Weltliteratur im SPIEGEL - Band 2: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre
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Weltliteratur im SPIEGEL - Band 2: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre

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Weltliteratur im SPIEGELBand 2: Schriftstellerporträts aus dem SPIEGEL der Jahre 1960 bis 1969, ausgewählt und eingeleitet von Martin Doerry. Mit Beiträgen über die Gruppe 47, Louis Aragon, Ingeborg Bachmann, Tania Blixen, Heinrich Böll, Günter Grass, die Gebrüder Grimm, Peter Handke, Gerhart Hauptmann, Ernest Hemingway, Georg Heym, Stefan Heym, Rolf Hochhuth, Jewgenij Jewtuschenko, Uwe Johnson, James Joyce, James Krüss, Karl May, Marquis de Sade, Nathalie Sarraute, Jean-Paul Sartre und William Shakespeare.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783877631539
Vorwort

Weltliteratur im SPIEGEL

Von Günter Grass bis Peter Handke: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre
Kein Jahrzehnt hat die Bundesrepublik Deutschland mehr verändert als die Sechzigerjahre. Und kein Jahrzehnt hat auch den SPIEGEL mehr geprägt als diese Epoche. In seinen Anfängen ein politisch noch schwer zu verortendes Blatt, liberal, national und antikommunistisch zugleich, entwickelte sich das Magazin erst mit der SPIEGEL-Affäre zum Sprachrohr des linksliberalen Bürgertums. Der Angriff auf den SPIEGEL, 1962 von Kanzler Konrad Adenauer („Ein Abgrund von Landesverrat!“) und seinem Verteidigungsminister Franz Josef Strauß mit großer Härte, aber erfolglos durchgeführt, hat das Magazin zur Ikone der Pressefreiheit in Deutschland gemacht, zum Hort des unbestechlichen, mutigen Journalismus schlechthin.
Doch bis dahin hatte die Redaktion einen weiten Weg zurückgelegt. Ihr gehörten in den Anfangsjahren neben vielen jungen Talenten auch ein paar Herren mit eher dunkler, tiefbrauner Vergangenheit an. Erst zu Beginn der 60er zog ein neuer liberaler und kritischer Geist in die Redaktionsflure des Hamburger Pressehauses ein. Die Ansprüche an politische Integrität und journalistische Qualität stiegen dementsprechend. Im Vorfeld der 68er Revolte wuchs die Bereitschaft zur intellektuell-politischen Auseinandersetzung, sowohl in der Redaktion als auch in der Gesellschaft allgemein. Die Literatur dieser Zeit dokumentierte den Wandel – und sie beförderte ihn. Ein Starautor der Nachkriegsliteratur, Heinrich Böll, wurde schon 1961 auf den SPIEGEL-Titel gehoben. „Der Kölner Heinrich Böll“, so hieß es in der Titel-Geschichte, „ist nächst dem Kölner Konrad Adenauer der zweitwichtigste Beitrag des katholischen Rheinlands zu dem Bild, das sich die Welt von Deutschland macht.“ Ausführlich wird das Werk Bölls vorgestellt, seine Kritik am restaurativen Grundzug der Adenauer-Republik gelobt. Und doch wäre es nicht der SPIEGEL dieser Zeit gewesen, wenn die – damals noch ungenannten – Autoren nicht eine Menge Spott über den Erfolgsschriftsteller ausgegossen hätten. Böll, so das Urteil, verfalle immer wieder in „wahre Orgien penetrant-nahsichtiger Realistik“, er neige zu einem „Grau-in-grau-Realismus“, der geradezu nervtötend sei. Wer wissen will, warum der Nobelpreisträger Heinrich Böll heute kaum noch gelesen wird, muss eigentlich nur die Titelgeschichte des Jahres 1961 studieren.
