Spring!
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Spring!

  1. 237 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Leistung oder LebenDreißig Sekunden. Nur noch ein einziger Sprung bis zum olympischen Gold... Ein halbes Leben lang versucht Angelika, den Moment ihres großen Versagens bei den olympischen Spielen zu vergessen. Doch dann kommt die zehnjährige Lian in ihre marode Turnhalle in Kassel. Ein außergewöhnliches Turntalent - und ein sehr ernstes Kind.In ihrem bewegenden dritten Roman erzählt Maria Knissel, wie sich aus einem Versagen Stärke entwickeln kann.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783955422110

Zweiter Teil

„Ich wollte meine Würde nicht verlieren, ich wollte meinen Stolz nicht verlieren. Also biss ich die Zähne zusammen.“
(Li Cunxin, Balletttänzer aus China)

Kassel-Bettenhausen, 1974

Über ein Jahr wohnen wir nun schon bei Ulf. Die Wohnung sieht jetzt ganz anders aus. Alles ist bunt, nur Ulfs Sessel ist noch wie vorher. Die Geräusche aus der Fabrik unten sind vertraut geworden. Wenn sie mich wecken, weiß ich, dass Ulf bald die Wohnung verlässt, schleiche hinüber zu Mutter, lege mich zu ihr, lausche ihrem Atem und hoffe, dass sie nicht zu bald aufwacht, denn diese Zeit ist die schönste des Tages.
Die Abende verlaufen immer gleich: Ulf sitzt in seinem Sessel, die Fernbedienung in der Hand. Mutter setzt sich im Schneidersitz zu seinen Füßen, das Gesicht wie er zum Fernseher gerichtet. Ihre Haarspitzen berühren fast den Teppich. Nach wenigen Minuten kritisiert sie das Programm, das Ulf ausgewählt hat. Er reagiert nicht, sein Mund wird schmal und ich versuche, unsichtbar zu sein. Mutter steht auf, holt zwei Flaschen Bier und sie trinken. Sie lehnt sich gegen seine Knie. Kurz darauf wechselt er die Position. Meistens legt sie dann ihren Arm um seine Beine, als wolle sie sich daran festhalten.
Heute jedoch ist es anders. Mutter legt sich auf den Teppich, sie liegt da zwischen dem Tisch und dem Fernseher, ihre Haare breiten sich um den Kopf herum aus wie ein Schleier und verweben sich mit den Schlingen des Teppichs, ihre Brüste sind breit und flach. Ich lege mich leise neben sie, lehne den Kopf an ihren Brustkorb, der sich hebt und senkt. Mein Ohr wird warm. Ich höre Mutters Herz schlagen. Mit dem anderen Ohr höre ich, wie Ulf sich eine Zigarette ansteckt und nach jedem Zug den Rauch aus der Lunge jagt. Seine Atemzüge werden schneller. Unvermittelt lacht Mutter ihr Männerlachen, es überträgt sich auf meinen Kopf: das Vibrieren, der kehlige Ton, die mitschwingende Atemlosigkeit in ihrer Stimme: „Geh doch schon mal in dein Zimmer, Angel.“
Aber es ist noch früh, die Sonne scheint sogar noch, und ich ziehe im Flur die Sandalen an, lausche an der geschlossenen Wohnzimmertür, schleiche aus der Wohnung und laufe die Treppe hinunter. Ich drücke die Haustür auf, renne den Weg an der Halle entlang, der mir inzwischen viel kürzer erscheint als damals, beim ersten Mal, als Karl mich führte. Ich durchquere das Lager und laufe über den überwucherten Trampelpfad. Ich klopfe an Karls Tür, er öffnet, ich schlüpfe hinein.
Vor Ninas Bild bleibe ich stehen. So habe ich das Mädchen auf dem Foto genannt. Niemand weiß es. Nina ist mein Geheimnis. Mit ihr spiele ich tagsüber, mit ihr klettere ich auf den Gestellen herum, wir kichern, wenn einer der Arbeiter sich unbeobachtet wähnt und an den Rand der Halle pinkelt. Mit Nina spreche ich, wenn ich nicht einschlafen kann, Nina liegt neben mir im Bett und hält meine Hand, wenn ich morgens vor dem Sirren der Schweißer aufwache und Ulf noch nicht zur Arbeit gegangen ist, und erzählt mir Witze. Nina ist meine Freundin.
