ino Sadghobelaschwili
DIE GESCHICHTE DES HAUSES
Die Sonne wandert die Dächer hinunter, und die Fenster funkeln im kühlen Licht. Der laue Herbstwind raubt auch der Sonne allmählich die Kraft.
Vor mir blühen feuerrote Astern. Erst spät wird mir bewusst, dass ich diese Blumen schon seit über einer Stunde anstarre. Einige wenige benommene Bienen und der leichte Staub auf den dürren Stängeln, den die Brise von einem Blatt zum anderen trägt und der in der Flut des Sonnenuntergangs flimmert, versetzen mich in eine seltsame, schläfrige Ruhe. Ich habe völlig vergessen, ob ich je gesprochen, mich gerührt oder gelebt habe.
In den Hof kommen eine Frau und ein Junge, sie steuern auf das Kirchentor zu. Eben in diesem Augenblick tritt ein junger Priester aus der Kirche, und die Frau stürzt schluchzend auf ihn zu, erst küsst sie ihm die Hände, dann den Rockschoß, der Priester schiebt die Frau vorsichtig beiseite und lädt sie ein, auf einer Bank Platz zu nehmen.
Sie sitzen in einiger Entfernung von mir. Der Junge wird um die neun, zehn Jahre alt sein, er sitzt neben der Frau und klammert sich aus irgendeinem Grund so an ihren Rücken, an ihr Kleid, als wollte sie ihm jemand entreißen.
»Weißt du vielleicht, wie man die Angst wegbetet, Vater, oder gibt es vielleicht ein Gebet, eins gegen die Angst«, beginnt die Frau mit hysteriedurchsetzter Stimme.
Die Antworten des Priesters kann ich nicht gut verstehen, zum einen, weil die Frau und der Junge ihn ganz verdecken, so dass sie nicht nur den Priester, sondern meinen ganzen Gesichtskreis im Nu verdunkelt haben, und zum anderen, weil er sehr ruhig und leise spricht.
»Hilf mir, Vater, schau doch, wie das Kind beisammen ist.« Die Stimme der Frau ist gut zu hören. Ich weiß nicht, warum, aber unwillkürlich habe ich mich leicht vorgebeugt und betrachte das Kind. Es ist wirklich blass und leblos.
»Es war vor zehn Tagen, Vater«, antwortet die Frau eilig auf eine Frage des Priesters, »du erinnerst dich doch, als Magnolia sich aufgehängt hat, in der Rosenstraße, da hat er sie gefunden … Und auf den Schreck hin …«
Der Priester bekreuzigt sich und fragt sie erneut etwas. Die Frau erklärt es ihm wieder verzweifelt. Schließlich seufzt sie auf:
»Ich bin durch das ganze Dorf gelaufen und habe nirgendwo mehr einen Beter gefunden, Vater. Früher, in meiner Kindheit, haben sich zum Allermindesten vier Frauen auf das Heilbeten verstanden, soweit ich mich erinnere, doch diese Frauen sind nun fort, gestorben, und haben die heilenden Worte mit ins Grab genommen. Hilf mir, Vater, wir haben das Fieber nicht senken können und all die Tage auch keinen Laut aus ihm herausgebracht …«
Der Priester bekreuzigt sich erneut, dann legt er dem Kind seine Hand auf den Kopf und murmelt etwas.
Eine Weile sprechen sie noch weiter. Das Kind hat sich keinen Augenblick vom Rücken der Mutter gelöst, es krallt sich wie eine Fledermaus an ihr fest und ähnelt auch sonst einem hilflosen grauen Vogel, es zittert ununterbrochen, ballt manchmal die Fäuste und schmiegt sich eng an die Mutter.
Schließlich stehen beide auf, die Frau verabschiedet sich, schnell verlassen sie den Hof. Der Priester bleibt bei der Bank stehen, schaut auf den weißen Kieselsteinweg zwischen den Astern, dann blickt er zu mir herüber, erst jetzt entdeckt er mich. Vielleicht hat er aber auch längst bemerkt, dass ich schon fast den ganzen Tag lang unbeweglich da im Hof sitze. Langsam kommt er auf mich zu. Er setzt sich nicht, sondern bleibt vor mir stehen.
