Haus ohne Halt
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Haus ohne Halt

  1. 256 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Ein kleiner Ort in den Rocky Mountains, Mitte der 1950er. Hier wachsen die Schwestern Ruth und Lucille bei ihrer Großmutter auf. Nach deren Tod übernimmt ihre Tante Sylvie den Haushalt. Und während die verträumte Ruthie sich von der eigenbrötlerischen Art der Tante angezogen fühlt, sehnt sich Lucille nach Normalität. Die beiden werden einander immer fremder … Eine poetische, gefühlskluge Geschichte über Landstreicherinnen und Heimatlosigkeit, Stille und Anderssein.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783942374576
Thema
Drama
1 Mein Name ist Ruth. Ich bin mit meiner jüngeren Schwester Lucille unter der Obhut meiner Großmutter Mrs Sylvia Foster aufgewachsen, und als sie gestorben war unter der Obhut ihrer Schwägerinnen Miss Lily und Miss Nona Foster, und als die geflüchtet waren unter der Obhut ihrer Tochter Mrs Sylvia Fisher. Mit all diesen Vorfahren aus verschiedenen Generationen haben wir in demselben Haus gewohnt, dem Haus meiner Großmutter, für sie gebaut von ihrem Mann Edmund Foster, einem Eisenbahnangestellten, der Jahre, bevor ich geboren wurde, von dieser Welt schied. Durch ihn sind wir in dieses abgelegene Nest geraten. Er war im Mittleren Westen aufgewachsen, in einem Haus, das aus der Erde ausgehoben war, mit Fenstern eben über dem Boden beziehungsweise eben auf Augenhöhe, so dass es von außen ein bloßer Buckel war, kaum mehr eine menschliche Behausung als ein Grab, und der Ausblick von innen durch die vollkommene Flachheit dieser Weltgegend derart verkürzt war, dass der Horizont nur das Erdhaus und sonst nichts zu umfassen schien. Daher begann mein Großvater alles zu lesen, was er an Reiseliteratur finden konnte, Tagebücher von Expeditionen in die Gebirge Afrikas, die Alpen, die Anden, den Himalaya und die Rocky Mountains. Er kaufte sich einen Farbkasten und malte die Lithographie eines japanischen Gemäldes des Fudschijama aus einer Illustrierten ab. Auch viele andere Berge malte er, die nicht zu identifizieren waren, wenn sie denn wirklich existierten. Es waren allesamt sanft ansteigende Kegel oder Buckel, einzelne oder mehrere in Haufen oder Gruppen und je nach Jahreszeit grün, braun oder weiß, aber immer mit Schneehauben, und diese Hauben waren je nach Tageszeit rosa, weiß oder golden. Auf einem großen Bild setzte er einen glockenförmigen Berg ganz in den Vordergrund und bestückte ihn mit minuziös gemalten Bäumen, die alle im rechten Winkel zum Boden standen und genau so wuchsen, wie der Flor von gefaltetem Plüschstoff absteht. Jeder Baum trug leuchtende Früchte, und in den Zweigen nisteten bunte Vögel, und alle Früchte und Vögel waren an der Neigung des Bodens ausgerichtet. Übergroße Tiere, gepunktet und gestreift, waren zu sehen, wie sie unbehindert die rechte Seite hinauf- und unbeschleunigt die linke hinunterliefen. Ob das Geniale an diesem Bild Unkenntnis oder Einbildungskraft war, habe ich nie entscheiden können.
