Nach dem Sturm
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Nach dem Sturm

Roman

  1. 214 Seiten
  2. German
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Nach dem Sturm

Roman

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Über dieses Buch

Alt ist Ivo noch nicht, höchstens an der Grenze, aber zu alt dann doch, um sich in die Freundin des eigenen Sohnes zu verlieben. Seit die junge Frau im Museum auf der Festung arbeitet, Tür an Tür mit Ivo, der dort sein Restaurant hat, findet er keine Ruhe mehr. Mira raubt ihm den Schlaf. Nicht im Ehebett, das teilt er längst nicht mehr mit seiner Frau, die Gesangslehrerin ist, aber ein Star hätte werden können. Überhaupt ist alles anders gekommen in der kleinen Stadt an der Grenze, wo Westen und Osten, Norden und Süden aneinanderstoßen. Anders als erhofft. Es ist August, es ist drückend heiß, seine Tochter Ana hat Geburtstag, ein großes Fest steht bevor. Als wäre die Katastrophe, die Ivo auf sich zukommen sieht, nicht schon genug, hat sein Sohn auch noch einen Autounfall.Im Duktus einer Märchenerzählerin verwebt Nellja Veremej die Geschichte ihres Helden mit Mythen, Fabeln und Legenden. Aus dem leisen Humor, mit dem sie ihre Figuren, ihre Hoffnungen und Nöte betrachtet, spricht die Zuneigung einer Autorin, die aus eigener Erfahrung weiß, dass Geschichte aus Geschichten gemacht ist, dass sich das Große im Kleinen spiegelt. Nellja Veremej kann davon erzählen - und wie!

