Orlandos Fächer
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Orlandos Fächer

Roman einer Stadt

  1. 248 Seiten
  2. German
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Orlandos Fächer

Roman einer Stadt

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Wie einst Athene dem Haupt des Zeus entspringt Orlando, Schelm und Abenteurer, dem Kopf des Stadtgründers Carl Wilhelm. Sein Leben beginnt im Hardtwald und führt durch die dreihundertjährige Stadtgeschichte Karlsruhes bis in die Gegenwart. Er baut das Schloss als einfacher Arbeiter, protokolliert einen Karlsruher Kindsmordprozess, bildet sich zur Zeit Napoleons, erlebt die Feier zur badischen Verfassung, wird Schauspielerin in Zeiten der Industrialisierung, trauert während der Weltkriege, demonstriert mit den 68ern, wandert durch die Baustellen der UStrab – sein Weg durch die Geschichte: ein Herumtanzen um Baugruben.Orlando nimmt den Leser mit, wenn er gelegentlich innehält, um in eine Szene, eine Episode, ein wichtiges Ereignis der Stadtgeschichte einzutauchen und den jeweiligen Zeitgenossen zu begegnen.

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Information

Fünftes Buch

Konflikte

Erstes Kapitel


Hedwig und ich waren mit zwei Herren verabredet, die wir bei Vorträgen kennen gelernt hatten: mit Theodor Siepmann, der das Polytechnikum absolviert hatte, und mit dem Sozialdemokraten Otto Rumold, Abgeordneter der Zweiten Kammer. Mit ihnen wollten wir den Aufbau einer Volksbildungsbibliothek besprechen, denn alle vier hielten wir es für dringend erforderlich, das Volk, und zwar Männer und Frauen, aufzuklären und politisch zu bilden. Wie Hedwig mit einem traurigen Lächeln sagte, werde sie eigene Kinder wohl nicht mehr erziehen und unterrichten dürfen. Sie wolle ihr Wissen in den Dienst der niederen Schichten stellen, die höheren habe sie zur Genüge kennengelernt.
Wir betraten das Nebenzimmer des Restaurants Tannhäuser an der Karlstraße, Ecke Kaiserstraße, das auch gegen zehn Uhr abends gut besetzt war, obwohl der 11. Oktober ein Sonntag war. Die Luft im Raum war schwer, das Licht der Lampen gedämpft, sodass Hedwig stolperte, als sie sich hinter Theodor zwischen zwei Tische zwängte, um zu einem Platz zu gelangen. Ich drängte mich mit Otto an anderen Gästen vorbei zu den freien Stühlen gegenüber. Am Nachbartisch saßen vor ihren Krügen Offiziere des Badischen Leibgrenadierregiments.
Während Theodor sich zu Hedwig umwandte und einen Stuhl für sie zurückzog, stieß er mit der Lehne dieses Stuhls an das Gegenüber am Nachbartisch. Der Premierleutnant, der darauf saß, strich eben den Schaum aus dem scharfgezwirbelten Schnauzbart, den er wie Kaiser Wilhelm trug.
Sobald der Premierleutnant die leichte Berührung im Rücken spürte, fuhr er auf, drehte sich um und musterte Theodor von oben bis unten.
»Zivilist, nicht satisfaktionsfähig, Brüsewitz!«, sagte aus dem Mundwinkel der andere Offizier, der neben ihm in die Höhe geschossen war und den blauen Waffenrock zurechtzog.
»Herr –«, sagte Brüsewitz, zog das Wort in die Länge, als warte er auf etwas, und ließ die Stimme auf dem R hinten im Rachen verharren. Der schnurgerade Scheitel auf seinem Schädel blitzte weiß wie eine Narbe. »Herr – «, wiederholte Brüsewitz mit grollendem Unterton. »Sie haben meinen Stuhl touchiert!«
Theodor zuckte mit den Schultern und lächelte den Offizier entschuldigend an. »Kann passieren, wenn es so eng ist«, sagte er leichthin.
»Dies ist eine Beleidigung meiner Ehre als Offizier!« Brüsewitz fuhr mit der Hand nach dem Säbelgriff und herrschte den herbeieilenden Gastwirt an: »Werfen Sie diesen Kerl hinaus, er hat mich beleidigt! Das wird Konsequenzen haben!«
Theodor lachte auf, wandte sich von ihm ab und uns zu, hob erneut die Schultern, als wolle er sagen: preußisch!, oder: naja, die Offiziere!, oder: bloß ein Stuhl! In diesem Moment hörten wir das metallische Zischen einer Klinge, der Premierleutnant hielt den blanken Säbel in der Hand.
»Bitte, verlassen Sie mein Haus«, sagte der Wirt zu Siepmann, drängte sich zwischen die Kontrahenten, packte Theodor an den Schultern und schob ihn zur hinteren Tür zum Hof hinaus. Der Leutnant hatte seinen Säbel wieder eingefahren, er und sein Freund sahen zu, wie der Wirt hinter Siepmann die Hintertür schließen wollte. Dann gingen sie zum Ausgang und verließen das Lokal.
