GERAUBTE LIEBE
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GERAUBTE LIEBE

  1. 192 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Eine Mutter, die erlebt, wie ihr Mann die gemeinsame, lang ersehnte kleine Tochter zur Schönheitskönigin hochstilisiert. Eine junge Frau, deren nette Bekanntschaft aus dem Fitness-Studio sich zum rasenden Stalker entwickelt. Eine Journalistin, die auf Dienstreise von einem hilfsbereiten Herrn mitgenommen und missbraucht wird. Acht Geschichten von Frauen, deren Liebe oder Vertrauen in Männer enttäuscht wird und die doch nicht auf Hilfe hoffen dürfen, selbst wenn ihr Leben auf dem Spiel steht. Wie bereits in ihrem gefeierten Roman »Stimmen" beschreibt Dacia Maraini einfühlsam und mit großem Respekt vor dem individuellen Schicksal wie die gesellschaftlichen Strukturen das Verhalten der Männer begünstigen und Frauen wenig Raum für selbstbewusstes Handeln lassen.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783942374705

DAS MÄDCHEN VENEZIA

Ein Mädchen mit dem Namen Venezia. Die Eltern hatten es sich so sehr gewünscht. Von dem Tag an, als sie vor dem Standesbeamten die Ringe getauscht hatten, hatten sie es probiert. Sie hatten so viele Untersuchungen über sich ergehen lassen, waren bei so vielen Ärzten gewesen. Dabei war herausgekommen, dass seine Spermien schwach waren, fast ohne Lebenskraft. Ihre Energie reichte zwar aus, um sich auf den Weg zur Eizelle zu machen, doch wenn sie ans Ziel kamen, gelang es ihnen nicht, in die Zelle einzudringen. Sie verkümmerten vor dem Tor zum Leben.
Nach jahrelangen vergeblichen Versuchen und horrenden Ausgaben hatten der schöne Ottavio und die großherzige Letizia ihren Kinderwunsch aufgegeben und fortan ein eintöniges Eheleben geführt, dem es an Überraschungen fehlte. Er war Angestellter einer kleinen Eheanbahnungsagentur, sie Grundschullehrerin an einer Privatschule.
»Ich vermittle Eheschließungen«, lachte er, als er das Paradox erkannte, »und kann selbst nicht Vater werden. Ich ermutige Leute zum Heiraten, indem ich ihnen erkläre, wie schön es ist, eine Familie zu gründen und viele Kinder zu haben, und bin selbst unfruchtbar und kalt wie ein Krokodil.«
Seine Frau versuchte ihn zu trösten, indem sie ihm vor Augen hielt, dass Kinder immer auch Probleme machten und Geld kosteten, und von Letzterem hätten sie ja nicht gerade viel. Doch er blieb untröstlich. Schließlich wurde er Meister in der Berechnung ihrer fruchtbaren Tage und widmete sich, sobald sie herannahten, verbissen dem Körper seiner Frau, weil er hoffte, früher oder später doch noch sein Ziel zu erreichen.
»Gewöhnlich sind es die Frauen, die um jeden Preis Mutter werden wollen«, hatte der zuletzt aufgesuchte Arzt zu ihm gesagt. »Wie kommt es, dass Ihnen das so wichtig ist?« Darauf war ihm keine Antwort eingefallen. Am Abend, als er im Dunkeln auf dem Körper seiner Frau lag und mit sturer Entschlossenheit sein Glied in sie hineinstieß, stellte er sich die Frage noch einmal. In diesem mittlerweile mechanisch wiederholten Akt gibt es keine Liebe mehr, dachte er bei sich. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir nicht mit Nachwuchs gesegnet werden. Vielleicht war dort der Fehler zu suchen, in der Abwesenheit eines echten Gefühls. »Kinder entstehen nicht durch Turnübungen, sondern durch Leidenschaft.« Warum nur ist die Sexualität, anders als die Zuneigung und Zärtlichkeit und auch anders als die Freundschaft, so fragil und unberechenbar? Warum wird mit der Gewohnheit die Zuneigung stärker, während die Erotik nachlässt? Er liebte seine Frau, musste sich aber auch eingestehen, dass die erotische Anziehung in den vielen Ehejahren verlorengegangen war und dass das, was ihn jetzt erregte, die Vorstellung von einem Kind war, das man lieben, erziehen, anleiten und verwöhnen konnte. Seine Phantasie war nicht besonders lebhaft, und er konnte sich nicht genau vorstellen, was er mit einem Kind alles würde anfangen können. Doch zugleich war er sich absolut sicher, dass er sich von allem auf der Welt am meisten ein Kind wünschte.