Nach dem stillen ‚Hallo’ laufe ich auf der anderen Seite des Hauses wieder hinaus, auf die kleine, überdachte Terrasse, wo Karls Stuhl steht und Mischkas Futternapf. Heute ist sie da! Ich setze mich neben sie, beobachte, wie sie vorsichtig ein Fleischstückchen nimmt, hin- und herwiegt, dann mit ruckartigen Bewegungen herunterschluckt. Zwischendurch blickt sie immer wieder zu mir hinüber, aber ich verharre unbeweglich, bis sie fertig ist.
Karl kommt dazu und setzt sich auf den Stuhl. Wir reden immer wenig. Als Mischka fertig ist, strecke ich ihr die Hand entgegen, wie bei unserer ersten Begegnung, und sie schnuppert daran, bevor sie ihren Kopf in meine Hand schmiegt.
„Wie alt bist du eigentlich, Engel?“, fragt Karl. Ich mag es, dass er mich Engel nennt.
„Fast sieben.“
„Dann kommst du bald in die Schule?“
Ich nicke.
„Freust du dich schon?“
„Weiß nicht.“
Ich erzähle ihm nicht von unserem Besuch in der Schule, der Frau mit den grauen, streichholzkurzen Haaren, ihrem Lächeln, das einen Moment stehenblieb, als sie Mutter sah, der steifen Haltung, die Mutter daraufhin einnahm. Die Frau stellte mir Fragen, viele Fragen. Sie legte mir ein Blatt und Buntstifte hin und die Striche auf dem Blatt wurden Zickzacklinien, weil meine Hand zitterte. Sie fragte, in welchen Kindergarten ich gehe, was mein Lieblingsessen sei, welchen Beruf mein Vati habe. Und in dem Moment stand plötzlich Nina vor mir, lebensgroß und frech grinsend, und ich sagte: „Fotograf“, und Mutter hob die Hand und ließ sie wieder sinken. Als wir fertig waren und durch den langen breiten Flur zum Ausgang gingen, hielt sie meine Hand so fest, dass es wehtat, und sagte: „Ich würde dich ja lieber auf eine Waldorfschule tun, aber das können wir uns nicht leisten.“
Karl hat sich längst wieder in seine Zeitung vertieft und ich übe Handstand, wie immer, wenn ich hier bin. Ich stelle die Hände auf den Betonplatten auf, nehme Schwung, bis die Füße oben an der Hauswand landen. Dann versuche ich, mich von der Wand zu lösen und auszubalancieren, um frei zu stehen. Manchmal schaffe ich es schon für mehrere Sekunden, spüre, wie meine Haare sich lang ziehen, das Blut in meinen Kopf läuft. Immer wieder mache ich es, nehme Schwung, stelle die Welt auf den Kopf. Langsam wird es dunkel, Karl ist eingenickt, Mischka, deren neugieriges Gesicht zu Anfang noch aus den Büschen herausgeschaut hat, verschwunden. Ich will in der Luft bleiben, mindestens bis zehn zählen können, ohne mich an der Wand abstützen zu müssen. Meine Handgelenke schmerzen und die Fersen sind vom rauen Beton aufgeschürft, aber ich mache weiter, wieder und wieder.
Und mit einem Mal gelingt es mir zu stehen! Ich stehe auf den Händen, ohne mich abzustützen. Es ist ganz leicht, und ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich es schwer gefunden habe. Ich zähle bis zehn und bleibe immer noch stehen. Ich nehme meinen Atem wahr, den ich dieses Mal nicht angehalten habe, regelmäßig und ruhig strömt er durch meinen Körper, einatmen und ausatmen, ein und aus in der perfekten Balance.
