WORKSHOP 1
Ihre persönliche Sichtweise
Leica M(240), 21 mm, 8s @ f/4.0, ISO 100
Fogo Island, Neufundland, Kanada. 2014.
Wir fotografieren aus den verschiedensten Gründen. Manchen von uns genügt ein technisch korrektes, scharfes und gut belichtetes Foto – mir jedoch nicht und Ihnen wahrscheinlich auch nicht. Sonst würden Sie wohl einfach Ihr Kamerahandbuch lesen oder im Automatikmodus fotografieren und wären zufrieden. Aber wir möchten die Welt mit der Kamera aus einem anderen Blickwinkel betrachten und für uns selbst und andere ausdrücken, was wir in dieser Welt sehen. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich nicht mehr so leicht definieren, was ein gutes Foto ausmacht. Es muss nicht immer ganz scharf oder perfekt belichtet sein. Stattdessen ist die Sichtweise das A und O.
Fuji XE-1, 18 mm, 1/400 @ f/5.6, ISO 400
Jedes Foto – auch dieses in Oaxaca in Mexiko aufgenommene Bild – beginnt mit einer Vision. Wenn es Ihnen lieber ist, sprechen Sie stattdessen von einer »Sichtweise«. Von ihr werden Ihre Einstellungen, Objektive, Ihr Standort und die Wahl des Augenblicks bestimmt. Sie prägt die Bildentwicklung und -nachbearbeitung. Sie ist unser Ausgangspunkt.
In meinen anderen Büchern habe ich ausführlich über diese Sichtweise – oder Vision – geschrieben. Ich erspare Ihnen jetzt also die lange Predigt und komme gleich auf den Punkt: Sie sehen die Welt anders als andere Menschen.
Es geht nicht nur darum, was Sie sehen. Wichtiger ist, wie Sie diese Dinge wahrnehmen. In einem späteren Workshop ermutige ich Sie, die Werke der Meister zu studieren. Aber schon jetzt sollten Sie die Bilder anderer Fotografen betrachten und sich dabei fragen: Warum haben sie ausgerechnet diese Entscheidung getroffen, obwohl es so viele Möglichkeiten gibt? In den meisten Fällen liegt es an der Sichtweise. Diese Fotografen sahen die Szene (und die ganze Welt) durch bestimmte mentale und emotionale Filter. Manche Fotografen (zum Beispiel ich) nehmen die Welt optimistisch, hell und als wundervolles Abenteuer wahr und das spiegelt sich auch in ihren Fotos. Andere – etwa Elliott Erwitt – betrachten die Dinge eher humorvoll; und auch das färbt auf ihre Arbeit ab. Wieder andere empfinden die Welt als dunkel oder fantastisch. Ein Beispiel sind etwa die Arbeiten von Brooke Shaden.
»Ihre Reise hat kein bestimmtes Ziel – sie ist eine unendliche Entdeckungsreise.«
Unsere Sichtweise ist die treibende Kraft; deshalb setze ich sie an den Anfang des Buchs. Wir nehmen die Welt auf eine bestimmte Weise wahr und denken: »Hey, sieh dir das an!« Dann greifen wir zur Kamera und drücken den Auslöser. Unser fotografischer Stil hängt davon ab, was wir ausdrücken möchten. Vergessen Sie deshalb lieber gleich die Frage: »Wie soll ich das fotografieren?« Es gibt kein »sollen«. Interessanter ist die Frage »Wie will ich das fotografieren?« oder sogar: »Wie kann ich diese Szene mithilfe von Objektiv, Blickwinkel, Belichtungszeit, Blende usw. so darstellen, wie ich sie sehe oder empfinde?« In 20 Jahren werden Sie wahrscheinlich eine andere Antwort geben als heute. Dasselbe gilt für Ihre Sicht auf die Welt. So soll es auch sein: Ihre Reise hat kein bestimmtes Ziel – sie ist eine unendliche Entdeckungsreise.
Sobald Sie die Kamera in die Hand nehmen, streichen Sie den Rest der Welt aus Ihrem Kopf, auch die Fotografen, die Sie bewundern – sogar diejenigen, wegen denen Sie selbst Fotograf werden wollten. Die ganz besonders. Diese Fotografen haben uns ihre Weltsicht gezeigt. Wir haben ihre Bilder gesehen. Was wir noch nicht kennen, ist Ihre Wahrnehmung der Welt. Zeigen Sie uns diese mit Ihren Bildern.
WORKSHOP 2
Stellen Sie bessere Fragen
Anfänger haben tausend Fragen. Wir sollten stets bescheiden bleiben und uns weiter als Anfänger betrachten. Damit bewahren wir uns auch für immer die Bereitschaft, Fragen zu stellen. Zu Beginn tauchen angesichts der Bilder anderer Fotografen ganz natürliche Fragen auf:
• Welches Objektiv haben sie verwendet?
• Mit welcher Kamera haben sie das fotografiert?
• Welche Einstellungen haben sie vorgenommen?