Ich stoße in sie hinein, als wäre ich ein Lachs, dachte er, und musste über sich selbst und diesen perversen Fruchtbarkeitsritus lachen. Ich handle wider die Lust, wider die Freuden der Liebe, wider die Uneigennützigkeit der Lust und alles nur aus dem unablässigen Wunsch heraus, die eigene Gattung zu reproduzieren. Ist denn das die Möglichkeit?
Manchmal machte ihn diese ständige Frustration impotent. Schwitzend sank er dann auf dem Körper seiner Frau in sich zusammen, unfähig zu einem Wort oder einem klaren Gedanken.
Letizia verstand die Pein ihres Mannes, und obwohl ihr eindeutig klar war, dass das Grundübel in seinen langsamen Spermien bestand, fühlte sie sich schuldig. Es war deutlich zu spüren, dass ihn etwas an ihr ermüdete, seine Gedanken ablenkte. Aber was war es? Schwer zu sagen. Vielleicht waren es nur die Gewohnheit und die Langeweile. Auf jeden Fall taten diese endlosen Versuche ihrer Beziehung nicht gut. Aber sie hatte auch nicht den Mut, ihm zu sagen, er solle damit aufhören, und so war ihr dieser mechanische, allein durch Willenskraft zustande kommende Sex zu einer bitteren Pflicht geworden. Lust entstand dabei höchstens auf Umwegen, wie eine Störung, ohne jeglichen Elan.
Um sein Begehren zu befeuern und seinem scheuen Glied den wertvollen Samen zu entlocken, hatte Ottavio gelernt, mit seiner Phantasie zu arbeiten. Er beschäftigte sich im Geiste mit Frauenkörpern, die er nicht kannte und die vielleicht auch gar nicht existierten: aus den Bilderwelten von Tausendundeine Nacht und den pornografischen Comics, die Jugendliche als Masturbationsvorlage benutzen. Prächtige, geschmeidige, weiche und empfängliche Körper nach seinem Geschmack. Frauen, die barfüßig auf weichen Teppichen tanzten, so dass aus Hunderten von Glöckchen um ihre Handgelenke und Fesseln zauberhafte Klänge ertönten. Er träumte davon, sich in einem türkischen Bad zu betrinken, in einem mit prächtigen Mosaiken ausgestalteten Raum, wo er sich durch den bläulichen Wasserdampf blickend eine fremde Frau auswählen konnte, mit üppigen Brüsten und einem langen Schwanenhals, um sich mit ihr lachend über den feuchten, duftenden Boden zu wälzen, während andere zarte Frauenhände seine Füße massierten.
Er liebte seine Frau, doch anstatt mit der Zeit weicher zu werden, wurde sie immer spröder, sie magerte ab und wurde dünnhäutig, was ihn sehr betrübte. »Ich bin von Natur aus ein treuer Ehemann«, sagte er sich. Und das stimmte. Er hätte seine Frau nie betrogen, ausgenommen in seinen Träumen und erotischen Phantasien. Wenn er Liebe machte, schloss er deshalb die Augen. Und Letizia spürte, wie er während dieser sexuellen Kreuzzüge zunehmend innerlich von ihr Abstand nahm, wie er nur noch mit dem Körper und immer weniger mit dem Geist bei der Sache war. Aber sie beschwerte sich nicht. Sie war von Natur aus pragmatisch und der Ansicht, dass man die Menschen so nehmen müsse, wie sie seien. Vielleicht währte ihre Ehe ja deshalb schon so lange, trotz ihrer als schmerzhaft empfundenen Kinderlosigkeit.