Eines Frühlings verließ mein Großvater sein unterirdisches Haus, wanderte zur Eisenbahn und bestieg einen Zug nach Westen. Dem Schalterbeamten sagte er, er wolle in die Berge, und der Mann sorgte dafür, dass er hier abgesetzt wurde, was vielleicht nicht mal ein böser Scherz oder überhaupt ein Scherz war, denn hier gibt es Berge, unzählige Berge, und wo keine Berge sind, stehen Hügel. Das Gelände, auf dem die Ortschaft errichtet wurde, ist ziemlich eben, da es ehemals zum See gehörte. Es sieht aus, als hätten sich vor Urzeiten die Dimensionen der Dinge verschoben und eine Reihe seltsamer Übergänge zurückgelassen, zwischen den Bergen, wie sie mal gewesen sein müssen, und den Bergen, wie sie jetzt sind zum Beispiel, oder zwischen dem See, wie er früher war, und dem See, wie er jetzt ist. Im Frühling kehrt der alte See noch manchmal zurück. Man öffnet eine Kellertür, und vor einem schwimmen Gummistiefel mit den hellen Sohlen nach oben, und Bretter und Eimer klatschen an die Schwelle, und die Treppe ist von der zweiten Stufe an nicht mehr zu sehen. Der Boden quillt, die Erde verwandelt sich in Schlamm und dann in schlickiges Wasser, und das Gras steht bis zu den Spitzen im eisigen Nass. Unser Haus stand am Rand der Stadt auf einer kleinen Anhöhe, so dass wir selten mehr als eine schwarze Pfütze in unserem Keller hatten, auf der ein paar staksige Insekten glitten. Im Obstgarten bildete sich ein länglicher Teich, Wasser so klar wie die Luft, über Gras und schwarzen Blättern und heruntergefallenen Ästen, umgeben von nassem Gras und schwarzen Blättern und heruntergefallenen Ästen, und auf der Oberfläche, schwach wie das Bild in einem Auge, Himmel, Wolken, Bäume, unsere schwebenden Gesichter und kalten Hände.
Als mein Großvater seinen Zielbahnhof erreichte, hatte er eine Anstellung bei der Eisenbahn. Er muss sich mit einem Schaffner angefreundet haben, der ungewöhnlichen Einfluss besaß. Die Stelle war keine besonders gute. Er war Bahn- oder vielleicht Stellwärter. Jedenfalls ging er bei Anbruch der Nacht zur Arbeit und lief bis zum Morgengrauen mit einer Lampe umher. Aber er war ein pflichtbewusster und fleißiger Arbeiter, der zur Beförderung bestimmt war. Binnen zehn Jahren beaufsichtigte er das Be- und Entladen von Vieh und Fracht, und nach weiteren sechs Jahren wurde er stellvertretender Bahnhofsvorsteher. Diesen Posten hatte er zwei Jahre inne, als, bei der Rückkehr von einer Besorgung in Spokane, sein irdisches und berufliches Leben durch eine spektakuläre Entgleisung beendet wurde.
Zwar berichteten Zeitungen aus so entfernten Städten wie Denver und St. Paul von ihr, doch genaugenommen war die Entgleisung gar nicht spektakulär, denn sie wurde von niemandem gesehen. Das Unglück geschah mitten in einer mondlosen Nacht. Der Zug, der schwarz und schnittig war und den Namen Fireball trug, hatte die Brücke bereits mehr als zur Hälfte überquert, als die Lokomotive mit der Schnauze zum See hin kippte und dann der Rest des Zuges hinter ihr her ins Wasser rutschte wie ein Wiesel, das von einem Felsen gleitet. Den Unfall überlebten ein Schlafwagenschaffner und ein Kellner, die auf der rückwärtigen Plattform des Bremswagens gestanden und persönliche Angelegenheiten besprochen hatten (sie waren entfernt miteinander verwandt), aber als richtige Zeugen zählten sie nicht: aus den gleichermaßen einleuchtenden Gründen, dass die Dunkelheit für jedes Auge undurchdringlich gewesen war und dass sie mit dem Blick nach hinten am Ende des Zuges gestanden hatten.
Die Leute kamen mit Lampen ans Wasser. Die meisten von ihnen blieben am Ufer stehen, wo sie nach einiger Zeit ein Lagerfeuer bauten. Aber einige der größeren Jungen und jüngeren Männer liefen mit Seilen und Laternen auf die Eisenbahnbrücke. Zwei oder drei von ihnen rieben sich mit Wagenschmiere ein und schirrten sich in ein Seil, und die anderen ließen sie an der Stelle, wo nach Meinung des Schlafwagenschaffners und des Kellners der Zug verschwunden sein musste, ins Wasser hinunter. Nach zwei Minuten, mit einer Stoppuhr gemessen, wurden die Seile wieder hochgezogen. Die Taucher kletterten steifbeinig an den Pfählen hinauf, wurden von den Seilen befreit und in Decken gewickelt. Das Wasser war gefährlich kalt.
