Grundwasserstrom
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Grundwasserstrom

  1. 320 Seiten
  2. German
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Grundwasserstrom

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

"Was wir äußern in Briefen, Gesprächen, ist nicht mehr als die Spitze des Eisbergs. Unter Wasser zieht, was uns umtreibt."­In diesem Buch fügen sich kostbare Weisheiten zu einem poetischen Vermächtnis, das Antworten auf Fragen­ des Lebens und der Kunst gibt. Mal eine Zeile lang, mal mehrere Seiten umfassend, dokumentieren sie die geistig-­seelische Vita einer nachdenklichen, klugen, ja weisen Autorin. Kein Buch, das man von vorne bis hinten durchliest, sondern eines, das man immer wieder zur Hand nimmt.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783942374620
Thema
Drama

Die Landschaft in der Zeit

»… als bestünde eine Landschaft aus dem,
was man nicht sieht.«
Georges-Arthur Goldschmidt
»Mai, non saprete mai come m’illumina
L’ombra che mi si pone a lato, timida,
Quando non spero più …«
Giuseppe Ungaretti
Vor dem Land war die Landschaft. Vor der Landschaft war das Land.
Der einsame Mensch und das einsame Feld stimmen überein in einer Gegenwart, die schon Erinnerung ist.
Diese, jene Landschaften sind verborgen, weil sie nur von Menschen gesehen werden, die sie lieben. Die sie so betroffen lieben, daß die Wege, die sich in ihnen finden und verlieren, nachts durch das Herz zurückführen in die Erste Landschaft, die in einer Wandersage als das Land Eden erscheint, was soviel bedeutet wie momentan beschwichtigtes Chaos.
Die Landschaft ist die verborgenste, wenn sie sich einem Einzelgänger zeigt. Ein lokaler Nebel sammelt, was du suchst. Ein Nebelstreifen macht die von einem Baum bewohnte Eintalung zum Ort. Dort! Du kannst auf das weiße Wasser zugehn. Geh, grau vom aufgewirbelten Staub des abgelebten Tages. Du brauchst den Ort nicht zu erreichen. Auch das Fernerblickte reinigt, das Bild, das sich ändert, weil du dich verwandelst im Gehn.
Deine Atemzüge – du weißt es nicht – gleichen sich dem graduellen Eindunkeln des Feldes an. In der talartigen Mulde dehnt sich der weiße Nebel. Ohne das hervorhebende Weiß des Nebelstreifs, Bodennebels, bliebe das Profil der Senke unlesbar der Dämmerung verhaftet. Die also markierte Geländelinie evoziert einen großen Vogel im Flug. Obwohl an der Erde, erscheint er als raumfassende Silhouette eines Fernflugs mit geheimem Ziel. Jeder Flügel eine Welle, dazwischen das Wellental, oder: Joch eines Flugbilds; in sich freie, unverkrampft energische Spannung: diesem Vogel wirst du nachschauen im Herbst. Sein Schatten zeichnet das Stoppelfeld.
Für Roberta
Die Lichtung. Die Landschaft, in der ich wurzle wie eine Pflanze und schweife wie ein Tier, ist die heimlichste an Winterabenden, die um 4 Uhr nachmittags beginnen. Wer sich draußen aufhält, wittert den Schnee, der in der Kindheit beim Einnachten fiel, noch bevor der Nordwest die letzten Blätter von den Zweigen gestreift hatte, lahme Zungen und schwarze Sterne.
Auf dem Weg hügelab ins Moor, das der Schneegeruch aus der Zeit heraufholt in die windstille Dämmerung, kreuzen sich meine Lebensalter in den Personen, die ich war. Offen der Schneesaat gehn sie unter dem tiefen Himmel. Die Füße waten in Dunkelheit, die Nüstern schnuppern, die Augen hängen an der Lichtung im Gewölk. Die Lichtung ist die Erscheinung dieses Abends: ein höherer Himmel, das lichte Grau der Verheißung. Der Schnee riecht nach Leben, die Hyazinthe nach Tod, jetzt, da eine Spinne über meine schreibende Hand läuft, am 2. Mai 94, während mich die Flocken eines unbestimmbaren Jahres zuschneien. »Um halb Dunkel«, wie das Kind Peter orakelte. Gleich einem scheuen Tier machten die Unsichtbaren auf sich aufmerksam, indem sie die Lippen, die Wimpern berührten: feinste Fühler, die Botschaften vermittelten aus einer Sphäre, die identisch bleibt mit der Lichtung.