Hin und wieder hatte sie mit ihm über eine Adoption gesprochen, aber er hatte sich immer verärgert dagegen gewehrt: »Das Fleisch und Blut eines anderen, und womöglich auch noch Spuren einer fremden Kultur, nein, das kommt nicht infrage!« So schnitt er ihr ungehalten das Wort ab.
Eines schönen Tages, an einem Sonntagmorgen im Juni, als Ottavio spät aufgestanden war und in der Küche beim Kaffeekochen verträumt die Kohlmeisen betrachtete, die auf einer knorrigen Magnolie im Hinterhof ein Nest gebaut hatten – er beobachtete gerade fasziniert die winzige Vogelmutter, die in der Luft schwirrend und flügelschlagend ihrem Küken einen kleinen Wurm in den Schnabel steckte, und dachte darüber nach, wie elend es ihm doch ging, da er sogar auf einen Vogel neidisch war –, da kam seine Frau mit geheimnisvoller Miene in den Raum, trat zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Ottavio, ich bin schwanger.«
Er fuhr zusammen und begann am ganzen Körper zu zittern. Dann nahm er ihre beiden Hände und fragte völlig verdattert: »Bist du sicher, Letizia? Du erzählst mir doch keine Märchen?«
»Ich bin sicher. Ich habe es dir nur nicht schon früher gesagt, damit du dir keine falschen Hoffnungen machst, aber ich bin schon im dritten Monat und habe mehrere Schwangerschaftstests gemacht. Ich war auch schon beim Arzt. Es ist jetzt hundert Prozent sicher: Ich bin schwanger, Liebling, ich bin schwanger!«
Ottavio umarmte sie stürmisch, aber auch »ganz vorsichtig, Liebling«, denn »von jetzt an muss ich aufpassen, ich will es ja nicht erdrücken!« Er küsste sie auf die Stirn, auf die Nase, die Wangen und den Hals. Viele kleine Küsse der Freude und Dankbarkeit. Dann beschloss er, auf das Kind, das jetzt endlich bei ihnen anklopfte, anzustoßen. Er entkorkte eine Flasche und schenkte zwei Gläser Wein ein.
»Meine liebe Letizia, stoßen wir auf unser Wunschkind an, dies ist der schönste Tag meines Lebens. Jetzt geht es los!«
Nachdem sie angestoßen hatten, begann er, allein durch die Wohnung zu tanzen.
»Du tanzt aber nicht, Liebling. Das ist gefährlich. Von heute an werde ich mich um deinen Bauch kümmern. Niemand darf mein Baby, mein Jüngelchen in Gefahr bringen.«
»Du weißt doch noch gar nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird!«
»Egal, ich bin glücklich, überglücklich! Es ist mir nicht wichtig, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Wie es meinen kleinen, schwachen Spermien, liebe Letizia, bloß gelungen ist, deine Eizelle zu erreichen. Vielleicht waren es diese Medikamente, die ich zuletzt genommen habe? Es lag wohl an diesen Aufbaupräparaten? Oder ob es die Zabaione war, die ich auf Rat meines Freundes Giacomo jedes Mal, bevor wir Liebe machten, zubereitet habe? Eins ist jedenfalls sicher: Ich werde bei der Geburt dabei sein. Sag nicht Nein, das ist mir ganz wichtig.«
Im Dezember kam dann ein wunderhübsches Mädchen zur Welt, ein braves, ruhiges Baby, mit schönen blauen Augen, genau so, wie es sich der Vater erträumt hatte. Es war eine leichte Geburt. Letizia hatte den Kreißsaal kaum betreten, da erblickte das Kind schon das Licht der Welt, fast ohne Schmerzen. Sie nannten es Venezia, weil Ottavio überzeugt war, dass er es in jener Nacht in Venedig, in der kleinen Pension, in der es nach Frittieröl roch, gezeugt hatte.