»Gibt es ein Gebet gegen die Angst …?« Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, dass ich statt eines Grußes oder einer sonstigen Floskel, mit der man einen Geistlichen üblicherweise anspricht, direkt mit dieser Frage beginne.
»Es gibt eins, natürlich gibt es eins«, antwortet der Priester mit gesenktem Kopf und entfernt vorsichtig eine an seinem Rocksaum haftende Biene. »Brauchst du es denn?«
»Brauchen wir das nicht alle, Vater? Als Kind trug ich einen Agat an einem Band ums Handgelenk, dann ist der Agat gebrochen, und seither laufe ich vom bösen Blick verhext und voll Angst herum.«
Wir lachen beide.
»Kanntest du Magnolia?«, fragt er mich.
»Ich bin nicht von hier …«
»Woher kommst du dann?«
»Wer war denn Magnolia, Vater?«
»Auch Magnolia war keine Hiesige. Sie war schon das siebzehnte Jahr zu Gast in diesem Dorf. Sie war aus Gagra geflüchtet. Anfangs war sie eine gewöhnliche Frau, sie ließ sich hier nieder, die Nachbarn halfen ihr, sie hatte einen kleinen Garten, Hühner, auch eine Ziege, aber es zeigte sich, dass sie ein schwaches Gemüt hatte, sie hatte ihren Ehemann in Gagra zurückgelassen. Genauer gesagt, den Leichnam ihres Ehemanns, von dem sie nicht einmal wusste, ob ihn jemand begraben hatte oder ob ihn die Schweine gefressen hatten. Kinder hatte sie keine, offenbar trauerte sie im Stillen, und die Jahre trugen das ihre bei – sie wurde verrückt. Vor zehn Tagen hat sie sich in ihrem Zimmer erhängt. Gott, vergib ihr.«
»Ich kannte Magnolia …«, fasle ich erneut.
»Woher?« Er ist ein wenig verwirrt.
»Vater, gibt es vielleicht ein Gebet, das gegen den Verlustschmerz hilft?«
»Beten hilft gegen alles«, antwortet er lächelnd. »Und was verlorengehen muss, muss verlorengehen.«
»Und wie sollen wir Menschen, die wir ohnehin so vielen Lügen und Wahrheiten nachhetzen, herausfinden, was verlorengehen muss und was nicht?«
»Die Zeit zeigt es.« Der Priester fasst sich ans Handgelenk und fragt mich plötzlich: »Wie spät ist es? Ich habe meine Uhr wohl in der Kirche gelassen.«
»Kurz vor acht.«
»Gut.« Das sagt er so ruhig, als wollte er mit diesem Wort jeden Widerspruch aus dem Weg räumen und die Welt von ihren Sorgen befreien. »Wirst du auch in Zukunft öfters kommen? Komm, wann immer du willst. Trauere dem Verlorenen nicht nach, wenn es nötig ist, wird es wieder auftauchen.«
Er streicht mir großem Mann wie einem Kind über den Kopf. Jetzt ähnelt er wirklich einem Vater. Auch darüber muss ich lächeln, und derart wortlos, lächelnd verabschiede ich mich.
»Wo bist du nur, meine Magnolia, auch du hast kein Glück gehabt …«, geht es mir sinnlos durch den Kopf.
Über die Astern legen sich schon die Blätterschatten des Mondes. »Auch dieser Tag ist Nacht geworden«, denke ich, »der vierzigste Tag.«
Alles begann mit einem Traum. Mit einem Traum, den ich am Morgen weder dem Wasser mitgab noch jemandem erzählte, schon gar nicht dir. Und doch folgte alles Weitere auf diesen Traum, jetzt, wo ich mich erinnere.
Es war, als säßen du und ich in einem Zimmer. Das Zimmer lag im Sonnenlicht, draußen aber regnete es. Dein Oberkörper war nackt, auf deinem Rücken standen irgendwelche Sätze, wie ein tintenfarbenes Tattoo, jetzt kann ich mich nicht mehr an jedes Wort erinnern, ich erinnere mich nur an einen Satzanfang, längs der Wirbelsäule, dort stand in riesigen Buchstaben bis über die Schulterblätter geschrieben: Ich liebe dich. Es war offenbar meine Schrift. Dann öffnete sich die Tür, und deine Frau kam herein, in der Hand hielt sie einen scharfen Gegenstand, sie schritt geradewegs auf deinen Rücken zu, sagte, sie müsse das Tattoo herausschneiden – zu diesem Zweck näherte sie sich dir, sie las gar nicht bis zum Ende, und schnell stellte ich mich zwischen euch und sagte zu ihr, ich würde es selbst entfernen. Du widersprachst weder ihr noch mir. Dieser scharfe, wie ein Messer blitzende Gegenstand hätte dir meine Wörter samt Haut und Fleisch herausgeschnitten. Du tatest mir wohl sogar im Traum leid, und ich begann, deinen Rücken von meiner Schrift zu säubern – ich rieb dich mit einem nassen Tuch ab, wusch dich, zuerst verwischten sich die Wörter, blaue Rinnsale liefen deine Wirbelsäule hinunter, ich befeuchtete das Tuch immer wieder, und am Ende warst du ganz sauber, nicht die Spur eines Wortes war geblieben. Und ich erinnere mich, dass ich das nicht gequält, sondern mit einer seltsam leuchtenden Ruhe tat.
Schon vor der Reise nach Pschawi spürte ich, dass ich trübes Wasser trank. Aber da ist der Mensch eben wunderlich: Manchmal ist einem das Trübe lieber als das Saubere und Klare. Und ich bin ja ein wunderlicher Mensch, stur wie ein Esel und unerträglich wie eine Frau Shakespeare, die aus allem eine Tragödie und eine Überlebensfrage macht, wie du eines schönen Tages bemerktest.
Als ich nach Pschawi aufbrach, wusste ich schon, dass ich mich in etwas Unumkehrbares begab. Trotzdem bereitete ich mich gewissenhaft auf die Reise vor: von einer Bekannten, die sich mit dem Weben von traditionellen Wandteppichen und Taschen und dem Stricken von Socken den Lebensunterhalt verdiente, ließ ich einen riesengroßen, farbigen Quersack anfertigen, der Tradition gemäß, mit einzigartigen Ornamenten: Auf die eine Tasche ließ ich sie einen Ast voller Spatzen sticken, der Ast bog sich unter der Last der Vögel und schien von Zeit zu Zeit zu wippen. Auf der zweiten Tasche brachte sie eine ungeheuer große blutrote Rose an und besprenkelte sie mit gobelingesticktem Tau, und auch dieser funkelte bezaubernd, wenn der Quersack schaukelte.
Als wir uns auf den Weg machten, wurde der Sinn meiner Vorbereitungen jedem ersichtlich: In die Tasche mit den Spatzen steckte ich das eine deiner Kinder, in die mit der Rose das zweite, wir hängten den Quersack über unser nebelweißes Pferd, das uns der in Jeans gekleidete Chewisberi von Schuapcho wie sein eigenes Kind anvertraut hatte, und machten uns an den Aufstieg. Das alles war nicht allein mein origineller Einfall, so waren frühere Expeditionen immer unterwegs gewesen, wenn sie Frau und Kind nicht daheim lassen konnten und sie mitnehmen mussten.
Ich führte das Pferd samt Quersack, aus dem die Kinder ihre Köpfe hervorstreckten, zunächst durch das ganze Dorf, und wer uns sah, strahlte und segnete uns obendrein.
»Sind das alle beide deine Kinder?«, fragten sie mich.
»Die von meinem Bruder«, antwortete ich.
»Mögen sie groß werden, der Heilige Georg segne sie euch!«
Es war die Woche der Heiligtümer. Wie silberne Trinkschalen wurden die Feste von Berg zu Berg weitergereicht – die Feste von Kopala, Iachsari, Zabaurta …
Wir überquerten den Aragwi-Fluss und wanderten ins Gebirge hinein. Die Gegend war noch vom Morgennebel bedeckt, doch auch der löste sich langsam auf.
An einer Quelle f...