Dann dringt Mutters Stimme zu mir vor, „Angelika!“, und obwohl sie weit entfernt ist, höre ich den schrillen Unterton. Ich verliere das Gleichgewicht und kippe beinahe zur Seite. Als ich wieder auf den Füßen stehe und das Blut langsam aus meinem Kopf weicht, wird mir klar, wie dunkel es schon ist. „Angelika!“ Auch Karl scheint es jetzt gehört zu haben. Er öffnet die Augen, braucht einen Moment, sieht zur Uhr. Ohne etwas zu sagen, gehen wir zur Haustür. Mutter ist jetzt viel näher, immer wieder ruft sie, nicht „Angel“, sondern: „Angelika“. Karl öffnet die Tür und schaltet das Außenlicht an. Aus der Dunkelheit heraus taucht Mutter auf, ihr Rock verfängt sich in den Brennnesseln. Ein paar Meter vor uns bleibt sie stehen, schwer atmend. Sie ist mir unheimlich mit diesen riesigen Telleraugen, die zwischen Karl und mir hin- und herrasen und so bleibe ich neben ihm stehen, bis Mutter drei große Schritte macht, mich am Arm packt und den ganzen Weg zurück nicht mehr loslässt, auch nicht, als ich es nicht mehr aushalte und zu weinen beginne.
„Sie war bei diesem Karl!“, stößt sie hervor, als wir in die Wohnung kommen, und: „Was will der überhaupt von ihr!“
Ulf erhebt sich aus seinem Ledersessel, ich sehe seinen Gürtel vor mir, die zerkratzte Schnalle ist genau auf meiner Augenhöhe, das Leder neben der Schnalle heller als der Rest, an einer Stelle ist es eingerissen. Ich sehe, wie Ulf den Gürtel löst, wie er den Arm hebt. „Kleines Luder“, sagt er, Mutter schreit: „Ulf, nicht!“, ich schließe die Augen und denke an meinen Handstand, und Nina ist bei mir, sie strahlt und applaudiert wie verrückt, weil ich so lange auf den Händen stehen bleiben kann.

Vor der Nachbarwohnung lag immer noch die Matte von Frau Hellwig, mit den beiden Kätzchen, die vor Schmutz kaum noch zu erkennen waren.
Als Johannes mich ein paar Tage zuvor gefragt hatte, ob ich Lust hätte, mit ihm klettern zu gehen, hatte ich Ja gesagt, ohne vorher den Kopf einzuschalten. Und jetzt stand ich hier und hoffte, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Eine geschlagene Viertelstunde hatte ich vor meinem Schrank gestanden und überlegt, was ich anziehen sollte, wie lächerlich! Viel gab er ohnehin nicht her: ein paar alte Jeans, Kapuzenpullis, einen Wollpullover, verwaschene Shirts. Schließlich hatte ich mein grünes enges T-Shirt ausgewählt, dazu eine locker sitzende Jeans, und mich gezwungen, in den Spiegel zu sehen. Du musst besser auf deine Figur achten, Schätzchen! Ich wusste, dass das nicht stimmte. Ich wusste, dass ich dünn genug war, weil ich am unteren Ende des Body-Mass-Index stand. Meistens kam ich auf weniger als siebzehn, wenn ich ihn im Internet berechnete, um mich zu vergewissern. Ich wusste es, aber ich sah es nicht, ich spürte es nicht, nach all den Jahren gelang es mir immer noch nicht.
Ich drückte auf den Klingelknopf, hörte Johannes Stimme, Schritte, die Tür öffnete sich. Er hatte das Telefon am Ohr. „Komm rein, bin gleich da“, formten seine Lippen.
Es war das erste Mal, dass ich die Nachbarwohnung betrat. Zur Linken war die Küche, wie bei mir, nur spiegelverkehrt, und gegenüber das Schlafzimmer, dessen geöffnete Tür den Blick auf sein Bett freigab: eine Matratze auf dem Boden, die dunkel gemusterte Bettdecke darauf verknäuelt. Anders als bei mir gab es noch ein drittes Zimmer, aus dem jetzt Johannes’ Stimme kam. Ich ging einen Schritt vor und lugte um die Ecke. Er stand hinter einem großen hellen Tisch, auf dem Pläne übereinanderlagen und strich mit der Hand über das Papier, als suche er einen Stift. Vorn auf dem Boden lag ein Pulli, weiter hinten Kletterzeug und ein Seil. Am Fenster stand ein Sofa, darauf lag ein einzelnes Kissen. Bei aller Unordnung herrschte eine gewisse Ästhetik, als habe jemand die Dinge für ein Stillleben angeordnet. Der graue Teppich, auf dem das Sofa stand, hatte einen rötlichen Schimmer. Vor dem Fenster erhob sich eine Tonskulptur, zwei ineinander verwachsene Menschen, eine Mutter vielleicht, die sich schützend über ihr Kind neigte. Außer dem Tisch und dem Sofa waren keine Möbel in dem Raum, aber an der Wand lehnten, lagen, stapelten sich Fotografien in verschiedenen Formaten, die meisten schwarz-weiß.