»Er sah nur ihre klaren wahrhaftigen Augen, die vom gleichen freudigen Liebesgrauen erfüllt waren wie sein eigenes Herz.«
(Kitty und Lewin) Leo Tolstoi, Anna Karenina
Die Wildwechsel der Toten. – Meine Wechsel zwischen Lebenden und Toten, An- und Abwesenden.
»Ennet am Berg«: aufwachen mit einem Bild, ein paar Worten, die weiterführen, Hinweis oder Rätsel, hinein in den Tag. In Zeiten der Dürre hilft zuweilen auch ein geträumter Satz aus, der sich meldet im Schlaf. Von wem gesprochen? an welche Wand geschrieben? Da war niemand, der ihn dir mitgab, es hat aus dir gesprochen, das gründlichere Erinnern, das hellhörige Vergessen, das sich artikuliert in Codes, die man erst entschlüsseln wird, wenn sich realiter zugetragen hat, was preisgegeben wurde im Schlaf: Leben, in eine Formel versteckt.
Schreiben gleich lesen zwischen den Zeilen der eigenen, hinter der sichtbaren verborgenen Biographie.
Sprache als Dichtung, Abdichtung gegen die verschwemmenden Fluten des Vergessens, seine höhlenden Tropfen, unterspülenden Grundwasser und überrollenden Wogen.
Schreiben, ein dem hermetisch arbeitenden Traum entfernt verwandter Vorgang. Formeln erarbeiten; Palimpseste lesen, sich durchlesen zum Urtext. Ein einziges Wort kann zur Formel werden in einem Kontext, der, umkreisend, das Klima vorbereitet. Stich-Worte, Reiz-Worte, Kern-Worte, Schlüssel-Worte. Um ihren Stellenwert zu erkennen in diesem, jenem Leben, muß man erst die Vita erforschen. Fakten, Hintergründe und Untergründe.
Kein Computer kann diese dem menschlichen Hirn vorbehaltenen, bewußten und unterbewußten ontogenetisch bedingten und beglaubigten Kombinationen erfinden oder ersetzen. Die maschinell gesteuerten Findungen haben keine Wurzeln. Menschliche Sprache gründet, keimt, wächst, blüht, fruchtet, wird ausgesät, gedeiht oder verkommt. Im Wörtergestöber der Computer-Phantasien findet sich selten ein Samen.
Un-Sinn als Ausgangspunkt für Systeme eines Hirns, das, umstrukturiert, das Verhalten einer neuen menschlichen Spezies diktiert? Der Un-Sinn der Limericks und Dadas ist immer noch ein organischer.
Im vollen Mond. Wachliegend im magnetischen Licht des vollen Frühlingmonds, vor dem auch die Zweitvorhänge, die mit dem heraldischen Muster, nicht schützen, suche ich unter den Lidern meine Einschlaf-Landschaften und finde – Menschen, die wegbleiben, sobald ich die Augen öffne. Menschen, die zu diesen Landschaften gehören wie die Perle zur Muschel und der Wassertropfen zum Blatt des Frauenmantels. Das Zimmer ist verdunkelt durch die Doppelvorhänge, doch das Fluidum, Fließen, Vibrieren, Luftbeben, das weiße Magma dieser Nacht, ihre durchdringende, bis in den Keller und abseitige Kammern fühlbare Strahlung kann man nicht aussperren. Kosmischen Konstellationen bin ich ausgeliefert wie ein Baum den Hagelschlossen. In der flirrenden Luft, im mondverschneiten Garten Verschollene und Tote, Schatten mit Augenhöhlen, pathetische Gewänder, die leer sind. Die Schatten kennen sich nicht, sind einander fremd, gehen durcheinander hindurch. Alles Erkennen und Wiedererkennen liegt bei mir, der Verstrahlten, während die Augen, starr offen, die zwielichtige Nacht spiegeln.