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783990271469

III

1 Die Schwarze Madonna

Wenige Augenblicke bleibt Ivo mit dem Tablett im Salon stehen, bevor auch er hinausgeht. Draußen kneift er die Augen zusammen; nach dem ewigen Dämmer in der Wohnung fühlt er sich in der weißen Hitze wie blind. Auch als er über den Platz geht, haben sich seine Augen noch nicht erholt.
Vor dem Eingang zum Museum schabt Zoe mit ihrem harten Besen laut über die Kopfsteine, während sie dazu singt. Zoe erschien hier kurz nach der Wende und zog in das alte Häuschen, das mit dem hinteren Teil im Abhang steckt. Niemand weiß, woher sie kam, mal sagt sie, aus dem Osten, dann wieder, aus dem Süden. Sonst ist sie wortkarg, außer Mira gegenüber. Mehrmals sah Ivo die beiden hier auf der Terrasse Kaffee trinken. Zoe erzählte, Mira hörte aufmerksam zu und machte Notizen, wie eine Ärztin. Diese Zugewandtheit schmeichelte der Alten sichtlich. Sie ist vielleicht nur um ein Dutzend Jahre älter als Ivo, trotzdem war sie für ihn immer alt, und ihr Äußeres hat sich in der Zeit kaum verändert. Ihr kleines, dunkles Gesicht ist runzlig wie eine Walnuss, ihre Röcke sind bunt, ihr Kopftuch ist mit goldenen Fasern durchwoben. Sie taucht ihren Besen tief in einen Eimer voll Wasser. Als Ivo an ihr vorbeigeht, stellt sie ihre Arbeit ein und bleibt, auf ihren Besen gestützt, eine Weile stehen. Das friedfertige Gerät kann sich schnell in eine Waffe verwandeln; mehrmals konnte Ivo beobachten, wie Zoe mit dem trockenen Besen Staubwolken vor den Füßen der Touristen aufwirbelt. Sie ist immer misstrauisch gewesen, und die Touristen mit ihren entblößten Knien ärgern sie auch deshalb, weil sie dem nicht verweslichen Leichnam des Heiligen Nektarios keinen Respekt erweisen. Über den Heiligen spricht sie wie über einen Lebenden, der ihre Fürsorge braucht. Friedlich ruht ihr Freund in seinem Schrein auf dem roten Plüschpolster: Die Augenhöhlen sind mit dunkler Haut versiegelt, die Augenschlitze mit den spärlichen Wimpernhärchen ähneln einem Reißverschluss; die Hände, dünn wie gedörrt, auf einer weißen Spitzendecke vor der Brust gekreuzt, und der etwas schief sitzende Blumenkranz auf der ledernen Stirn geben dem Heiligen die Zahmheit einer Braut. »Ihr seid die Mumien, nicht er!«, schimpft Zoe den Fremden nach.
Ivo gegenüber ist sie immer höflich. Auch als er jetzt an ihr vorbeigeht, verbeugt sie sich fast unterwürfig: »Grüß Gott, grüß Gott«, bevor sie ihr leises Lied wieder aufnimmt: Herr, gibt uns August, heißen August …
Der Tag hat noch nicht angefangen. Alle Tische sind frei, bis auf den einen, an dem die jungen Mitarbeiter des Museums Kaffee trinken. Sie reden lebhaft, fallen sich gegenseitig ins Wort und lachen im Chor. Auch Mira ist da, eine dicke rote Mappe auf ihrem Schoß, einen aufgeschlagenen Reiseführer in der Hand. Sie hat die geschäftige Ernsthaftigkeit einer Referentin.
Ivo reicht jedem von ihnen die Hand, tätschelt sie an der Schulter. Mit Mira tauscht er einen flüchtigen Blick.
»Setzen Sie sich.« Janosch, ein dicklicher Fremdenführer, das Gesicht voller Sommersprossen, das Kinn weich wie das einer Frau, zieht für Ivo einen Stuhl unter dem Tisch hervor.
»Nein, danke, ich muss weiter.« Aber Ivo bleibt stehen, stemmt sich gegen die Stuhllehne, und plötzlich ist er Mira sehr nah, zu nah – sein Gesicht schwebt über dem Abgrund, der sich im Ausschnitt ihrer Bluse öffnet. Jäh richtet er sich auf und tastet die Hosentaschen nach Zigaretten ab. Seine verschwitzten Hände kommen ihm dabei breit, schwer und patschig vor wie sein ganzer Körper. In Gedanken ist er jetzt wieder im Schlafzimmer, wo er gerade noch neben Milly saß, bereit, sich aufzulösen. Erst als Adam ihm eine Tasse Kaffee hinhält, nimmt Ivo die Stimmen um sich wieder wahr. Auch die von Mira.