Die politische Seite der Literatur rückt von nun an immer mehr in den Vordergrund. Der russische Schriftsteller Jewgenij Jewtuschenko, ein Idol der kritischen Jugend im Sowjetreich, wird mit einer Titelgeschichte verewigt; Rolf Hochhuth, der Papstkritiker und Autor politpropagandistischer Theaterstücke, schafft es mit seinem Drama „Der Stellvertreter“ ebenfalls aufs Cover. Auch hier allerdings bleiben die anonymen SPIEGEL-Autoren bei aller Begeisterung für den antiklerikalen Hochhuth bei der Wahrheit: Der gescholtene Papst Pius XII. werde in diesem Drama doch recht einseitig dargestellt: „Hochhuths Behauptung, dass ein Papst-Protest Hitlers Judenverfolgung aufgehalten hätte, bleibt unbeweisbare Hypothese.“ Literaturthemen zählen in den frühen 60ern zu den attraktivsten Titel-Motiven: Karl May, Shakespeare oder Gerhart Hauptmann werden in langen Porträts gewürdigt, immer mit einigem Respekt und doch auch zuweilen boshafter Kritik. Genüsslich wird etwa aus den Notizen Gerhart Hauptmanns zitiert, die sich in dessen Nachlass auf einem Exemplar des Thomas-Mann-Romans „Der Zauberberg“ fanden. Mann hatte eine Hauptfigur nach dem Vorbild Gerhart Hauptmanns gestaltet – was dem Porträtierten freilich gar nicht gefiel: „Diesem idiotischen Schwein soll ich gleichen?“, notierte Hauptmann empört. Die Mischung aus nüchterner Analyse und unterhaltsamer Erzählung gehörte schon damals zum Markenzeichen des Nachrichtenmagazins. Ein gediegenes Porträt Tania Blixens, zum Beispiel, wurde 1960 mit einer kleinen Anekdote über ein Dinner angereichert, das die dänische Autorin in den USA mit den Kollegen Arthur Miller und Carson McCullers absolviert hatte: „Das Dinner verlief anders, als es die Arrangeure erwarteten“, schrieb der SPIEGEL, Blixen habe sich nur für Millers Gattin Marylin Monroe interessiert und rauschend mit ihr unterhalten. „In ihrem ganzen Gespräch“, so wird eine dänische Quelle zitiert, „kam das Wort Buch nicht mehr als höchstens einmal vor.“ Blixens Fazit: „Marilyn Monroe ist unwiderstehlich“, aber „nicht so hübsch, wie ich gedacht hatte“.
Hinzu kamen bald neue journalistische Formen, die Reportage, zum Beispiel, oder die von einem namhaften Autor gezeichnete Literaturkritik. Reinhard Baumgart rezensierte Uwe Johnson, Rolf Becker schrieb über „Das Einhorn“ von Martin Walser („verbalartistische Koitus-Koloraturen“) und Hans Christoph Buch über Peter Handke.
Überhaupt: der junge Handke. Der aufgehende Stern am Literaturhimmel der Bundesrepublik wurde aufmerksam begleitet, zumeist ziemlich kritisch und doch mit einiger Anerkennung für seine geniale Selbstvermarktung. Einen Höhepunkt der Handke-Berichterstattung markiert die große Reportage über einen Ausflug der Gruppe 47 im Jahr 1966 ins amerikanische Princeton. SPIEGEL-Autor Erich Kuby war so verstört wie fasziniert vom Auftritt des Jung-Genies: „Dieser Mädchenjunge Peter“, schrieb Kuby, „mit seinen zierlich über die Ohren gekämmten Haaren, mit seinem blauen Schirmmützchen, fast ist man geneigt zu sagen: mit seinem blauen Schirmmätzchen, seinen engen Höschen, seinem sanften Ostereigesicht“, dieser langhaarige Schnösel Peter Handke also attackierte mit Verve die „läppische Art von Literatur“, die seine älteren Kollegen in Princeton vorgetragen hätten. Kuby gab Handke Recht und konnte ihn doch kaum ertragen – auch das ein schönes Zeitdokument der Jahre vor der Studenten-Revolte.
Die allerdings fegte dann so ungefähr alles vom Tisch, was bis dahin im SPIEGEL literarisch gewürdigt wurde. Für einen historischen Moment wird die Literatur zur Politik (und manchmal auch umgekehrt). Titelgeschichten wurden nur noch über politisch aktive Autoren geschrieben, 1968 über den Helden der Pariser Studenten Jean-Paul Sartre, 1969 über den Willy-Brandt-Wahlhelfer Günter Grass.
Brandt gewann bekanntlich die Wahl. Eine neue Ära begann, erstmals bekam es der SPIEGEL mit einem sozialdemokratischen Kanzler zu tun – und mit Autoren, die schnell ihr Interesse an der Politik verloren. Aber das wäre schon das nächste Kapitel: Der SPIEGEL und die Schriftsteller der 70er Jahre. Viel Spaß bei der Lektüre!