Ist ein naher Mensch, bin ich selber schwerkrank, verkommen Beobachtungen wie die obigen zu unverantwortlichen Trockenübungen. – Die relativierende Allmacht der Todesangst, der Tod als Supervisor.
Statistik. Man kann Zahlen sehn oder Kreuze. Alle 30 Jahre werden die Grabzeichen abgebrochen, die Knochen ausgebuddelt und neue Leichen eingebettet. In mehr oder weniger hohen Wogen wälzt sich das Leben über die Erde. Die See, das Meer der Seelen.
Mit dem Tod halten es die Menschen wie die Kinder, die glauben, wenn sie sich von etwas abwenden, das sie nicht sehen wollen, sähe dieses sie auch nicht. (Goethe, Canetti.) Den einst als Glauben getarnten Selbstschutz ersetzt das Wissen nicht.
Im Traum schenktest du mir eine gläserne blaue Krone. Die war sowohl zerbrechlich wie unzerstörbar. Während wir sie betrachteten, berührten sich unsere Schläfenhaare. Das Entzücken verhaltend, taten wir so, als merkten wir’s nicht.
Romana besuchen. Sie kannten sie nicht. Einzig der Name war ihnen bekannt. Was stellen sich zwei kleine Buben unter einer Frau namens Romana vor? Eine Hexe, eine Fee, eine Zauberin?
Mit der Behendigkeit von Katzen sprangen sie aus dem Auto. Es erschreckte sie nicht, vor einer hohen langen Mauer zu stehen, denn gleich hatte der Ältere das Tor in der Mauer entdeckt. Er rannte darauf zu, der Kleine hinterdrein. Die ersten drei Stufen nahmen sie im Sprung – und blieben stehn. Wie festgebannt verhielten sie unter dem steinernen Türsturz, dornige Büsche zu beiden Seiten, dunkle Blätter, doch keine Blumen. Auch frühe Rosen zeigen im April noch nicht jene rote Zungenspitze, mit der sie sich, Mohnknospen ähnlich, Kindern zu erkennen geben. Auf der dritten Stufe verharrend, äugten sie eine Treppe hoch, die nicht zu enden schien, die aber doch irgendwo enden mußte, da oben ein Haus war, die gräulich gelbe, düstere bleiche, verwitterte Mauer eines großen Hauses mit vielen Fenstern, aus welchen schwarze Bäume schauten, die sich bewegten in ihrem gläsernen Himmel, der in einigen Fenstern libellenblau schimmerte, in andern jedoch trübweiß zugedeckelt war. Weder Jalousien noch Geranien noch Vorhänge. Menschen schienen hier keine zu wohnen. Der Onkel machte die Brüder auf eine verspiegelte Scheibe aufmerksam, die blinkte, als ob ein Zauberer dahinter experimentierte. Zwischen Robinienwipfeln, in denen sich Ansätze eines filigranen Blattgefieders abzuzeichnen begannen, hielt das steile Dach seine von Flechten gefleckten Ziegel zusammen wie ein Acker seine Schollen. Über dem Dach-Berg, dessen Ende sie von der dritten Stufe aus nicht absehen konnten, mußte gleich der Himmel beginnen mit Mond und Sternen. Sie wagten sich nicht weiter.
Ihnen voran stieg der Onkel die Treppe hinauf. Gestreift von Rhododendronblättern, die über den Platz griffen und grüne Schatten über die Kiesel rieseln ließen, unter Bäumen, die turmhoch im Wind schaukelten, zögerten, zauderten sie hinter dem Mann her, einer Flügeltüre sich nähernd, die ungemein hoch und breit in einem steinernen Rahmen stand und den Eindruck einer Verschlossenheit erweckte, die auf Verwunschenheit schließen ließ. Die verschlossene war eine verwunschene Türe. Die längsrechteckigen Füllungen in den Binnenrahmen erachteten die Kinder für weitere Türen. Daß diese ihrerseits Türchen enthielten, hatten sie gleich bemerkt. Türchen ohne Schloß. Wer benutzte sie?