»Hört euch das an: Hier, in der entlegenen Peripherie Europas … Was soll das heißen?« Sie klappt den Reiseführer zu und wühlt in dem Papierstapel auf ihrem Schoß. Sie zieht ein Blatt daraus hervor und gibt es an die Runde weiter: die Kopie eines alten Stichs, auf der eine stehende Königin zu sehen ist; Regina Europa, Sebastian Müntzers Cosmographia Universalis, 1550–4, ist darauf zu lesen. Dreht man das Blatt in die Waagerechte, kann man in dem Frauenkörper die Umrisse des Kontinents erkennen: Reginas rechte Hand hält einen Reichsapfel mit der Inschrift Sicilia, auf ihrem rechten Fuß steht Constantinopol; der Rockschoß, der ihren linken Fuß umhüllt, trägt die Signatur Moscovia, Scythia, Tartaria.
Mira zeigt auf das Bild (nein, ihre Hände, kurzfingrig und tapsig wie die eines Jungen, sind nicht hässlich!). »Hier sind wir, exakt in der Mitte zwischen zwei Extremen, zwischen Sicilia und Tartaria, den beiden Hälften eines Körpers. Griechen und Skythen, Städter und Nomaden, Römer und Barbaren, Ostkirche und Westkirche, Wien und Istanbul, Westblock versus Ostblock – die Namen ändern sich, die Machtzentren verschieben sich, aber die beiden Pole bleiben, und unsere Festung liegt mitten im Spannungsfeld. Ein Beweis aus dem fünften Jahrhundert: Ein vom Oros gesendetes Lichtsignal brauchte exakt so viel Zeit (eineinhalb Stunden), um Rom und Konstantinopel zu erreichen, damals die wichtigsten Metropolen des Kontinents. Kreuzritter rasteten hier, denn der Oros markierte die Mitte des Landwegs von Paris nach Konstantinopel. Später waren es die Passagiere des Orientexpress, die sich freuten, weil sie den halben Weg hinter sich hatten. Wir sind nicht Peripherie, wir sind Europas Nabel, sein Sonnengeflecht, das Reich der Mitte. Nur wenn wir uns so verkaufen, kommen die Touristen in Strömen, da bin ich sicher!«
Mira möchte die Ausstellung im Museum anders gestalten, so, dass sich die Geschichte wie ein Roman lesen lässt. Ein Roman voll Schmerz, Hoffnung und Liebe. Und das traut Ivo dieser Scheherazade durchaus zu. Ihre Märchen verzaubern ihn, und ihm scheint, dass nur ihre Stimme die hohle Leere füllen kann, die sich in seiner Brust breitgemacht hat.
Auf der Suche nach Stoff für ihre Geschichten wendet sich Mira an Kollegen aus benachbarten Städten, stöbert in privaten Archiven und Museumslagern und sogar im Müll. Was sie findet, sammelt sie in der dicken roten Mappe, die jetzt auf ihrem Schoß liegt: Fotos, Postkarten, Bilder aus Magazinen, Texte (die Speisekarte seines Restaurants ist auch darunter, aus den Zeiten, als es noch Das Rote Bavaria hieß).
»Ich habe mich mit Julius Klado beschäftigt und dort viel Neues gefunden.« Mira hält triumphierend ein dicht bedrucktes Blatt in die Höhe: »Das ist genau das, was wir brauchen: politische Umwälzungen plus große Leidenschaften. Eitelkeit, Liebe, Eifersucht, Tod – alles da!«
Julius Klado, der vor dreihundert Jahren Kanzleischreiber der Garnison gewesen war, hatte nach seinem Tod ein umfassendes Tagebuch hinterlassen. Seine Aufzeichnungen waren den Historikern bekannt, allerdings zitierten sie daraus nur die Teile, die sich mit Bauwesen beschäftigten, mit Verwaltung und Heereswesen. Es war nicht einmal ein Drittel des ganzen Manuskripts, der Rest lag im Archiv, so gut wie unangetastet. Die von Mira entschlüsselten Seiten gelten dem letzten großen Zusammenstoß mit den Osmanen im Frühjahr 1715. Dieses Ereignis ist das Herzstück der Überlieferung, ihr Kern, um den die Geschichte der Stadt wächst. Auf die Schlacht folgte eine lange Belagerung und darauf eine wundersame Rettung, die Julius Klado, ein aufmerksamer Beobachter, aus nächster Nähe beschreiben konnte: Er wohnte Fenster an Fenster mit dem Kommandanten. Julius Klado war schwächlicher Natur; er kränkelte oft, und als er begann, Blut zu spucken, ließ ihn Ottiz ins Lazarett sperren. Dort verfiel der junge Mann langsam. Und er schrieb und schrieb und schrieb …
Auch wenn sich nun schon die ersten Touristen unter den Sonnenschirmen breitmachen und mit Speisekarten winken, bleibt Ivo wie angewurzelt stehen.
»Wollen Sie sich nicht doch setzen?« Mira schaut zu Ivo auf und fährt fort.