Insgesamt sind das keine schlechten Fragen. Die Kunst, die Sie erlernen möchten, wird schließlich vor allem mit technischen Mitteln ausgeübt.
Das Problem ist nur, dass diese Fragen nicht ganz so interessant und hilfreich sind wie bestimmte andere. Sie scheinen etwas zu vereinfachen, was letztlich absolut nicht einfach ist. Ich möchte Sie nicht überfordern, sondern ermutigen: Betrachten Sie die Fotografie weniger als technisches, sondern als ästhetisches Handwerk, das mit technischen Mitteln ausgeübt wird. Mit anderen Worten: Jede Entscheidung, die den Bildeindruck mitbestimmt, liegt in Ihren Händen; und jede Entscheidung ist wichtig. Hier einige der interessanteren Fragen – ich formuliere sie in der ersten Person, weil ich hoffe, dass Sie sie anschließend an sich selbst richten werden:
Leica M (240), 21 mm, 1/90 @ f/6.8, ISO 200
Lake Louise, Kanada, 2014.
• Welchen Gedanken oder welche Wirkung möchte ich mit diesem Foto vermitteln?
• Welche Rolle spielen die Farben?
• Wie würde diese Szene aussehen, wenn ich ein- oder auszoomen würde?
• Was hat dieser spezielle Augenblick an sich – warum habe ich gerade ihn gewählt, statt noch einen Moment zu warten oder das Bild ein bisschen früher zu machen?
»Es gibt keine richtige Antwort, nur Möglichkeiten. Manche funktionieren besser als andere.
Vergessen Sie die Praxis; lernen Sie zu spielen.«
• Würde sich das Aussehen bestimmter Elemente durch meine Einstellungen (Blende, Belichtungszeit, Brennweite) ändern? Könnte ich meine Geschichte besser erzählen? Welche Elemente wären bei einer geringeren Schärfentiefe nicht mehr im Fokus? Welche würden bei einer längeren Belichtungszeit verwischen? Durch solche Unschärfen ändern sich Formen und Bildkomposition.
• Mit welchen Mitteln kann ich Unwichtiges aus dem Bild nehmen, ohne die Wirkung der wichtigen Elemente zu mindern? Soll ich mein Motiv zum Beispiel mit einem Teleobjektiv isolieren? Oder soll ich ein Weitwinkelobjektiv nehmen, dafür näher herangehen und vielleicht meine Position und die Bildperspektive ändern?
• Welche Beziehungen bestehen zwischen den Elementen? Kann ich diese durch einen anderen Standort oder ein anderes Objektiv verdeutlichen?
• Wo sind in diesem Bild die Linien? Würde ein anderer Bildausschnitt (vertikal oder horizontal), ein anderes Seitenverhältnis (Quadrat, 16:9 usw.) oder ein anderes Objektiv sie betonen oder abschwächen?
• Führen diese Linien das Auge in das Bild hinein oder aus ihm heraus? Könnte ich das ändern, um das Auge besser zu leiten?
• Was ist mit dem Licht? Licht trägt zur Komposition bei, schafft Schattenzonen, Räumlichkeit und Stimmung. Ignorieren Sie die Schatten nicht; Sie vergeben sonst eine Chance auf stärkere Bilder.
• Gibt es Räumlichkeit in meinem Bild? Könnte es mehr sein? Oder wäre weniger besser?
• Gibt es wiederholte Elemente, die ein visuelles Echo hervorrufen oder einen Rhythmus erzeugen? Könnte ich ein wenig auszoomen und mehr von diesen Elementen zeigen? Oder soll ich ein bisschen näher herangehen, sodass weniger Elemente sichtbar sind?
Mit all dem beschäftigen Sie sich in den kommenden Workshops – und solange Sie fotografieren. Mithilfe dieser Fragen lernen Sie, kreativ über Ihre Sichtweise nachzudenken. Lassen Sie sich davon nicht lähmen. Es gibt keine richtige Antwort, nur Möglichkeiten. Manche funktionieren besser als andere. Vergessen Sie die Praxis; lernen Sie zu spielen. Dann werden Sie mehr lernen. Fürchten Sie sich nicht vor Misserfolgen; experimentieren Sie. Wenn Sie die Fragen nicht beantworten können, probieren Sie alle Möglichkeiten aus und lernen Sie aus den Ergebnissen. Und wenn Sie die Chance haben, mit einem Fotografen über seine Kunst zu sprechen und von ihm zu lernen, dann fragen Sie statt »Was« lieber »Warum«. Die Antwort wird Sie sehr viel weiterbringen.
WORKSHOP 3
Das Handbuch
Lesen Sie das Kamerahandbuch. Ja, im Ernst. Laden Sie es bei Bedarf herunter und lesen Sie es. Dann heften Sie es gegebenenfalls ab. So erfahren Sie, welche erstaunlichen Dinge dieser Lochkasten bewerkstelligen kann. Kreativität braucht Möglichkeiten; und wenn Sie nicht wissen, dass Ihre Kamera Mehrfachbelichtungen machen oder Vorsch...