Martin Doerry
SPIEGEL 18/1960
NATHALIE SARRAUTE

Reizbewegungen

Nur je eine einzige Ja-Stimme entfiel bei der alljährlichen Pariser Literaturpreis-Kür im vergangenen Herbst auf die termingerecht angebotenen Avantgarde-Romane von Alain Robbe-Grillet „Dans le labyrinthe“ und Nathalie Sarraute „Le Planétarium“. Obwohl eine Preiskrönung, die unweigerlich Auflage und Verkaufsziffer in die Höhe schnellen läßt, somit entfiel, zeigt sich schon heute, daß der negative Entscheid der konservativ eingestellten Preisrichter-Majorität vom französischen wie vom internationalen Publikum nicht akzeptiert worden ist.
Im Gegenteil: Der von Robbe-Grillet und der Sarraute entfesselten Literatur-Revolution – einer radikalen, programmatischen Ummodelung der populärsten Literaturgattung Roman unter dem anfänglich verwendeten Slogan „Roman futur“ („Roman der Zukunft“) –liefern heute sogar verbissene Verteidiger der herkömmlichen Roman-Schreibweise nur noch Rückzugsgefechte. Frankreichs jüngste literarische Richtung hat sich zu einer kompakten Schule ausgewachsen, die internationales Prestige gewinnen konnte und inzwischen zum gängigen Exportartikel geworden ist. Autoren und Kritiker verwenden denn auch für den „Roman futur“, der über das Stadium, in dem er als Zukunftsmusik hätte abgetan werden können, längst hinausgelangt ist, das gemäßere Etikett „Nouveau Roman“, zu deutsch: „Neuer Roman“.
Um seinen Initiator Robbe-Grillet (Jahrgang 1922) und die Senior-Pionierin Nathalie Sarraute (Jahrgang 1902) hat sich eine stattliche Gruppe von Romanschriftstellern geschart, die zumindest über das einig ist, was sie ablehnt. Immer mehr Bücher dieser Gruppe werden, wiewohl sie vom Herkömmlichen nicht immer zugunsten ihrer Verständlichkeit entschieden abweichen, ins Englische und Amerikanische, neuerdings auch ins Deutsche übersetzt.
Allerdings war für westdeutsche Interessenten anfangs die Kenntnis der Stilprinzipien des französischen „Neuen Romans“ auf doktrinär-extreme Bücher von Alain Robbe-Grillet eingeengt. Inzwischen kann der reise- und kongreßfreudige Bretone Robbe-Grillet, der dem „Nouveau Roman“ auch als Verleger – in seiner Eigenschaft als „Directeur littéraire“ der international berühmten „Editions de Minuit“ – die Bahn ebnet, sogar in Deutschland auf genauere Bekanntschaft mit den Methoden des „Neuen Romans“ rechnen. Schon bevor Robbe-Grillet unlängst auf eine „Werbetournee für die Literatur seiner Freunde“ ging, waren außer seinen Büchern erste Verdeutschungen der Prosa von Nathalie Sarraute, von Michel Butor, Claude Simon und – in der Schweiz – von Jean Cayrol herausgekommen*.
Ankündigungen weiterer Übersetzungen aus der Schule des „Nouveau Roman“ lassen zudem bei westdeutschen Buchverlagen die Geneigtheit erkennen, sich zumindest aus Konkurrenzgründen künftig mit Renommierstücken der französischen Avantgarde auszustatten. So sicherte sich zum Beispiel der Hamburger Claassen Verlag die deutschen Rechte des Romans „Le Fiston“ („Das Söhnchen“) von Robert Piniget. Obendrein beeilte sich der versierte Literatur-Manager Robbe-Grillet, einen Hinweis zu geben, der auf deutsche Literatur-Konsumenten dieser Jahre offenbar unwiderstehlich wirkt. Robbe-Grillet erläuterte, seine „Schule“ berufe sich auf das Vorbild der Roman-Revolutionäre Marcel Proust, James Joyce und Franz Kafka. Diese „Pioniere“ nämlich hätten „für ihre Zeit“ den Roman neuer Art geschaffen, wie jetzt er und seine Freunde „den Roman für unsere Zeit“ zu schreiben glaubten. Insoweit wollten er und seine Mitstreiter sich nicht als „Avantgarde“, als Vorhut, betrachtet wissen, meinte Robbe-Grillet, sondern als „Arrièregarde“, als Nachhut. Spezifizierte der Propaganda-Tourist des „Nouveau Roman“: „Der Meister von Nathalie Sarraute ist Proust, der von Michel Butor ist Joyce, der meine ist Kafka.“
Mit Bedacht schränkte Robbe-Grillet allerdings das Nachfolge-Verhältnis der Autoren des „Nouveau Roman“ zu jenen „Pionieren“ und „Meistern“ auf den Begriff „schockartige Begegnung“ ein, wie sie im Leben jedes Schriftstellers vorkomme. Tatsächlich kann den Pariser Roman-Neuerern am allerwenigsten vorgeworfen werden, sie ahmten vorgeprägte literarische Muster und fremde Stile nach. Wohl aber wenden sie sich an ein Publikum, das seine Entzifferungskunst hinlänglich an Proust, Kafka und Joyce trainiert hat.