Nachtgrün lackierte Lorbeerbüsche wachten zuseiten der nagelneuen Eichenholztüre, die ein kunstreicher Schreiner der ursprünglichen, von den Wettern dreier Jahrhunderte heimgesuchten Türe nachgezimmert hatte. Blattdunkel gerahmt, erschienen die glänzenden ockerbraunen Flügel den Kindern golden. Durch Haselbüsche dringendes Licht einer Sonne, die sich erst gegen Abend gezeigt hatte, beschien die goldene Türe, während die Schatten noch spärlich belaubter Zweige über das Wappen wischten, in welchem ein Schwert einen Stab kreuzte, der sich am obern Ende zu einem Schneckenhaus rollte. »Ein Bischofsstab, ein Stecken wie jener, an dem St. Niklaus geht, wenn er vor Weihnachten die Kinder besucht.« Eifriges Nicken bekundete, daß man verstanden hatte. Der Kleine, besorgt, das steinerne Ding ob der Tür könnte herabstürzen, zog den Kopf ein und hielt die gespreizte Hand darauf. Onkel Robin rückte die Mäschchen ihrer schmalen Halsbinden zurecht, die wie Schmetterlinge an den zarten Knabenkehlen saßen. In den Wimpernkränzen schimmerten die weiten Augen, Rehkinderlichter, anzeigend eine Verletzbarkeit, die strahlt im Hunger nach Leben und scheut in der Simultanangst davor.
An Ort trippelnd, warteten die Kinder auf der Steinplatte vor der Türe, eine Sandsteintafel vom Ausmaß eines Familientisches. Aberhunderte von beschuhten und nackten Füßen hatten die einer Grabtafel gleich eingesunkene Platte beschritten; von den Tritten, Schritten eiliger und schleppender Füße war sie abgeschliffen, die Zeit hatte an ihr gemeißelt, sie merklich vermindert. Sie belagernd, hatten Hunde die Türe bewacht, Generationen von Katzen waren ein und aus gegangen, Trophäen deponierend, tote Mäuse und Vögel; wie rasch der Glanz aus den schlaffen Flügeln wich. Auf der von einer Delle gehöhlten Schwelle, die sich der Platte anschloß, hatten Tod und Leben die Fackel getauscht. Im Schwellenwinkel linkerhand gewahrten die Gäste eine grünspanige Kupfervase, darin sich eine erfrorene Lilie krümmte.
Hier, sagte der Onkel, wohne Romana. Er öffnete die Türe, die nicht verschlossen, vielleicht schon lange offen war. Die Schwelle überschreitend, traten sie im finstern Gang in eine Wasserlache. Die Kinder stießen einen Schrei aus. Auch einem Erwachsenen, der im Dunkeln unerwartet ins Nasse gerät, wird das fremde Wasser zum saugenden Sumpf. – Über der Kellertreppe, die bis in die Hölle führen mochte, döste das trübe Auge einer vergitterten Luke. Jenseits der staubblinden Scheibe stauten sich zerknüllte, vom Sturm verwehte Papierfetzen und Vorjahrblätter in Klumpen, die noch nicht weggekehrt worden waren, der Angstblick sah Dreck, der Ekel Restbrocken einst belebter Materie, Pelziges, Fiedriges, verfilzt. Genaues ließ sich nicht ausmachen; was an düsterem Zwielicht sich einschlich, drang nicht bis zum Krötensumpf.
»Der Regensee!« erklärte der Onkel, wer auf eine Insel wolle, müsse erst über ein Wasser.
Es enttäuschte die Buben, daß sie nicht in das Hifthorn blasen durften, das über dem Sims einer Nische hing, die ein Kamin vortäuschte. Vom Hirsch hinter der Wand war nur das vielzackige Geweih und die bleiche Stirnplatte zu sehen. Sie setzten sich auf die zweitunterste Treppenstufe, saßen dicht aneinander und wollten nicht weiter, so herzhaft der Onkel sie ermunterte. Als von oben Schritte zu vernehmen waren, entwischten sie durch die offengebliebene Tür, flink wie Wiesel. Der Mann stand allein im finstern Gang, Blumen im Arm, die ihn behinderten bei der Begrüßung. Die Jungen, die sich in ein Gebüsch verkrochen hatten, kicherten in die Fäuste. Da niemand nach ihnen rief, näherten sie sich in verhohlener Neugier, die strahlenden Augen voll Furcht und Lust. Die fremde Frau mit der imaginierten Frau Romana vergleichend, gaben sie, nach oben blickend, Auge in Auge mit der Fremden, ernst ihre Namen preis.