Bis zum Morgengrauen schwangen sich die Taucher von der Brücke und kletterten wieder hinauf oder ließen sich ziehen. Ein Koffer, ein Sitzpolster und ein Salatkopf waren alles, was sie bargen. Einige der Taucher berichteten, sie wären auf dem Weg nach unten im Wasser an Trümmern vorbeigeschwommen, aber die Trümmer mussten wieder versunken oder in der Finsternis davongetrieben sein. Als man die Hoffnung aufgab, Fahrgäste zu finden, war sonst nichts mehr zu retten, so dass nur diese drei Relikte blieben, eines davon verderblich. Man begann zu mutmaßen, dass dies doch nicht die Stelle war, wo der Zug von der Brücke abgekommen war. Man überlegte, wie sich der Zug wohl durchs Wasser bewegen würde. Ob er trotz seiner Geschwindigkeit wie ein Stein versinken oder trotz seines Gewichts wie ein Aal weiter fortgleiten würde. Wenn er die Gleise wirklich hier verlassen hatte, war er womöglich erst hundert Fuß weiter gelandet. Oder vielleicht hatte er sich nach dem Aufprall noch überschlagen oder war weiter weggerutscht, denn die Brückenpfeiler waren in den Kamm einer überfluteten Hügelkette eingelassen, deren eine Seite die Wand eines breiten Tales bildete und die auf der anderen Seite scharf abfiel (eine weitere Kette von Hügeln lag zwanzig Meilen nördlich, und einige von ihnen bildeten Inseln). Allem Anschein nach hatten diese Hügel einst das Ufer eines anderen Sees gebildet und waren aus einem brüchigen Gestein, das vom Wasser ausgehöhlt und steil abgetragen worden war. Wenn der Zug zur Südseite hin abgestürzt war (nach der Aussage des Schlafwagenschaffners und des Kellners war das so, aber mittlerweile wurde ihnen kaum noch geglaubt) und dann gerutscht war oder sich ein-, zweimal überschlagen hatte, konnte er nochmals abgestürzt und viel tiefer und weiter entfernt versunken sein.
Nach einer Weile kamen einige kleinere Jungen auf die Brücke und begannen, zuerst vorsichtig und dann fast übermütig, mit Angstgeschrei nach unten zu springen. Als die Sonne aufging, saugten die Wolken das Licht auf wie einen Fleck. Es wurde kälter. Die Sonne stieg höher, und der Himmel wurde hell wie Blech. Die Oberfläche des Sees war vollkommen glatt. Wenn die Füße der Jungen auf das Wasser trafen, gab es ein schwaches brechendes Geräusch. Auf den Wellen, die sie machten, schaukelten durchsichtige Eisstücke und fügten sich, wenn das Wasser sich beruhigte, wie Teile eines Spiegels zusammen. Einer der Jungen schwamm vierzig Fuß von der Brücke fort und tauchte dann in den alten See hinab, wobei er sich an der Wand entlangtastete, kopfüber den blinden, leblosen Stein hinunter, und sich schließlich unten vom Grund abstieß. Doch auf einmal entsetzte ihn der Gedanke daran, wo er sich befand, und er schnellte zur Luft empor und streifte unterwegs etwas mit einem Bein. Er fasste nach unten und legte die Hand auf eine vollkommen glatte Fläche, parallel zum Grund, aber, wie er glaubte, sieben bis acht Fuß darüber. Ein Fenster. Der Zug war auf der Seite gelandet. Der Junge schaffte es nicht, noch ein zweites Mal hinzufassen. Das Wasser trieb ihn nach oben. Er sagte, dass von allen Dingen, die er berührt habe, nur diese glatte Fläche nicht überwachsen oder von einer losen Schicht wie Schlick umwölkt gewesen sei. Dieser Junge war ein genialer Lügner, ein einsamer Bursche mit dem grenzenlosen Bedürfnis, andere für sich zu gewinnen. Seine Geschichte wurde weder geglaubt noch nicht geglaubt.