Noch zu Lebzeiten von Joyce (der „Ulysses“-Dichter starb im Januar 1941) setzte Nathalie Sarraute, damals völlig ohne Rückhalt an Gleichgesinnten, dem literarischen Frankreich Prosastudien vor, deren Originalität Gefahr lief, von den Lesern als Zumutung empfunden zu werden:
Überall scheinbar quollen sie hervor, ausgekrochen aus der lauen, etwas feuchten Luft, sie flossen langsam hin, als hätten die Mauern sie ausgeschwitzt oder die umgitterten Bäume, die Bänke, die schmutzigen Trottoirs, die Parks.
In langen düsteren Trauben zogen sie sich zwischen den toten Fassaden der Häuser hin. Ab und zu bildeten sie vor den Auslagen der Kaufhäuser festere Knoten, die sich nicht bewegten und, wie leichte Stauungen, Strudel verursachten.
Eine befremdende Stille, eine Art verzweifelter Genugtuung ging von ihnen aus. In der Weißwaren-Ausstellung betrachteten sie aufmerksam die Wäschestöße, welche Schneegebirge geschickt nachahmten, oder auch eine Puppe, deren Zähne in regelmäßigen Abständen aufleuchteten und erloschen, aufleuchteten, erloschen, aufleuchteten, erloschen – immer in gleichen Abständen wieder aufleuchteten und wieder erloschen.
Sie sahen lange hin, ohne sich zu rühren, sie blieben da, hingegeben, vor den Schaufenstern, immer bis zum nächsten Mal den Augenblick des Weitergehns aufschiebend. Und die kleinen stillen Kinder, die ihnen die Hand gaben, warteten neben ihnen, müde vom Schauen, zerstreut, geduldig.
Wie in diesem Einleitungskapitel der „Tropismen“, die nach über zwanzig Jahren nun auch in Deutschland zu haben sind – der Band umfaßt 24 fortlaufend bezifferte Abschnitte ohne Überschrift von je zwei bis vier Buchseiten Länge –, hat die Pionier-Autorin des „Nouveau Roman“ auch sonst auf Personennamen, auf eine Story verzichtet. Statt dessen fixiert Nathalie Sarraute Momentaufnahmen aus verschiedenartigen Daseinsbereichen, belichtet bei Einzelexistenzen oder anonymen Gruppenwesen Regungen und Reaktionen, wie sie ähnlich von Naturwissenschaftlern als „Tropismen“ bestimmt zu werden pflegen. Die Physiologen verstehen darunter durch Außenreize wie Licht, Betastungen, Verletzungen oder chemische Einflüsse ausgelöste und gelenkte Eigenbewegungen von Pflanzen und Hohltieren, die sich gemäß der „Reizrichtung“ biegen und krümmen.
Der Analogie zuliebe wählte Nathalie Sarraute für ihre sozusagen mikroskopischen Prosastudien den Buchtitel „Tropismen“: Sie setzte eine Gleichartigkeit zwischen jenen unwillkürlichen „Reizbewegungen“ niederer Organismen voraus, mit denen die Pflanzen- und Tierphysiologen zu tun haben, und den gleich unwillkürlichen „Reizbewegungen“, die das menschliche Innenleben steuern.
Die Dichterin Sarraute versucht aus gleichsam wissenschaftlicher Sicht eine neue, exakte dichterische Perspektive zu gewinnen. Sie will „den Reichtum und die Komplexität des seelischen Lebens“ (Sarraute) glaubhaft in Worte fassen, indem sie etwa detailliert beschreibt, was sich in einem Mann während eines Gesprächs mit seiner Frau abspielt:
Sie saß zusammengekauert in einem Winkel des Fauteuils, sie wand sich, der Hals war gereckt, die Augen traten hervor: „Ja, ja, ja, ja“, sagte sie, jeden Teil ihres Satzes mit einem Kopfschütteln billigend. Sie war fürchterlich, sanft und geistlos, ganz glatt, und nur ihre Augen traten hervor. Sie hatte irgend etwas Beängstigendes, Beunruhigendes, und ihre Sanftmut war eine Drohung.