Er erinnerte sich noch genau, wie überrascht er gewesen war, als er nach einem besonders anstrengenden nächtlichen Koitus ans Fenster getreten war, die Läden geöffnet hatte und sein Blick auf ein gigantisches Kreuzfahrtschiff gefallen war, das gerade die Lagune durchquerte. Es war rundum beleuchtet und bewegte sich langsam gen Osten. Er war so fasziniert gewesen, dass er auf den Balkon trat, um diesen gigantischen, im Dunkeln glitzernden Stahlkoloss genauer in Augenschein zu nehmen. Dabei hatte er gedacht, dass dies ein Zeichen sein müsse, ein Ereignis, das sein Leben in naher Zukunft verändern würde.
Nun wusste er, dass sich diese Vorahnung bewahrheitet hatte. Und einen Moment lang kam es ihm so vor, als befände er sich in einem Gemälde von Bellini: Ein Mann oder besser gesagt eine Frau – was machte das schon für einen Unterschied – wurde von einem weißen Strahl berührt, der aus dem Gefieder einer Taube hervorschoss und ihr verkündigte, dass sie durch ein göttliches Wunder ein Kind bekommen würde. Genauso musste es sein, die Taube war das Kreuzfahrtschiff, und das Kind war Venezia.
Das Mädchen war von Anfang an ein vernünftiges Kind, das sich gern den Wünschen der Eltern fügte, besonders denen des Vaters, zu dem es sofort ein besonders inniges Verhältnis hatte, es war verständig und anhänglich.
»Sie ist für ihr Alter sehr reif, ein wunderhübsches Mädchen, gelehrig und lieb«, brüstete sich der stolze Vater im Büro.
Letizia spielte die Rolle der fürsorglichen und aufmerksamen Mutter, die sich ihrer Pflichten – und das waren nicht wenige – durchaus bewusst war. Zum Glück weinte das Kind fast nie und weckte sie während der Nacht nicht auf, wie es Säuglinge für gewöhnlich tun. Die Eltern ließen es bei sich im Ehebett schlafen, und manchmal wachte Letizia nachts auf und sah, wie sich ihr Mann über das Töchterchen beugte, völlig vernarrt und voller Zärtlichkeit.
Als das Mädchen vier Jahre alt wurde, begann sich die Mutter Gedanken über seine Zukunft zu machen. Da Venezia eine sehr lebhafte und frühreife Intelligenz besaß, sollte sie unbedingt studieren. Also erzählte die Mutter ihr abends Märchen und versuchte ihr Grundkenntnisse in Mathematik und Geografie beizubringen.
Ottavio war von der Anmut des Mädchens zu sehr gefangengenommen, um sich überhaupt etwas Künftiges für sie vorstellen zu können. »Ich will, dass meine Tochter eine Königin wird«, sagte er im Brustton der Überzeugung.
»Königin wovon?«, fragte Letizia zum Spaß.
»Königin, das reicht doch«, beharrte er, und zu der Kleinen gewandt sagte er noch einmal: »Du wirst eine Königin sein, mein Liebling. Du wirst die Größte, die Beliebteste, die Begehrteste, die Bewundertste sein, du wirst über den Boden schreiten, ohne ihn zu berühren, wie eine Himmelskönigin über den Wolken schweben.« Damals wusste er noch nicht, wie sehr sich seine Prophezeiungen bewahrheiten sollten.
Da man ja nicht mehr Herrscherin eines wirklichen Königreichs werden kann, setzte sich Ottavio in den Kopf, Venezia zur Königin des beliebtesten und märchenhaftesten Reichs zu machen, das es überhaupt gab: des Reichs der Schönheit und der Eleganz. Zeichnete sich nicht schon jetzt ab, wie groß und schlank seine Tochter werden, welch einen perfekten Körper sie haben würde? Er wollte aus ihr die Königin der Mode machen.