Als er zur Brücke zurückgeschwommen und hochgezogen worden war und den Männern oben von seinem Ausflug in die Tiefe berichtete, begann das Wasser trübe und milchig zu werden wie erkaltendes Wachs. Splitter flogen, wenn ein Schwimmer auftauchte, und die Eishaut, die sich bildete, wo das Eis gebrochen war, sah frisch, glasig und schwarz aus. Alle Schwimmer kamen heraus. Am Abend hatte sich der See versiegelt.
Diese Katastrophe hinterließ drei neue Witwen in Fingerbone: meine Großmutter und die Frauen von zwei betagten Brüdern, die einen Gemischtwarenladen besaßen. Diese beiden alten Frauen hatten dreißig Jahre oder mehr in Fingerbone gelebt, aber sie zogen fort, die eine zu ihrer verheirateten Tochter in North Dakota und die andere, in der Hoffnung, Freunde oder Verwandte zu finden, nach Sewickley in Pennsylvania, das sie als Braut verlassen hatte. Sie sagten, sie könnten nicht länger am See wohnen. Sie sagten, der Wind rieche nach ihm, sie könnten ihn im Trinkwasser schmecken und sie könnten den Geruch, den Geschmack und den Anblick nicht ertragen. Sie warteten nicht die Trauerfeier ab und nicht die Einweihung des Gedenksteins, bei der Scharen von Trauernden und Schaulustigen, angeführt von drei Bahnbeamten, zwischen Geländern, die für diesen Anlass angebracht worden waren, auf die Brücke zogen und Kränze auf das Eis warfen.
Es ist wahr, dass man sich in Fingerbone stets des Sees oder der Tiefen des Sees, der lichtlosen, luftlosen Wasser dort unten bewusst ist. Wenn der Boden im Frühling gepflügt wird und aufgebrochen daliegt, steigt aus den Furchen sein stechender, wässriger Geruch. Der Wind ist wässrig, und alle Pumpen, Bäche und Gräben riechen nach Wasser, unvermischt mit anderen Elementen. Unter allem liegt der alte See, der zugedeckt ist und namenlos und ganz und gar schwarz. Dann kommt Fingerbone, der See auf den Karten und Photographien, der von Sonnenlicht durchdrungen ist und lebendigem Grün und unzähligen Fischen Raum bietet und in dem, wer im Schatten eines Stegs hinunterschaut, den steinigen erdigen Grund fast so gut sehen kann wie trockenen Boden. Und darüber kommt der See, der im Frühling steigt und das Gras dunkel färbt und hart macht wie Schilf. Und über allem das Wasser, das im Sonnenlicht schwebt, scharf wie der Atem eines wilden Tiers, und diesen Bergkessel ausfüllt.
