Das Erwachen
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Das Erwachen

  1. 216 Seiten
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Über dieses Buch

Sommerfrische am Meer, Ende des 19. Jahrhunderts: Mit 28 Jahren ist Edna Pontellier längst Ehefrau und Mutter. Ihre Ehe scheint harmonisch, das Leben geordnet. Doch dann leistet ihr der aufmerksame Robert Gesellschaft, und Edna verliebt sich. Als die beiden ihre Gefühle füreinander ent­decken, flieht der junge Mann erschrocken auf eine Geschäftsreise. Edna wartet vergeblich auf Post. Alleingelassen kehrt sie in die Stadt zurück und lässt alle gesellschaftlichen Konventionen hinter sich — mit fatalen Folgen...

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Information

1—In einem Käfig vor der Tür krächzte unablässig ein grüngelber Papagei:
»Allez vous-en! Allez vous-en! Sapristi! That’s all right!«
Er konnte auch ein wenig Spanisch und noch eine Sprache, die keiner verstand – außer vielleicht der Spottdrossel im Käfig gegenüber, die ihre Melodie mit nervtötender Ausdauer in den Wind hinaus zwitscherte.
Mr Pontellier, der sich nicht in der Lage sah, seine Zeitung in Ruhe zu lesen, erhob sich mit empörter Miene und einem Ausruf der Entrüstung. Er verließ die Veranda und schritt über die schmalen Stege, die den Verbindungsweg zwischen den Cottages der Familie Lebrun bildeten. Gesessen hatte er vor dem Eingang des Haupthauses. Der Papagei und die Spottdrossel gehörten Madame Lebrun, und sie durften so viel lärmen, wie sie wollten. Mr Pontellier seinerseits hatte alles Recht, sich ihrer Gesellschaft zu entziehen, wenn sie nicht länger seiner Unterhaltung dienten.
Vor der Tür zu seinem eigenen Cottage, dem vierten und vorletzten hinter dem Haupthaus, blieb er stehen. Dort setzte er sich in einen Korbschaukelstuhl und nahm sich erneut seine Zeitung vor. Es war Sonntag, die Zeitung war einen Tag alt. Die Sonntagsausgaben waren noch nicht auf Grand Isle eingetroffen. Da er die Börsenberichte bereits kannte, überflog er nun die Kommentare und Meldungen, die er am Vortag vor seiner Abfahrt aus New Orleans noch nicht hatte lesen können.
Mr Pontellier trug eine Brille. Er war ein mittelgroßer, schmächtiger Mann von vierzig Jahren und leicht gebeugter Haltung. Sein glattes braunes Haar war seitlich gescheitelt, der tadellose Bart säuberlich gestutzt.
Von Zeit zu Zeit löste er den Blick von der Zeitung und sah sich um. Im Haupthaus drüben herrschte noch mehr Lärm als gewöhnlich. Es bildete den Mittelpunkt der Anlage und wurde, um es von den Cottages rings um zu unterscheiden, allgemein »das Haus« genannt. Die Vögel schwatzten und zwitscherten immer noch. Zwei junge Mädchen, die Zwillinge der Farivals, spielten auf dem Klavier ein Duett aus »Zampa«. Und Madame Lebrun, die sich unentwegt drinnen und draußen zu schaffen machte, erteilte regelmäßig schrille Befehle: dem Burschen im Garten, wenn sie gerade im Haus war, und dem Tischdiener im Speisesaal, wenn sie draußen war. Sie war eine lebhafte, hübsche Frau, die stets weiße Kleider mit großen Puffärmeln trug. Ihre gestärkten Röcke raschelten bei jeder Bewegung. Etwas näher, vor einem der Cottages, schritt ernst eine Dame in Schwarz auf und ab, die einen Rosenkranz murmelte. Einige Feriengäste waren in Beaudelets Boot nach Chênière Caminada zur Messe übergesetzt. Unter den Moor-eichen spielten ein paar Kinder Krocket. So auch Mr Pontelliers Söhne, zwei stämmige kleine Knaben von vier und fünf. Ihr Kindermädchen, eine quadroon, beaufsichtigte sie mit abwesender, gedankenverlorener Miene.