Johannes beendete sein Telefonat. „Komm doch rein“, sagte er und: „Wie geht’s?“
Jetzt war er da, der Blick. Ich widerstand dem Impuls, mir ins Gesicht zu fassen. „Ganz okay. Und dir?“
Er griff zu dem Kletterzeug auf dem Boden. „Wenn ich klettern gehen kann, geht es mir immer gut. Hier, für dich.“ Das Seil war rau und fest, und ich war froh, es in die Hand zu bekommen.
„Schön, dass du mitkommst“, sagte er im Treppenhaus.
Ich war nicht sicher, gar nicht sicher, ob ich es auch schön fand. Besser jedenfalls, als wenn die Gedanken immer nur um Lian kreisten. Drei Wochen war das Mädchen nun schon bei mir. Ihr Talent war unglaublich, ihre Fortschritte auch, aber noch immer sprach sie kein Wort. In der Halle herrschte oft stundenlanges Schweigen. Ich zeigte ihr die Übungen, Lian machte sie nach. Manchmal erklärte ich ihr auch alles, dachte, so könnte sie vielleicht Deutsch lernen, zumindest das, was sie für das Training brauchte. Dann wieder ließ ich es, weil es keinen Unterschied zu machen schien, ob ich etwas sagte oder nicht. Herr Xu hatte in den ersten Tagen auf dem Boden gesessen, bis ich ihm meinen Stuhl aus dem Kabuff holte. Dort saß er nun die langen Stunden während des Trainings auf dem wackligen Drehstuhl, manchmal nickte er ein. Am Tag zuvor hatte er wieder einen Brief mitgebracht.
Sehr verehrte Frau Winter,
ich bin sicher, dass Sie Lian die besten Trainingsmethoden absolvieren lassen. Sie sollte jedoch, damit ihr Talent nicht ungenutzt bleibt, mehr Kraftübungen machen. Ihre Arme sind zu schwach, sie müssen weiter ausgebildet werden. Lian ist ein starkes Mädchen.
Er machte mir Vorschriften, wie ich das Training gestalten sollte!
Johannes’ Volvo stand direkt vor der Tür. Ein altes Auto, die Zahlen auf dem Schalthebel waren kaum noch zu erkennen, der Kunststoff des Armaturenbretts stumpf. Die Rückbank war umgelegt und hinten lag alles durcheinander: das Modell eines Gebäudes, eine zerdrückte Isomatte, Seile, Kletterzeug, Karabinerhaken, eine Gaskartusche, ein Stativ.
Auf der Fahrt fragte Johannes nach meiner Halle und dem Dach, aber ich antwortete nur einsilbig und war froh, als er hinter Baunatal den Wagen auf einen Autobahnparkplatz lenkte. Müll hing über dem Rand eines überfüllten Papierkorbs, und als ich ausstieg, trat ich auf eine leere Red-Bull-Dose. Hier sollten wir den Nachmittag verbringen? Klettern in der Natur hatte ich mir anders vorgestellt. Ich drehte mich von der Autobahn weg und hob den Blick zu dem Hügel, aus dessen Mitte Felsen herausragten wie die Türme einer schwarzen Kathedrale.
