Kapitel 1
Mit dem arbeiten, was da ist
Wir Fotografen lieben ja unser weiches Licht. Ständig halten wir Ausschau nach dunklen Ecken, bewölkten Tagen und Fenstern, die nach Norden weisen. Aber was, wenn es nichts dergleichen gibt? Wenn alles, was wir bekommen, grelles Sonnenlicht am Mittagshimmel ist? Oder wenn der Raum, in dem die Session stattfinden soll, nur ein Fenster hat, durch das die hellen Strahlen der Sonne fallen? Aus den sprichwörtlichen Zitronen, die uns das Leben – in Form von Umgebungslicht – gibt, leckere Limonade machen zu können, ist eine Fähigkeit, die gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Klar, Umgebungslicht kann wirklich nerven, aber man kann es sich auch relativ leicht gefügig machen. In dieser Hinsicht ähnelt es einem treuen Hund, der zwar im ganzen Zimmer herumspringt, als ob er ein Kaninchen jagt, aber trotzdem auf’s Wort hört.
Das Reich der Lichter
Egal wo ich auch bin: Ich verschaffe mir stets zu allererst einen Eindruck von den Lichtverhältnissen. Vor allem liebe ich Reflexionen und komplexe Schatten (Abbildung 1.1). Beides finden Sie ohne Ende in den urbanen Schluchten moderner nordamerikanischer Großstädte. Sobald auch nur ein paar Wolkenkratzer beisammen stehen, spiegelt sich das Licht der über den Himmel wandernden Sonne in den Fenstern der Hochhäuser und nimmt so seinen Weg von Gebäude zu Gebäude. Natürlich spielt auch die Jahreszeit eine wichtige Rolle für das Licht- und Reflexionsverhalten. Im Herbst beispielsweise steht die Sonne niedriger am Himmel, weswegen ihre Strahlen auf andere Fenster treffen als im Frühling. So entstehen beeindruckende Licht- und Schattenspiele an Stellen, wo drei Monate vorher noch nichts zu sehen war (Abbildung 1.2).
Achten Sie einmal darauf, falls Sie es nicht ohnehin schon selbst bemerkt haben. Durch das Beobachten von Licht, Schatten und beider Wechselspiel habe ich mehr über die Off-Camera-Beleuchtung gelernt als durch irgendetwas anderes. Stellen Sie sich die Sonne dort oben im Weltraum als ultimativen Studioblitz vor. Aufgrund des Quadratabstandsgesetzes ist das von sehr weit her kommende Sonnenlicht beim Eintreffen auf unserer Erde gleichmäßig. Achten Sie doch einmal auf Ihren Schatten, wenn Sie das nächste Mal an einem sonnigen Tag einen Spaziergang machen. Er ist recht klar definiert, hat allerdings relativ weiche Kanten. Halten Sie Ihre Hand jedoch nur ein paar Zentimeter über den Boden, dann ist der Schatten extrem knackig und klar umrissen.
Abbildung 1.2 Suchen Sie nach dem Wechselspiel von natürlichem Licht und Schatten. Wenn Tages- und Jahreszeit sich ändern, ändern sich auch die Lichtverhältnisse.
Licht funktioniert immer gleich. Wenn Sie eine Lampe auf ein Stativ montieren und sie einschalten, tun Sie eigentlich nichts anderes, als die Sonne zu simulieren und dabei festzulegen, wohin sie scheint. Nach eingehender Beobachtung natürlicher Lichtszenarien wissen Sie nun, dass Ihre Lichtquelle nur weit genug von Ihrem Motiv entfernt sein muss, damit sich das Licht beim Erreichen des Motivs gleichmäßig verteilt. Wollen Sie eine scharfe Schattenkante auf Ihrem Hintergrund, dann positionieren Sie das Motiv näher an der Lichtquelle. Soll der Schatten hingegen weich oder gar nicht vorhanden sein, dann vergrößern Sie den Abstand des Motivs zum Hintergrund.
Zäune sind hervorragende Schattenspender (Abbildung 1.3). Je nach Art des Zauns, dem Stand der Sonne und ihrer Stärke erhalten Sie deutlich unterschiedliche Lichteffekte und Resultate (Abbildung 1.4). Mir ist klar, dass die Aufnahme recht unruhig ist – auch wegen des Musters auf der Bluse des Modells und dem Schmuck. Aber manchmal funktioniert Unruhe auch. Wenn Sie beginnen, das Potenzial des natürlichen Lichts in Ihrer Umgebung zu erkennen, dann werden Sie bald bemerken, dass Sie gar nicht so viel Equipment brauchen, um ein überzeugendes Bild zu machen.
Abbildung 1.3 Ich bin wirklich x-mal an diesem Zaun vorbeigegangen, aber es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich bemerkte, dass er einen fantastischen Schatten warf, wenn das Sonnenlicht im richtigen Winkel hindurchfiel. Deswegen habe ich mein Modell dorthin beordert.
Abbildung 1.4 Die fertige Aufnahme: Sie ist recht unruhig geworden, aber mir gefällt sie.
Nichts für Weicheier
Diese Aufnahme habe ich bei Mona zu Hause an einem sonnigen Tag gemacht. Das Haus ist nicht besonders groß und als größter Raum bot sich das Esszimmer für das Shooting an. Wegen eines großen Fensters am Tisch hatten wir Licht en masse, aber die einfallenden Sonnenstrahlen waren sehr grell. Ich hatte zwar Blitze dabei, aber das Sonnenlicht vor Ort war bereits sehr hell. Ich beschloss, dass es einfacher sein würde, die Sonne zu nutzen, statt sie mit Blitzlicht zu überstrahlen.
Abbildung 1.5 Hier sehen wir das Modell vor zugezogenen Vorhängen an einem sonnigen Tag. Das Licht ist zwar weich, aber langweilig und wenig schmeichelhaft.
Als erstes platzierte ich Mona vor dem Fenster und schloss die Vorhänge. Auch bei zugezogenen Vorhängen fiel noch eine Menge Licht hindurch. Allerdings handelte es sich, wie man in Abbildung 1.5 sehen kann, um weiches und sehr gleichmäßiges Licht. Deswegen ist das Bild ziemlich langweilig. Nachdem ich die ersten Aufnahmen gesehen hatte, kam ich auf die Idee, eine harte und schmale Lichtquelle zu verwenden, mit der sich tiefe Schatten formen ließen – eine sicherlich optisch wesentlich interessantere und schmeichelhaftere Beleuchtung für Mona. Denken Sie an die Helldunkel-Kontraste in alten Gemälden von oder Caravaggio. Falls Sie mit diesen alten Meistern der Renaissance noch nicht vertraut sein sollten, finden Sie in ihren Werken zahllose Inspirationen und Ideen für den Lichteinsatz.
Abbildung 1.6 Der Aufbau: Das grelle Sonnenlicht strahlte durch das Fenster ins Esszimmer. Trotzdem war dies für ein Porträt die geeignetste Stelle im Haus, weswegen ich die Vorhänge fast ganz zuzog, um die Lichtverhältnisse zu ändern. Foto von Doral Chenoweth
Abbildung 1.7 Der Beleuchtungsaufbau: Ich machte die Aufnahme mit einer offenen Blende, um eine Trennung zwischen Mona und der Wand hinter ihr zu erzielen.
Ich setzte Mona also um, platzierte sie neben dem Fenster (Abbildung 1.6) und zog die Vorhänge so weit auf, dass ein Spalt von etwa 7–8 cm Breite entstand. Nun fiel ein einzelner Lichtstrahl durch das Fenster un...