Meine Großmutter scheint nicht erwogen zu haben, von hier wegzugehen. Sie hatte ihr ganzes Leben in Fingerbone gewohnt. Und obwohl sie nie davon sprach – und ohne Zweifel selten daran dachte –, war sie eine fromme Frau. Das heißt, sie verstand das Leben als einen Weg, auf dem man sich fortbewegte, einen verhältnismäßig leichten Weg durch ein weites Land, und das Ziel war von Anfang an da, in einer vorbestimmten Entfernung, es stand im gewohnten Licht vor einem wie ein einfaches Haus, in das man eintrat und in dem man von ehrenwerten Menschen begrüßt und in ein Zimmer geführt wurde, in dem alles, was man je verloren oder verlegt hatte, beisammen war und auf einen wartete. Sie ging von der Vorstellung aus, dass sie und mein Großvater sich eines Tages wiederbegegnen und ihr Leben weiterführen würden, ohne die Sorgen ums Geld, in einem milderen Klima. Sie hoffte, bis dahin würde er von irgendwoher ein wenig mehr Beständigkeit und Vernunft angenommen haben. Das Alter hatte bei ihm bislang nichts dergleichen bewirkt, und sie war skeptisch, ob die Verklärung dazu hinreichte. Da sie ein Haus hatte, eine Rente, und die Kinder fast groß waren, war für sie das Bittere an seinem Tod, dass er ihr wie eine Art Fahnenflucht erschien, die nicht einmal gänzlich unerwartet war. Wie oft war sie morgens aufgewacht und hatte festgestellt, dass er fort war. Und manchmal war er tagelang umhergelaufen und hatte mit dünner Stimme vor sich hin gesungen und mit ihr und seinen Kindern so gesprochen, wie ein sehr höflicher Mann mit Fremden spricht. Und nun war er endgültig verschwunden. Sie hoffte, wenn sie wieder vereint waren, würde er anders sein, wesentlich verändert. Aber darauf verlassen mochte sie sich nicht. Mit dieser Art Überlegungen richtete sie sich in ihrer Witwenschaft ein und wurde eine ebenso gute Witwe, wie sie eine gute Ehefrau gewesen war.
Nach dem Tod ihres Vaters wichen ihr die Mädchen nicht von der Seite, beobachteten sie bei allem, was sie tat, liefen ihr durchs Haus nach und waren ihr im Weg. Molly war in jenem Winter sechzehn; Helen, meine Mutter, fünfzehn; und Sylvie dreizehn. Wenn sich ihre Mutter mit der Flickwäsche hinsetzte, scharten sie sich auf dem Fußboden um sie und suchten es sich gemütlich zu machen, indem sie die Köpfe an ihre Knie oder ihren Stuhl lehnten, aber waren ruhelos wie kleine Kinder. Sie zupften Fransen aus dem Teppich, knifften den Rocksaum der Mutter, pufften einander manchmal, während sie dies und das von der Schule erzählten oder die endlosen kleinen Klagen und Anschuldigungen, die zwischen ihnen aufkamen, aus der Welt schafften. Nach einer Weile stellten sie meistens das Radio an und begannen Sylvies Haar zu bürsten, das hellbraun und schwer war und ihr bis zur Taille reichte. Die älteren Mädchen verstanden es geschickt zu Pompadourfrisuren mit Löckchen über den Ohren und im Nacken aufzustecken. Sylvie setzte sich in den Schneidersitz und las Illustrierte. Wenn sie müde wurde, ging sie auf ihr Zimmer, machte ein Schläfchen und kam zum Abendessen wieder herunter, die prächtige Frisur schief und zerzaust. Nichts konnte sie zur Eitelkeit bewegen.
Wenn es Zeit zum Abendessen war, folgten sie ihrer Mutter in die Küche, deckten den Tisch und nahmen die Deckel von den Töpfen. Dann setzten sie sich um den Tisch und aßen zusammen, Molly und Helen immer mäkelig und Sylvie mit einem Milchbart. Sogar dann, in der hellen Küche, wo die weißen Vorhänge die Dunkelheit aussperrten, spürte ihre Mutter, wie sie sich zu ihr hinneigten und ihr ins Gesicht und auf die Hände schauten.
Nie mehr seit ihrer frühen Kindheit hatten sie sich so um sie gedrängt, und nie mehr seither war sie sich so sehr des Geruchs ihrer Haare, ihrer Weichheit, Plusterigkeit, Sprunghaftigkeit bewusst gewesen. Das erfüllte sie mit einem seltsamen Stolz, der gleichen Freude, die sie gespürt hatte, wenn eine von ihnen als Säugling die Augen an ihr Gesicht geheftet und nach ihrer anderen Brust gegriffen hatte, ihrem Haar, ihren Lippen, hungrig danach, sie zu berühren, begierig darauf, für eine Weile satt zu werden und zu schlafen.
Sie hatte schon immer tausenderlei Möglichkeiten gekannt, sie mit dem zu umgeben, was wie Lebensgenuss scheinen musste. Sie wusste tausend Lieder. Ihr Brot war locker, und ihre Marmelade war sauer; an Regentagen buk sie Kekse und kochte Apfelmus. Im Sommer stellte sie eine Vase mit Rosen aufs Klavier, riesige duftende Rosen, und wenn die Blüten reiften und die Blütenblätter abfielen, legte sie sie mit Nelken und Thymian und Zimtstangen in ein hohes chinesisches Gefäß. Ihre Kinder schliefen auf gestärkten Laken unter dicken Steppdecken, und am Morgen füllten sich die Vorhänge mit Licht, wie sich Segel mit Wind füllen. Natürlich drückten sie ihre Mutter und berührten sie, als wäre sie fort gewesen und gerade wieder zurückgekehrt. Doch nicht, weil sie fürchteten, sie würde verschwinden wie ihr Vater, sondern weil sein plötzliches Verschwinden ihre Aufmerksamkeit für sie geweckt hatte.
Schon bald nach ihrer Heirat war sie zu dem Schluss gekommen, dass Liebe zur Hälfte aus einer Sehnsucht bestand, die durch Besitz nicht zu lindern war. Als sie noch kinderlos waren, hatte Edmund einmal am Ufer eine Taschenuhr gefunden. Das Gehäuse und das Glas waren unbeschädigt, aber das Werk fast völlig von Rost zerfressen gewesen. Er schraubte die Uhr auf, leerte sie und legte anstelle des Ziffernblatts einen Kreis aus Papier ein, auf das er zwei Seepferdchen gemalt hatte. Das schenkte er ihr als Medaillon an einer Kette, aber sie trug es fast nie, weil die Kette zu kurz war, als dass sie die Seepferdchen ohne weiteres hätte betrachten können. Sie fürchtete, es an ihrem Gürtel oder in ihrer Tasche zu beschädigen. Wohl eine Woche trug sie die Uhr bei sich, wohin sie auch ging, und wenn es nur durchs Zimmer war, und das nicht, weil Edmund sie für sie gemacht hatte oder weil das Bild weniger farbenfroh und unbeholfen war als seine anderen Bilder, sondern weil die Seepferdchen selbst so eigentümlich, so kurios und wappentierartig waren und wie Insekten gepanzert. Sobald sie die Augen von ihnen gewandt hatte, sehnte sie sich nach ihrem Anblick, und der Wunsch blieb, selbst wenn sie in die Betrachtung versunken war, noch lebendig. Die Sehnsucht ließ nicht nach, bis irgendetwas – ein Streit, ein Besuch – ihre Aufmerksamkeit ablenkte. Und genauso berührten und beobachteten sie nun auch ihre Töchter – und folgten ihr, eine Weile lang.
Manchmal schrien sie nachts auf, mit kleinen, spitzen Schreien, von denen sie nicht wach wurden. Die Schreie verstummten, sobald sie, wie leise auch immer, an die Treppe kam, und wenn sie ihre Zimmer erreichte, fand sie alle ruhig schlafend, und die Quelle des Schreis verbarg sich in der Stille wie eine Grille. Ihr Kommen allein genügte, um das Geschöpf zu beruhigen.