Für A., K. und R.
Es ist immer nur einer, der lange genug wartet.
Einsatz-Geschichten sind bei den Durchsagen unterzubringen.
21. Mai 94
Das Blaue Wunder.
Erich und Hildegard Kessler haben uns in der Reussebene durch ihr Iris-Imperium geführt. So sieht es also aus, das Blaue Wunder: eine weite, von silbergrünen Weidenbüschen umzäunte Riedmatte, wo auf hohen vertikalen Stengeln an die 7000 blaue Blüten schweben. Zählung Erich Kessler. Für ihn, den liebend Besorgten, besorgt Liebenden, zählt jede Blüte, jede Knospe. Diesem kenntnisreichen und mutigen Naturschützer ist es zu danken, daß die Lilienbestände in der Freiämter Reussebene, die über Jahrzehnte mehr und mehr zurückgegangen waren, wieder zugenommen haben. Als Summe ergeben die unter einem silbergrauen Regenhimmel bald violett schwelenden, bald blau schimmernden Pfingstflammen der Iris sibirica, was wir, Ungläubige und Verletzte, noch immer als Augenweide bezeichnen.
Landschaft des Fährmanns, ein Reuss-Traum
Ich stand in der Tür
außer Ort und Zeit,
das Wasser säumten
verschilfte Matten,
willig dem Fährmann
ein Schatten – wir fuhren
schrägüber –, die blaue war drüben
die schwarze Blume,
eine Schlange schwamm nah,
ein Herz zu haschen –
zurück
floh die Flamme,
wir aber waren weit.
Bergpfad. An einem erinnerten Weg wechseln die Jahreszeiten sekündlich. Gedankenschnell durchdringen, überlappen oder isolieren sich Grasweide und Frostanger, grüne, rotgoldene, weiße Wälder, ein wetterbraunes und ein schneeblaues Dorf.
Über dem Tal läuft der Pfad ebenwärts an der Bergflanke hin auf den Hochwald zu. Lärchen und Tannen. Am Gattertor, welches das Wald- vom Weideland trennt, ist eine Plastikschnur hängengeblieben, deren lichtes Blau im Winter an die Bärtige Glockenblume erinnert. In moosiger Höhlung blüht zwischen Wurzelgeflecht zeitlos das Moosglöcklein, zweiblütig, an fadenfeinen, spitzwinklig nickenden Stielen, die Verzweigungen eines fingerlangen Stengels sind.
Linnaea borealis, ein Eiszeitrelikt. Selbst wenn die rare Blume nicht unter Schutz stünde, hinderte uns ein ungeschriebenes Gebot – Achtung vor legendären, allein schon durch ihren Namen geadelten Pflanzen –, auch nur eine dieser mythischen Zwillingsglocken zu pflücken, die Linné liebte.
Wir pflücken auch keine andern Blumen, sammeln keine Pilze. Aus rostfalbem Lärchengenadel – den Nadeln von einst – stößt bilderbuchheimlich todgiftig der Fliegenpilz.
»Die Wichtelklause als Spießeridol«: wir sprechen über das, was wir sehen, wir sehen, wofür wir Worte finden, wofür uns Worte fehlen. Wir suchen Wörter für eine Farbe, die wir an diesem Morgen, diesem Abend bewußter wahrnehmen in ihrer unvergleichlichen Einzigartigkeit, eine Farbe, ahnen wir, die sich uns nie mehr zeigen wird. Das Blau, das die vom Anflug des ersten Schnees entrückten Bäume in den Himmel...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Tiefes Licht
  6. Sichtbar werden
  7. Die Landschaft in der Zeit
  8. »Lektüre, die eigenes Leben freisetzt«
  9. Die Autorin
  10. Bisher bei uns erschienen: