Matti, der sich für einen Kenner exotischer Welten und fremder Kulturen hielt, war überzeugt, dass die respektvolle Demut bei orientalischen Herrschern gut ankommen, ihre Herzen zermürben würde. Schon malte er sich vor seinem inneren Auge aus, wie sie gesenkten Kopfes dem Sultan feierlich die Schlüssel zur Festung überreichen. Nur diese symbolische Geste könnte ihnen das Leben retten, dachte er, während die aggressive Haltung des Hauptmanns ihnen allen den sicheren Tod bringen würde. Matti bereute, dass er Ottiz die Geschichte von Famagusta erzählt hatte.
»Wann war das? Vor Ewigkeiten! Jetzt wird es anders sein. Sie werden uns ziehen lassen, glaub mir!« Matti drückte seine beiden Hände an die Brust.
»Famagusta fiel 1571. 1571 und 1715, siehst du das denn nicht?! Das ist die Magie der Zahlen! Und auch alles andere stimmt auf magische Weise überein: Famagusta wurde im März angegriffen, wie wir, und im August wurde es ausgelöscht.«
»Deine Angst macht dich dumm! Damals war es üblich, Feinde zu häuten, aufzuspießen und zu foltern. Unsere Vorfahren waren um nichts besser«, erwiderte Matti mit einem Lächeln.
»Wir sind Christen!«
»Ja?« Mattis Ton wurde immer spöttischer. »Das Martyrium von Bragadin ist unbestritten. Aber was ist mit Savonarola? Wer hat Savonarola zu Tode gequält und dabei vor Begeisterung gegrölt? Und was ist mit all den anderen?«
Auf und ab marschierend erzählte Matti, wie Otto III., ein glühender Christ, Johannes Philagathos auf einem Esel verkehrt herum sitzend durch die johlende Menge ziehen ließ – ohne Augen, Ohren, Nase und Zunge. Dann berichtete er, dass Richard Löwenherz bei der Eroberung Jerusalems zweitausendsiebenhundert Geiseln köpfen ließ, darunter auch Frauen und Kinder. »Unsere Sünden hassen wir am meisten an unseren Feinden!«, sagte er dann zum Schluss seiner flammenden Rede, leiser, aber entschlossen.
»Märchen und Lügen!«, schrie Ottiz und stampfte mit dem Fuß auf. »Du redest wirres Zeug. Wenn wir uns ergeben, werden wir alle enden wie Bragadin! Du hast wohl wieder zu tief in deine Fläschchen geschaut.«
Matti, dessen Kammer mit alten Büchern, Tierpräparaten, Gläsern und Fläschchen vollgestellt war, genoss den fragwürdigen Ruf eines Gelehrten, der mit dunklen Kräften in Verbindung steht. Selbst die Madonna in seinem Medaillon war schwarz wie Pech, und in die Kirche ging er nur, wenn er musste. Und auch seine Schwäche für Wein gab den Bewohnern der Zitadelle Nahrung für Misstrauen und Spott.
»Ich habe dich gehört«, erwiderte Matti. »Nicht mehr als eine Woche, dann öffnen wir alle Tore. Meine Maria wird ihre schützende Hand über uns halten, das weiß ich.« Matti holte sein Medaillon unter dem Hemd hervor und küsste es.
»So ungefähr könnte die Geschichte gehen, mit der ich die Vitrine mit dem Medaillon versehen würde. Was meint ihr?«
Mira schaut in die Runde, dabei schirmt sie ihre Augen mit der Mappe gegen das blendende Licht ab. Unter ihrem gehobenen Arm öffnet sich die Achselhöhle. Ivo schaut weg, erregt und beschämt zugleich. Während Mira redet, spielt sie mit einer Haarsträhne, die sie schließlich mit einer Spange in Form eines Molchs zähmt: gelbe Flecken auf dem schwarzen Emaille, grüne, glatt polierte Steinaugen. Diese Spange: Bei ihrem Anblick denkt Ivo an Szenen vom Jüngsten Gericht, solche, die sich immer in der unteren linken Ecke des Bildes abspielen, dort, wo es von durch zügellose Gelüste geknechteten Kreaturen nur so wimmelt. Von solchen wie uns.
Ivo kann sich gut an den Tag erinnern, als sich das unanständige Verlangen tief in seinem Fleisch eingenistet hat. Es ist drei Jahre her. Es war Sommer, eine dieser leeren Stunden am Montagnachmittag, wenn das Restaurant geschlossen ist. Vor allem im Sommer fühlt Ivo sich an solchen freien Nachmittagen immer apathisch, leer, gestaltlos. Oft gelingt es ihm, diese dumpfen Stunden durch eine verlängerte Mittagsruhe zu überbrücken, an diesem Tag aber ging er einfach in die Stadt hinunter, zu Fuß und ohne Eile. Auf der Brücke blieb er länger am Geländer stehen. Die Autos und die wenigen Passanten wirkten langsamer als sonst, wie verschlafen. Der Boulevard war fast leer, Ivo bog in den kleinen Park ein. Blaue Tannen, ...