Eigentlich waren die Jahre zwischen dem Tod ihres Mannes und dem Fortgehen ihrer ältesten Tochter fast ausnahmslos friedliche Jahre. Mein Großvater hatte manchmal Enttäuschung geäußert. Ohne ihn waren sie von der zermürbenden Hoffnung auf Erfolg, Anerkennung und Beförderung befreit. Sie hatten keinen Anlass zu Erwartungen, nichts zu bereuen. Ihr Leben lief von der sich neigenden Welt ab wie der Faden von einer Spule – Frühstückszeit, Abendbrotzeit, Fliederzeit, Apfelzeit. Wenn der Himmel diese Welt war, nur bereinigt von Unglück und täglicher Mühsal, wenn Unsterblichkeit dieses Leben war, nur gehalten in Stillstand und Würde, und wenn diese geläuterte Welt und dieses unvergängliche Leben als Welt und Leben zu denken waren, denen ihre wahre Natur geschenkt war, so ist es kein Wunder, dass fünf zufriedene, ereignislose Jahre meine Großmutter so einlullten, dass sie etwas vergaß, was sie nie hätte vergessen dürfen. Molly hatte bereits sechs Monate, bevor sie wegging, eine vollkommene Veränderung durchgemacht. Sie war offen religiös geworden. Sie übte Kirchenlieder auf dem Klavier und schickte dicke Briefe an Missionsgesellschaften, denen sie Berichte über ihre kürzliche Bekehrung und je zwei lange Gedichte beifügte, eines über die Auferstehung und das andere über den Marsch der Legionen Christi durch die Welt. Ich habe diese Gedichte gelesen. Das zweite spricht sehr einfühlsam von den Heiden und insbesondere von Missionaren: »… Die Engel kommen, fortzuwälzen/Den Stein, der schließt ihr Grab.«
Binnen sechs Monaten hatte Molly sich nach China verpflichtet, um dort für eine Missionsgesellschaft zu arbeiten. Und schon während Molly noch Kirchenlieder wie »Beulah Land« und »Lord, We Are Able« in die Luft schmetterte, saß Helen, meine Mutter, im Obstgarten und unterhielt sich leise und ernst mit einem gewissen Reginald Stone, unserem mutmaßlichen Vater. (Ich habe nicht die geringste Erinnerung an diesen Mann. Ich habe Fotos von ihm gesehen, beide vom Tag seiner zweiten Hochzeit. Dem Anschein nach war er ein blasser junger Mann mit glattem schwarzen Haar. Er sieht aus, als fühlte er sich in dem dunklen Anzug wohl. Es ist deutlich, dass er sich auf beiden Bildern nicht als das photographierte Objekt erachtet. Auf dem einen schaut er meine Mutter an, die mit Sylvie spricht, welche der Kamera den Rücken kehrt. Auf dem anderen sieht er aus, als streiche er die Beulen in seiner Hutkrone glatt, während meine Großmutter, Helen und Sylvie in einer Reihe neben ihm stehen und in die Kamera schauen.) Ein halbes Jahr nach Mollys Aufbruch nach San Francisco und von dort in den Orient gründete Helen mit diesem Stone einen Haushalt in Seattle, nachdem sie ihn offenbar in Nevada geheiratet hatte. Von Sylvie weiß ich, dass meine Großmutter über das heimliche Durchbrennen und die ferne Heirat sehr erzürnt war und Helen in einem Brief mitteilte, sie werde sie niemals als richtig verheiratet betrachten, bis sie nach Hause komme und sich vor den Augen ihrer Mutter noch einmal trauen lasse. Helen und ihr Mann reisten mit dem Zug an und hatten einen Koffer mit ihrer Hochzeitsgarderobe, eine Schachtel mit Schnittblumen und Champagner in Trockeneis dabei. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass meine Mutter und mein Vater jemals viel Geld hatten, deswegen ist zu vermuten, dass sie sich in Unkosten stürzten, um die Gefühle meiner Großmutter zu beschwichtigen. Dennoch verbrachten sie, laut Sylvie, keine vierundzwanzig Stunden in Fingerbone. Die Beziehungen müssen sich dennoch ein wenig gebessert haben, denn wenige Wochen darauf bestieg Sylvie mit neuem Hut und Mantel, mit neuen Schuhen und den besten Handschuhen, der besten Handtasche und Reisetasche ihrer Mutter den Zug nach Seattle, um ihre verheiratete Schwester zu besuchen. Sylvie besaß einen Sc...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Widmung
  6. Kapitel 1
  7. Kapitel 2
  8. Kapitel 3
  9. Kapitel 4
  10. Kapitel 5
  11. Kapitel 6
  12. Kapitel 7
  13. Kapitel 8
  14. Kapitel 9
  15. Kapitel 10
  16. Kapitel 11
  17. Wohnen in Möglichkeit
  18. Die Autorin
  19. Die Übersetzerin
  20. Bisher bei uns erschienen