Schließlich zündete sich Mr Pontellier eine Zigarre an und ließ die Zeitung vom Schoß gleiten. Er heftete seinen Blick auf einen weißen Sonnenschirm, der sich im Schneckentempo vom Strand heranbewegte. Zwischen den kahlen Stämmen der Mooreichen und über den Streifen gelber Kamille hinweg war er gut zu erkennen. Das Meer dahinter schien weit entfernt und verschwamm mit dem diesigen Blau des Horizonts. Der Sonnenschirm kam stetig, aber langsam näher. Unter seinem rosa gesäumten, schützenden Dach gingen seine Frau, Mrs Pontellier, und der junge Robert Lebrun. Als sie das Cottage erreichten, setzten sie sich, offenkundig erschöpft, auf die oberste Stufe der Veranda und lehnten sich einander zugewandt rechts und links an die Pfosten.
»Was für ein Unfug! Um diese Tageszeit und bei dieser Hitze zu baden!«, rief Mr Pontellier. Er selbst war bei Tagesanbruch im Meer gewesen. Deshalb erschien ihm der Vormittag so lang.
»Dein Sonnenbrand spottet jeder Beschreibung«, fügte er hinzu und bedachte seine Frau mit einem abschätzigen Blick wie ein wertvolles Stück persönlichen Eigentums, das Schaden genommen hat. Sie schob ihre Musselinärmel zurück, hob ihre schönen, starken Hände und betrachtete sie prüfend. Dabei entsann sie sich der Ringe, die sie ihrem Mann vor dem Aufbruch zum Strand gegeben hatte. Stumm streckte sie ihm die Hand entgegen, und er verstand die Geste, nahm die Ringe aus der Westentasche und ließ sie in ihre geöffnete Hand fallen. Sie steckte sie sich an, umschlang ihre Knie und fing, mit einem Blick zu Robert hinüber, an zu lachen. Die Ringe blitzten an ihren Fingern. Robert antwortete mit einem Lächeln.
»Was ist?«, fragte Pontellier und betrachtete die beiden träge und amüsiert. Es ging um irgendeine Nichtigkeit, irgendein kleines Abenteuer draußen im Wasser, und beide versuchten gleichzeitig, es wiederzugeben. Es schien im Nachhinein nicht mehr halb so amüsant. Das merkten beide, und Mr Pontellier auch. Er gähnte und streckte sich. Dann stand er auf und verkündete, er habe nicht übel Lust auf eine Runde Billard, drüben in Kleins Hotel.
»Kommen Sie doch mit, Lebrun«, schlug er vor. Doch Robert gestand frei heraus, noch zu bleiben zu wollen, um sich mit Mrs Pontellier zu unterhalten.
»Nun denn, schick ihn fort, wenn er dich langweilt, Edna«, befahl ihr Gatte und wandte sich zum Gehen.
»Hier, nimm den Sonnenschirm«, rief sie und hielt ihm den Schirm hin. Er nahm ihn, spannte ihn auf, während er die Treppe hinunterging, und machte sich auf den Weg.
»Kommst du zum Mittagessen?«, rief seine Frau ihm hinterher. Mr Pontellier hielt einen Moment inne und zuckte die Achseln. Er griff in seine Westentasche und fand eine Zehn-Dollar-Note. Er wusste es nicht: Vielleicht würde er zum Mittagessen wiederkommen, vielleicht auch nicht. Das hing von der Gesellschaft ab, die er bei Kleins antraf, und von dem Spiel, das dort lief. Er sprach das nicht aus, aber sie verstand es, lachte und nickte ihm zum Abschied zu.
Beide Kinder wollten ihren Vater begleiten, als sie ihn aufbrechen sahen. Er gab ihnen einen Kuss und versprach ihnen, Bonbons und Erdnüsse mitzubringen.
2—Mrs Pontelliers Augen waren flink und klar und von einem ähnlichen Goldbraun wie ihre Haare. Sie hatte die Gewohnheit, ihren Blick schnell auf etwas zu richten und dort ruhen zu lassen, als habe sie sich in ein inneres Labyrinth von Betrachtungen und Gedanken verloren.
Ihre Brauen waren einen Ton dunkler als ihr Haar. Dicht und beinahe waagerecht betonten sie die Tiefe ihrer Augen. Sie war eher anziehend als schön. Ihr Gesicht bestach durch seine Offenheit und das feine, widersprüchliche Mienenspiel. Und sie hatte eine liebenswürdige Art.
Robert drehte sich eine Zigarette. Er rauche Zigaretten, weil er sich keine Zigarren leisten könne, sagte er. Zwar hatte er in der Tasche eine Zigarre, die ihm Mr Pontellier geschenkt hatte, doch die wollte er sich für nach dem Essen aufbewahren.
Das erschien ihm nur angemessen und natürlich. Sein Teint war dem seiner Begleiterin nicht unähnlich. Das glattrasierte Gesicht betonte die Ähnlichkeit noch. Auf seiner offenen Miene lag nicht der Schatten einer Sorge. Seine Augen sammelten und reflektierten das Licht und die Wärme des Sommertages.
Mrs Pontellier angelte sich einen Palmwedel vom Boden der Veranda und begann sich Luft zuzufächeln, während Robert kleine Rauchwölkchen ausstieß. Sie plauderten in einem fort: über in ihre Umgebung, über das amüsante Erlebnis draußen im Wasser – es hatte seinen ursprünglichen Reiz wiedergewonnen –, über den Wind, die Bäume, die Leute, die zur Chênière gefahren waren; über die Kinder, die unter den Eichen Krocket spielten, und die Zwillinge der Farivals, die jetzt die Ouvertüre zu »Dichter und Bauer« zum Besten gaben. Robert sprach recht viel von sich. Er war sehr jung und wusste es nicht besser. Aus dem gleichen Grund erzählte Mrs Pontellier recht wenig von sich. Beide waren interessiert an dem, was der andere sagte. Robert sprach von seiner Absicht, im Herbst nach Mexiko zu gehen, weil er dort sein Glück versuchen wolle. Er hatte schon länger vor, nach Mexiko zu gehen, aber irgendwie kam es nie dazu. Derweil hielt er an seiner bescheidenen Stellung in einem Handelshaus in New Orleans fest, wo ihm die Tatsache, dass er die englische, französische und spanische Sprache gleichermaßen gut beherrschte, zu nicht geringem Ansehen als Kontorist und Korrespondent verhalf.
Wie jedes Jahr verlebte er seine Sommerferien bei seiner Mutter auf Grand Isle. Früher, Robert konnte sich an diese Zeit nicht erinnern, war »das Haus« die Sommerresidenz der Lebruns gewesen. Jetzt war es von einem Dutzend oder mehr kleiner Cottages flankiert, die ständig mit exklusiven Gästen aus dem »Quartier Français« besetzt waren und es Madame Lebrun ermöglichten, auch weiterhin das angenehme, sorgenfreie Leben zu führen, zu dem sie offenbar geboren war.
Mrs Pontellier erzählte von der Plantage ihres Vaters in Mississippi und von ihrer Kindheit im Bluegrass-Gebiet des alten Kentucky. Sie war Amerikanerin mit einem Schuss französischen Bluts, das sich nach Generationen verwässert zu haben schien. Sie las einen Brief ihrer Schwester vor, die im Osten lebte und sich soeben verlobt hatte. Robert fragte interessiert, was für Charaktere die beiden Schwestern seien, was für ein Mensch ihr Vater, und wie lange ihre Mutter schon tot sei.
Als Mrs Pontellier den Brief wieder zusammenfaltete, war es Zeit, sich zum Essen umzuziehen.
»Wie ich sehe, kommt Léonce nicht zurück«, sagte sie mit einem Blick in die Richtung, in die ihr Gatte entschwunden war. Robert pflichtete ihr bei, da sich drüben bei Kleins eine ganze Reihe Clubfreunde aus New Orleans zusammengefunden hatten.
Als Mrs Pontellier ihn verließ, um in ihr Zimmer zu gehen, stieg der junge Mann die Treppe hinunter und schlenderte zu den Krocketspielern, wo er sich die halbe Stunde vor dem Essen mit den beiden Jungen der Pontelliers vertrieb, die ihn sehr gern hatten.
3—Es war elf Uhr nachts, als Mr Pontellier aus Kleins Hotel zurückkehrte. Er war glänzender Laune, in Hochstimmung und zum Reden aufgelegt. Als er hereinkam, weckte er seine Frau, die schon ins Bett gegangen war und fest schlief. Während er sich auszog, erzählte er ihr Anekdoten, kleine Neuigkeiten und Klatsch, den er im Laufe des Tages mitbekommen hatte. Seinen Hosentaschen entnahm er eine Handvoll zerknüllter Banknoten und viele Silbermünzen, die er auf die Kommode häufte, zusammen mit Schlüsseln, Messer, Taschentuch und allem anderen, was sich gerade in seinen Taschen befand. Seine schlaftrunkene Frau antwortete ihm nur in unzusammenhängenden Halbsätzen.
Er fand es sehr enttäuschend, dass sie, die doch sein Ein und Alles war, so wenig Interesse für seine Angelegenheiten aufbrachte und das Gespräch mit ihm so wenig schätzte.
Die Bonbons und Erdnüsse für die Kinder hatte Mr Pontellier vergessen. Gleichwohl liebte er sie sehr und ging ins Nebenzimmer, wo sie schliefen, um nach ihnen zu schauen und sich zu vergewissern, dass sie friedlich ruhten. Das Ergebnis seiner Untersuchung war alles andere als zufriedenstellend. Er schob und drehte die Kleinen in ihren Betten herum. Einer seiner Söhne begann zu strampeln und von einem Korb voller Krebse zu reden.
Mr Pontellier kehrte mit der Mitteilung zu seiner Frau zurück, Raoul habe hohes Fieber und man müsse nach ihm sehen. Dann zündete er sich eine Zigarre an und setzte sich zum Rauchen an die offene Tür.
Mrs Pontellier war nahezu sicher, dass Raoul kein Fieber hatte. Er sei beim Zubettgehen absolut wohlauf gewesen, sagte sie, und auch tagsüber habe ihm nicht das Geringste gefehlt. Mr Pontellier hingegen war zu gut mit Fiebersymptomen vertraut, um sich zu irren. Er versicherte ihr, das Kind ringe in diesem Moment im Nebenzimmer mit dem Tod. Seiner Frau warf er Unaufmerksamkeit und ständige Vernachlässigung der Kinder vor. Wenn es nicht die Aufgabe der Mutter sei, die Kinder zu versorgen, wessen um Himmels willen denn sonst? Er selbst habe mit seinem Börsenmaklergeschäft alle Hände voll zu tun. Er könne nicht an zwei Orten zugleich sein: unterwegs, um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen, und zu Hause, um aufzupassen, dass sie keinen Schaden nahmen. Seine Stimme war monoton und eindringlich.
Mrs Pontellier sprang aus dem Bett und ging ins Nebenzimmer. Bald darauf kehrte sie zurück, setzte sich auf die Bettkante und legte ihren Kopf auf das Kissen. Sie sagte nichts und verweigerte die Antwort auf die Fragen ihres Mannes. Als seine Zigarre aufgeraucht war, legte er sich ins Bett und war nach einer halben Minute fest eingeschlafen.
Doch Mrs Pontellier war mittlerweile hellwach. Sie weinte ein wenig und trocknete ihre Tränen am Ärmel ihres Morgenmantels. Dann blies sie die Kerze aus, die ihr Mann hatte brennen lassen, schlüpfte in ein Paar Seidenpantoffeln am Fußende des Bettes und ging auf die Veranda hinaus, wo sie sich in den Korbstuhl setzte und sachte hin und her zu schaukeln begann.
Es war nach Mitternacht. Alle Cottages lagen im Dunkel. Nur im Flur des Haupthauses brannte ein schwaches Licht. Weit und breit war kein Laut zu hören, nur der Schrei einer alten Eule im Wipfel einer Mooreiche und die ewige Stimme des Meeres, die zu dieser stillen Stunde nur sanft erhoben war. Wie ein trauriges Schlaflied drang sie durch die Nacht.
Die Tränen stiegen so schnell in Mrs Pontelliers Augen, dass der feuchte Ärmel des Morgenmantels zum Trocknen nicht mehr ausreichte. Sie legte den Arm auf die Rückenlehne des Schaukelstuhls; ihr weiter Ärmel glitt fast bis zur Schulter zurück. Nun drückte sie ihr feuchtes, heißes Gesicht in die Armbeuge und ließ den Tränen freien Lauf, ohne sie noch zu trocknen. Sie hätte nicht sagen können, weshalb sie weinte. Begebenheiten wie die vorangegangene waren in ihrem Eheleben nichts Ungewöhnliches, doch bislang waren sie gegen die große Güte und die gleichbleibende Zuneigung ihres Mannes, die er ihr stillschweigend und selbstverständlich entgegenbrachte, noch nie ins Gewicht gefallen.
Ein unbeschreiblicher Kummer, der in einem verborgenen Bereich ihres Bewusstseins zu entstehen schien, erfüllte sie mit namenloser Angst. Es war, als legte sich ein Schatten, ein Nebel, auf den Sommertag ihrer Seele. Ein seltsames, unbekanntes Gefühl, eine Anwandlung. Sie saß nicht da und schimpfte innerlich auf ihren Mann oder beklagte das Schicksal, das ihre Schritte auf den Weg gelenkt hatte, den sie gegangen war. Sie weinte sich nur einmal richtig aus. Die Moskitos machten sich über sie her, stachen sie in die festen, runden Arme und in die bloßen Füße.
Die kleinen stechenden, summenden Quälgeister brachten es fertig, die Stimmung zu vertreiben, die sie sonst womöglich eine halbe Nacht lang dort in der Dunkelheit gehalten hätte.
Am nächsten Morgen stand Mr Pontellier rechtzeitig auf, um die Kutsche zu erreichen, die ihn zum Dampfer am Landeplatz befördern sollte. Er wollte zu seinen Geschäften in die Stadt zurückkehren, auf der Insel würde man ihn vor dem kommenden Samstag nicht wiedersehen. Seine Gemütsruhe, die in der vergangenen Nacht etwas angeschlagen schien, war wiederhergestellt. Er freute sich auf eine lebhafte Woche in der Carondolet Street und hatte es eilig, wegzukommen.
Mr Pontellier gab seiner Frau die Hälfte des Geldes, das er am Abend zuvor in Kleins Hotel gewonnen hatte. Wie die meisten Frauen schätzte sie Geld und nahm es nicht ohne Genugtuung entgegen.
»Das wird ein hübsches Hochzeitsgeschenk für Janet geben!«, rief sie aus, während sie die Banknoten glatt strich und zählte.
»Oh, deine Schwester wird von uns etwas Besseres bekommen, mein Liebes«, lachte er und schickte sich an, sie zum Abschied zu küssen.
Die Kinder tollten herum, hängten sich an seine Beine, bettelten, er möge ihnen allerlei mitbringen, wenn er wiederkomme. Mr Pontellier war sehr beliebt, und Damen, Herren, Kinder und sogar deren Kinderfrauen ließen es sich nie nehmen, ihn zu verabschieden. Seine Frau winkte ihm lächelnd nach, die Söhne johlten, als er in der alten Kutsche die sandige Straße hinunter verschwand.
Ein paar Tage darauf traf ein Paket aus New Orleans für Mrs Pontellier ein. Es war von ihrem Gatten und enthielt allerlei friandises, herrliche Delikatessen: feinste Früchte, pâtés, ein paar erlesene Flaschen, köstlichen Sirup und Bonbons im Überfluss.
Mrs Pontellier verfuhr mit dem Inhalt eines solchen Pakets stets sehr großzügig, denn sie erhielt dergleichen regelmäßig, wenn sie verreist war. Die pâtés und Früchte wurden in den Speisesaal gebracht, die Bonbons rundherum angeboten. Und die Damen, die mit spitzen Fingern sorgfältig, und ein wenig gierig, ihre Auswahl trafen, erklärten einhellig, Mr Pontellier sei der bes...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Kapitel 1
  5. Kapitel 7
  6. Kapitel 9
  7. Kapitel 16
  8. Kapitel 24
  9. Kapitel 27
  10. Kapitel 33
  11. Kapitel 38
  12. Der Preis Der Unabhängigkeit