„Basalt“, sagte Johannes und strich über einen aus dem Boden ragenden Stein, der aussah wie eine abgerutschte und liegengelassene Pyramide, „hartes Gestein. Siehst du, wie es sich immer in sechseckigen Säulen anordnet?“ Auch auf dem Feldweg, den wir jetzt gingen, brach überall in bizarren Formen der Stein durch. Dann bogen wir vom Feldweg ab auf einen Trampelpfad, es wurde steiler, wir stiegen immer höher, bis wir oben auf einem der Felsen standen und in eine Kulisse wie aus einem Winnetou-Film blickten: eine zerklüftete, schwarze Landschaft, Felsen, die sich um ein Tal gruppierten, wie hingefallen in den Feldern, die sie umgaben. „Der Elefantenbuckel“, sagte Johannes fast zärtlich und deutete auf einen abflachenden, breiten Felsen vor uns, „und das“, jetzt richtete er den Finger auf einen glatten, obeliskartigen Felsen, „ist die Schiefe Anna.“ Sein Blick wanderte über die Felsen hinweg, bekam etwas Sehnsüchtiges. Ich steckte die Hände in die Taschen.
Dann nahm er das Seil von der Hüfte, führte es durch einen Ring, der im Fels befestigt war, und ließ es ins Tal fallen. „Wir fangen top-rope an, das heißt: Ich ziehe das Seil hier durch, dann kann ich dich gut von unten sichern, während du kletterst.“ Einen Moment ruhte seine Hand auf dem Felsen.
Über einen anderen Pfad stiegen wir in den Talkessel ein. Das Seil, das er oben befestigt hatte, baumelte von einer hoch aufragenden Felswand herunter, die immer steiler und glatter erschien, je näher ich an sie herantrat. „Ist gut, sich die Route vorher schon mal vorzustellen“, sagte Johannes und ich dachte: „Wie beim Turnen!“
Ich spürte seine Hand auf meiner Schulter. „Siehst du die Haken?“ Er zeigte auf die Ösen, die in regelmäßigen Abständen im Felsen befestigt waren. „Die brauchst du heute nicht. Aber du kannst dich an ihnen orientieren, sie zeigen, wo die Route ungefähr langgeht. Hier, der Klettergurt. Da musst du mit den Beinen durch!“
Ich steckte die Beine durch die Beinschlaufen am Gurt. Johannes überprüfte den Sitz, zog den Gurte straff, und ich konnte nicht anders als an Martin zu denken, an seine Arme, auf die er meinen Namen tätowiert hatte, seine Berührungen, die ich immer noch vermisste, nach all den Jahren.
„Alles in Ordnung?“, fragte Johannes. Er nahm eines der beiden von oben herabhängenden Seilenden, zog es durch eine Schlaufe am Gurt vor meinem Bauch und machte einen komplizierten Knoten. Die ganze Zeit erklärte er irgendwelche Dinge, doch ich hörte kaum zu. Ich hatte keine Ahnung, wo Martin jetzt war. Martin Maifert. Sein Nachname war das Einzige, das mir von ihm geblieben war, außer einem kaputten Sieb und den anderen alten Küchensachen in meinem Keller.
„Angelika?“ Johannes sah mich an. „Du brauchst schon deine Konzentration.“
„Ja klar, kein Problem.“
„Okay. Dann klettere mal ein Stück hoch und lass dich ins Seil fallen, damit du ein Gefühl dafür bekommst.“
Ich griff an einen kleinen Vorsprung im Fels, mit der anderen Hand in eine Einbuchtung, fand Stellen, auf die ich die Füße aufsetzen konnte, und zog mich hoch. Das Gestein war rau unter meinen Fingern, das Gewicht zog mich nach unten, und mir wurde bewusst, dass Klettern bedeutet, gegen die Schwerkraft zu kämpfen, Zentimeter für Zentimeter, ganz anders als beim Turnen, wo es immer auch um Schwung ging, um Impulse und Fliehkräfte, die genutzt und gebändigt werden mussten. Ich suchte neue Stellen für die Füße und die Finger.
„Du bist ja ein Naturtalent“, sagte Johannes von unten, „jetzt lass dich fallen!“
„Ein Stück noch“, rief ich und kletterte weiter. Dann kam ich an eine Stelle, an der es nicht weiterging. Ich erreichte ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titelseite
  2. Impressum
  3. Widmung
  4. Erster Teil
  5. Zweiter Teil
  6. Dritter Teil