»Was fällt Ihnen ein?!«, rief Theodor und wehrte sich gegen die Umklammerung des Wirts. »Warum soll ich gehen? Wer ist denn der Ruhestörer?!«
Hedwig, Otto und ich waren den beiden in den Hinterhof gefolgt und versuchten den Wirt zu beruhigen, neben seiner Hütte tobte der Kettenhund, eine schwarz-weiß gefleckte Bulldogge. Da drängte sich der Leutnant mit erneut blank gezogenem Säbel durch die Hinterpforte in den Hof hinein, das Gesicht hochrot, die Zähne zusammengebissen.
»Dreistigkeit! Tödlich beleidigt! Das – wegen – Dienst quittieren?« Er machte einen Ausfall, Theodor trat zurück, wich dem Hund aus, stolperte gegen einen Holzstapel und hob abwehrend einen Arm zur Abwehr. »Zivilcanaille!«
Damit stach Brüsewitz ihn nieder, säuberte seinen Säbel vom Blut, steckte ihn in die Scheide und verließ den Hinterhof. Seine Miene war zu einer biederen Maske der Genugtuung erstarrt. Ärztliche Hilfe kam zu spät, nach wenigen Minuten starb unser Freund.
Der Vorfall ging durch alle Blätter, selbst in Paris wertete man ihn als Zeichen für den Kastengeist des Militärs. Im Berliner Reichstag, in unserer Zweiten Kammer wurde der militärische Ehrbegriff diskutiert und der daraus resultierende Zwang zu Duellen und Ehrenhändeln. Die Karlsruher Bürger waren empört. Derlei sei früher in Süddeutschland nicht vorgekommen, meinten viele, daran seien die preußischen Sitten schuld, die sich seit 1871 überall breitgemacht hätten. Ein Offizier habe die Waffe zur Landesverteidigung einzusetzen und nicht gegen denjenigen, den er beschützen solle. Der Badische Beobachter prangerte an, dass ein Offizier sich anmaße, in eigener Sache Ankläger, Richter und Henker zu sein. Man forderte, das Militär in solchen Fällen der zivilen Gerichtsbarkeit zu unterstellen und sogenannte Ehrenangelegenheiten nicht unter sich aushandeln zu lassen. Im Deutschen Adelsblatt stand zu lesen, dass Demokraten- und Judenblätter den Fall für eigene Zwecke ausbeuteten, um die Monarchie in Frage zu stellen und das eigene Nest zu beschmutzen. Mit den Waffen des Kriegers müsse ein Offizier derartige Beleidigungen sühnen.
Brüsewitz erhielt vom Militärgericht eine milde Gefängnisstrafe und suchte nach seiner Entlassung den Tod im afrikanischen Burenkrieg. Das freute keinen, weder das eine noch das andere. Bei uns stellte sich kein Konsens zwischen ziviler und militärischer Weltanschauung her, nach wie vor galt die Armee als Schule der Nation, ihr Recht bestand neben dem bürgerlichen Recht.
Niemals stille stand in meiner Stadt die Baustelle. Der Fortschritt machte einiges zunichte, was sich früher entwickelt hatte, und schuf Gelegenheiten für Neubauten. Ich war vom Tag meiner Geburt an ein Heranwachsender, eine Heranwachsende, nie fertig, immer bereit für neue Abenteuer, neue Menschen, neue Häuser, neue Straßen.
Friedrich Weinbrenner hatte die Stadt unverwechselbar gemacht mit seinen Bauten. Immer wieder lassen mich gewisse Ansichten an die Ewige Stadt denken, die ich niemals erleben werde. Doch auch die Häuser, die nicht von ihm stammen, liegen mir am Herzen, die Modellhäuser, die Häuser im Dörfle, die Palais an der Kriegsstraße und an der Karlstraße – kein einziges davon sah und sehe ich gern verschwinden.
Fabriken wurden gebaut. Die Maschinenbaugesellschaft Karlsruhe produzierte Lokomotiven, Werkzeugmaschinen, Turbinen, die Firma Haid & Neu stellte nach wie vor Nähmaschinen her, Junker & Ruh ebenfalls, bis die Firma sich auf den Ofenbau spezialisierte. Sie waren wie viele andere mehr vom Gründungsfieber angesteckt und wuchsen. Arbeiter brauchten sie alle, und Arbeiter brauchten Wohnungen, auch wenn sie klein und schlecht ausgestattet waren.
Noch waren nicht alle Straßen beidseitig bebaut, noch standen selbst in der Kaiserstraße die kleinen Modellhäuser der ersten Bauphase. In den folgenden Jahren beobachtete ich, dass die zweigeschossigen Häuser aufgestockt wurden, vor allem in der Kaiserstraße und in der Karl-Friedrich-Straße, wie die Schlossstraße jetzt hieß. Schon hatte man zusätzlichen Wohnraum in der Höhe geschaffen, Verdichtung der Bebauung nannte man das, wie ich in der Karlsruher Zeitung und im Karlsruher Wochenblatt las. In irgendeinem dieser Häuser hatte ich doch vor Zeiten den Prorector Malsch besucht und denken gelernt. Ich fand es nicht wieder oder erkannte es nicht.