Er fühlte, daß man sie um jeden Preis wieder aufrichten, besänftigen mußte, aber daß es nur jemand mit übermenschlicher Kraft könnte, jemand, der den Mut hätte, ihr gegenüber zu bleiben, hier, bequem sitzend, behaglich ausgestreckt In einem anderen Fauteuil ... der ihren Blick auffinge und sich nicht abwendete, wenn sie sich krümmte ...
Er begann zu sprechen, ohne Pause zu sprechen, gleichgültig von wem, gleichgültig wovon, begann sich schnell, schnell hinundherzubewegen (wie die Schlange vor der Musik? wie die Vögel vor der Boa? er wußte nicht mehr), ohne stillzuhalten, ohne eine Minute zu verlieren, schnell, schnell, solange es noch Zeit war, sie zurückzuhalten, Ihr zu schmeicheln. Sprechen, aber wovon sprechen? von wem? von sich, natürlich von sich, von den Seinen, von seinen Freunden, von seiner Familie, von ihren Geschichten, von ihren Fehlern, von ihren Geheimnissen, von allem, was man besser verbergen sollte – aber da es sie interessieren konnte, aber da es sie befriedigen konnte, durfte man nicht zögern, man mußte es ihr sagen, Ihr alles sagen, sich von allem entblößen, ihr alles geben, solange sie da sein würde, in einen Winkel des Fauteuils gekauert, ganz sanft, ganz geistlos, sich windend.
Es stecke „eine Menge ironischer Weisheit hinter der subtilen Beschreibung, und die jeweilige Situation ist durchaus getroffen“, gaben die „Bücher-Kommentare“ zu. Die „Süddeutsche Zeitung“ bescheinigte der Sarraute „einen Stil, wie man ihn hierzulande noch nicht gelesen hat“, und resümierte, der „einzige Inhalt“ der „Tropismen“ sei „unser aller Inhaltslosigkeit“.
„Äußerlich geht es um nichts, innerlich um alles“, konstatierte die „Frankfurter Allgemeine“, rechnete indessen die Prosakünstlerin „nicht der radikalen Schule ..., sondern der zärtlichen“ zu und folgerte, somit greife „die Essenz ihrer (der Sarraute) Innerlichkeit nicht wie eine Säure ätzend an“, sondern verbreite „Lebenserkenntnis von der skeptisch-gescheiten, zugleich aber auch selbstvertrauend-einsiedlerischen Sorte“. Im „Tagesspiegel“ ermittelte der Berliner Literaturkritiker Günter Blöcker: „Die zierlich gedrechselten, scheinbar inhaltsarmen Texte erweisen sich als wirklichkeitshaltiger, als mancher kompakte Roman es ist.“
Gleichwohl blieb das Erstlingsbuch der 1902 in der Industriestadt Iwanowo nordöstlich von Moskau geborenen Nathalie Sarraute, als es 1939 vom Pariser Verlag Denoel einem noch nicht auf den „Nouveau Roman“ eingestellten Publikum unterbreitet wurde, ziemlich unbeachtet, bis die „Editions de Minuit“ unter der Ägide von Robbe-Grillet 1957 eine Neuausgabe veranstalteten, auf der auch die deutsche Ausgabe basiert.
Nicht allein dieser Neuausgabe, sondern auch dem rund ein Jahrzehnt nach dem „Tropismes“-Erstdruck erschienenen ersten Roman der Sarraute „Portrait d'un inconnu“. („Bildnis eines Unbekannten“) haftet allerdings die odiose Eigenheit an, heute nur mehr ein überholtes Anfangsstadium der Roman-Revolution quasi historisch zu beglaubigen.
Für die Publicity dieses Anfangs-Romans – die nun, verspätet, von Frankreich aus auch auf die USA und England übergreift – hatte der Existentialismus-Autor Jean-Paul Sartre gesorgt: In einem Vorwort, das er dem „Portrait d'un inconnu“ mitgab, deklarierte Sartre das Buch als „Anti-Roman“ und attestierte der Autorin eine Technik des Erzählens, die „es ermöglicht, die menschliche Wirklichkeit in ihrer wahren Existenz zu treffen“.
Zumindest in Frankreich profitierte von solchem Pauschal-Lob auch das dritte der insgesamt fünf Bücher, die Nathalie Sarraute bisher vorzuweisen hat: der Roman „Martereau“ (1953), der nun ebenfalls in deutsch vorgelegt wurde. „Diese Romane sind“, formulierte im Hinblick auf die „Martereau“-Ausgabe die „Neue Zürcher Zeitung“, „Verwirklichungen eines lang...

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