten hier unten nicht noch brauchen wird –, überwindet der Reisende jeglichen Ekel, greift nach der Flasche, die sogar außen, dort, wo der andere sie gehalten hat, schmutzig weil schmierig ist, und macht einen hastigen Schluck. Die Luft hält er währenddessen an und bemüht sich, die Flüssigkeit möglichst berührungslos in sich hineingeschüttet zu bekommen. Seine Augen sind geschlossen. Als er sie wieder öffnet, ist der Wein bereits in ihm und hat eine Wärme in seinem Brustkorb verbreitet, die ihm ein Gefühl von Geborgenheit in Erinnerung ruft. Zumindest einen Moment lang. Auf Teddys Gesicht zeichnet sich ein Lächeln ab, das einen Blick auf sein ramponiertes, unvollständiges Gebiss zulässt. Auch dieses Lächeln scheint der Wein hinterlassen zu haben. Es passt zur Erinnerung an Geborgenheit – die Lückenhaftigkeit der Zähne inbegriffen. Der Reisende gibt die Flasche zurück.
Edler Tropfen, findest du nicht? Davon gibt es hier reichlich.
Und wo ist dieses Hier?
Im Basement, mein Sohn, was hast du denn erwartet?
Soll das heißen, wir befinden uns in der Kelleranlage!?
Du, ich, so weit dein Auge reic...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhakt
  5. Aus der geflüsterten Welt
  6. Kong-Ming
  7. Der Polygraph
  8. Ein Team besteht zumindest aus zwei Mitgliedern
  9. In Gesellschaft der Satelliten
  10. Der Beamte der Sonne, der Beamte des Mondes
  11. Die Gottesanbeterinnen
  12. Intelligentes Design