Die zusätzlichen Stockwerke genügten nicht. Wir breiteten uns aus nach Westen und Süden, indem wir Straßen verlängerten: die Karlstraße, die Sophienstraße, die Augartenstraße, die Westendstraße. Grundstruktur der Erweiterung war nun nicht mehr der Fächer, sondern das Rechteck. Der Landgraben wurde begradigt und endgültig überwölbt. Neue öffentliche Bauten garantierten die Versorgung der Bevölkerung: Gaswerke, Krankenhäuser, Schulen, Festhalle, das Vierordtbad, der Schlachthof an der Durlacher Allee und andere mehr. Neue Stadtviertel entstanden – Südstadt, Südweststadt, Weststadt. Ab 1907 verleibten wir uns Beiertheim, Rint-heim, Rüppur, Grünwinkel und Daxlanden ein. 1914 war meine Stadt mit 146.000 Einwohnern eine Großstadt. Im gleichen Jahr erhielten wir ein zweites großes Warenhaus auf der Kaiserstraße, das Warenhaus Knopf. Das Haus Hermann Tietz auf der anderen Straßenseite hatte einige Monate zuvor eröffnet.
Nach Gottesaue ging ich nicht mehr zu Fuß wie noch Catharina Würbs und ihre Nachbarinnen, sondern benutzte die Pferdebahn. Dort befanden sich seit Kurzem ein Militärarresthaus, ein Exerzierplatz, eine Artilleriekaserne und gleich daneben der neue Schlachthof – eine Zusammenstellung von Bauten und Funktionen, die mir einen Schauder über den Rücken kriechen ließ. Auf dem Rückweg fuhren mit mir Soldaten auf Urlaub und Leute vom Land, die mit dem Lobberle, der Lokalbahn, gekommen waren und in die Innenstadt wollten. Hausfrauen und Dienstmädchen auf dem Weg zum Markt setzten sich auf ein Schwätzchen zu mir. Wir zuckelten die Kaiserstraße entlang, ließen Fahrgäste aus- und einsteigen. Die mageren Pferdchen hoben und senkten rhythmisch die Köpfe, scharrten bei den Haltestellen mit den Hufen und stolperten gelegentlich. Am Mühlburger Tor war die Fahrt noch nicht zu Ende, denn Mühlburg als nächste Station gehörte schon längst zur Stadt.
Der Straßenverkehr hat sich demokratisiert, dachte ich, nicht nur die Reichen und Vornehmen können die Stadt in der Kutsche durchqueren, sondern jeder, der die paar Pfennige Fahrgeld entrichten kann. Junge Burschen sprangen aufs Trittbrett und fuhren mit, zum Ärger des schimpfenden Schaffners sprangen sie wieder ab, bevor er abkassieren konnte.
Um das Jahr 1900 starteten wir wieder in eine neue Zeit, denn aus der Pferdebahn wurde die elektrische Tram. Bei meinen nächtlichen Spaziergängen wurde ich oft so bedrängt, dass ich mir wünschte, wieder in der Gestalt eines Mannes herumgehen zu dürfen. Ich beschloss daher, mich zumindest bei Nacht so unkenntlich zu machen, dass mich niemand identifizieren konnte, und zog alle Fühler in die Außenwelt ein. Ich reduzierte mich auf eine Idee. Ich beobachtete, stülpte eine Glocke aus Nichtdenken über mich. So wurde ich bei meinen Rundgängen unsichtbar.
Geld verdiente ich, indem ich mich den Malern und Bildhauern der Kunstakademie als Modell vermietete. Daher fand ich mich eines Tages als Quellnymphe im Mittelpunkt des größten Interesses, denn ich wurde im Gemeinderat diskutiert. Schon öfter war ich Gegenstand der Gemeinderatsverhandlungen, um genau zu sein, eigentlich immer. Nicht aber in dieser Gestalt.
Der Architekt Hermann Billing hatte im Auftrag der Stadt, die unter Murren und Knurren etwas für junge Künstler tun sollte, für den Stephanplatz einen Brunnen entworfen. Der Entwurf zeigte ein Rundtempelchen nach dem Vorbild eines antiken Naturheiligtums, in dessen Mitte eine Quellnymphe Wasser spendete. Da mythologische Figuren in heiligen Hainen gewöhnlich keine Schwarzwälder Tracht tragen, eigentlich gar nicht bekleidet sind, war sie splitterfaser...

Inhaltsverzeichnis

  1. Impressum
  2. Das Buch
  3. Die Autorin
  4. Prolog
  5. Erstes Buch: Die Mutter aller Baustellen
  6. Zweites Buch: Schwert und Bajonett
  7. Drittes Buch: Kometen und andere Katastrophen
  8. Viertes Buch: Alles Theater
  9. Fünftes Buch: Konflikte
  10. Sechstes Buch: Das Gedächtnis der Baustellen
  11. Epilog
  12. Literatur
  13. Martina Bilkes erster Roman "Erben"