Daher kaufte er ihr in einem fort Kleidchen wie für eine Diva. Für die Einrichtung ihres Zimmers sorgte er allein. Es glich einer rosa Bonbonniere, mit einem riesigen Spiegel an der Wand, der von Dutzenden Lämpchen umrahmt war. Es sah aus wie die Garderobe eines Filmstars: ein rosa Schrank, auf dem Bett ein rosa Chintz-Überwurf, verziert mit flammend roten Herzchen. Schühchen in allen Formen und Farben: aus Atlasseide, aus Leder, in knalligem Korallenrot, Hellviolett, Himmelblau, Dottergelb, Smaragdgrün und Nachtblau.
Venezia war kaum sechs Jahre alt, als Ottavio sie für eine Kindermodenschau anmeldete, wo sie auch sofort genommen wurde. »Ein derartig hübsches Kind, das aussieht wie eine Prinzessin, fällt natürlich auf!«, meinte die Organisatorin. »Und wie feminin sie ist …«, fügte sie hinzu, und der Vater frohlockte.
Jeden Morgen bürstete Ottavio Venezias Haare, die lang und blond waren und eine schöne Naturwelle hatten. »Wenn sie größer wird, dunkeln sie natürlich nach, da kann man wenig machen. Aber macht nichts, man kann sie ja künstlich aufhellen«, urteilte er und kaufte vorsorglich gleich eine Reihe Haarfärbemittel in der Farbskala von »goldblond« bis »aschblond«. Das Pflegen und Färben ihrer Haare brachte er sich selbst bei. »Um Himmels willen, die Tönung darf ihr nicht schaden. Nur reine, ganz natürliche Mittel kommen infrage und nur die allerteuersten. Sie müssen vollkommen ungefährlich sein, aber natürlich auch tollen Glanz geben.«
Auf die Weise konnte sich Venezia mit acht Jahren eines derart glänzenden und schimmernden Blondschopfs rühmen, dass vielen vor Staunen der Mund offen blieb. Auch um die Locken kümmerte sich Ottavio selbst. Am Vorabend der Modenschauen hüllte er geduldig jede Haarsträhne in Alufolie und wickelte sie dann um einen Lockenwickler, wo er sie mit einem Gummiband befestigte. Am nächsten Morgen betrachtete er freudestrahlend das Köpfchen seiner Tochter, auf dem, wenn man es von der Alufolie befreit hatte, wunderbare Locken so lebhaft hüpften, dass sogar eine Porzellanpuppe neidisch gewesen wäre.
Natürlich musste auch die Kleidung der Haare würdig sein. Jede Woche schenkte er ihr ein neues, ausgefallenes Kleidungsstück. Es musste farbig sein, einen guten, aber auch feschen Schnitt haben und einfach »zum Verlieben« sein, wie er es ausdrückte. Deshalb kaufte er ihr durchsichtige Höschen, mit Strass bedeckte Leibchen und kurze Röckchen, die die immer nackten Knie umspielten.
»Das Mädchen muss perfekt aussehen«, ergänzte er, während er ihre Fingernägel mit einem rosafarbenen Nagellack bestrich. Anschließend kamen noch die Armbändchen, die farblich natürlich auf das Kleid abgestimmt waren, und die Ohrringe: zwei winzige Diamantrosetten. Der Mu...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Marina ist die Treppe runtergefallen
  6. Das Mädchen Venezia
  7. Der hilfsbereite Vergewaltiger
  8. Chronik einer Gruppenvergewaltigung
  9. Ale und das ungeborene Kind
  10. Die heimliche Braut
  11. Die Nacht der Eifersucht
  12. Anna und ihr Moro
  13. Stimmen zu Dacia Marainis »Geraubte Liebe«