Die Schlacht ereignete sich am frühen Morgen des 29. März. Am Abend davor zog sich Major Matti, der die Zahl der Angreifer unterschätzt hatte, mit seinem Heer in die Festung zurück. Das untere Tunneltor blieb nun von innen versperrt und war von außen von feindlichen Truppen belagert. Aber die Festung verfügte über ein verworrenes Netz unterirdischer Gänge, und einer von ihnen machte es möglich, eine Verbindung mit der Außenwelt aufrechtzuerhalten. Allerdings nur am Anfang, solange der Blockadering noch breit und locker war. Täglich schickte Ottiz Boten (oft war es der flinke Damir) in ein Kloster oder ein benachbartes Dorf, wo man sich für Silbermünzen mit Speck und Käse versorgen konnte. Im Juni besetzten die Belagerer alle Siedlungen in der Umgebung, plünderten die Kornspeicher und brachten Wege und Straßen unter ihre Kontrolle, sodass die Botengänge immer gefährlicher wurden. Zwei Kundschafter kehrten von ihren Missionen nicht zurück, und es blieb unklar, ob sie geflüchtet oder, wie Damir, von einer feindlichen Streife erwischt worden waren. Die fremden Männer – schwarze Bärte, weiße Knospen-Turbane auf den Köpfen – befragten ihn, er aber stellte sich taub und stumm und schwieg, um nicht zu verraten, dass er Silbermünzen im Mund hatte. Erst wollten sie ihn in ihr Lager verschleppen, dann aber ließen sie ihn gehen, weil sie ihn für einen Schwachsinnigen hielten, sodass Damir in die Festung zurückkehren konnte.
Danach wurde der Tunnel zugeschüttet, und die Nahrungsvorräte in den unterirdischen Speichern schmolzen rasch dahin. Damir bekam als erwachsener Zivilist die kleinste Tagesration: ein Stück Brot oder eine Kartoffel, dazu ein paar Löwenzahnblätter und eine Zehe Knoblauch. Nur Schwangere oder stillende Mütter und Kinder bekamen zusätzlich etwas Milch von der einzigen klapprigen Kuh. Für die Soldaten gab es eine Scheibe Speck, die von Tag zu Tag dünner wurde. Mitte Juli waren die Belagerten am Ende.
»Täglich stirbt jemand an Erschöpfung oder Hunger. Der Feind hat uns freien Abzug zugesichert, ohne Munition. Sie lassen uns unser Leben, das ist ein gutes Angebot!«, sagte Major Matti.
»Du wirst ihnen nicht nur die Munition überlassen müssen, sondern auch deine Haut. Sie werden daraus eine Vogelscheuche machen! Nein, wir müssen standhaft bleiben und warten, bis Hilfe kommt.«
Ottiz redete mit angespannter, aber gedämpfter Stimme, seine Lippen bewegten sich dabei kaum. Matti dagegen wirkte nervös. Er griff an sein Medaillon, das er an einer goldenen Kette unter dem Hemd trug und in schwierigen Situationen immer befingerte.
Sie standen einander in der Kommandantur unter dem tief hängenden Kerzenkranz gegenüber. Damir saß im Vorraum und lauschte dem Gespräch.
»Schau doch, hier!« Matti drehte sich zum Fenster und zeigte auf den flachen Abhang der unteren Terrasse, wo sich elf frische Gräber wölbten. »Auch deine Frau könnte bald da liegen.«
»Meine Frau ist meine Sache! Sorg dich lieber um deine Haut! Und denk an Famagusta!«
»Dein Famagusta, das ewige Lied. Das kommt doch allen schon aus den Ohren raus!«, zischte Matti.
Er hatte Recht, alle hatten die Geschichte, die Ottiz so gern erzählte, schon mehrmals gehört. Damir konnte sie auswendig.
Famagusta war eine venezianische Festung auf Zypern, die im Frühjahr 1571 von den Osmanen angegriffen wurde. Ein Jahr leisteten die Venezianer Widerstand, umzingelt und erschöpft, dann ergaben sie sich. Da ihnen freier Abzug versprochen worden war, zog der Kommandant, Marcantonio Bragadin, feierlich aus der Stadt hinaus – festlich gekleidet, hoch zu Ross, begleitet von Pagen und seiner Garde. Sofort war er von Janitscharen umzingelt. Die Gardisten wurden auf der Stelle geköpft, die Pagen verschleppt. Bragadin selbst wurden als Erstes Nase und Ohren abgeschnitten. Ferner zwang man ihn, mit einem Sack Mist um den Hals auf einem Ochsen mehrmals durch die Stadt zu ziehen. Wenn er dabei Mustafa Pascha begegnete, musste er den Fleck Erde vor den Füßen seines Bezwingers ablecken. Erst am dreizehnten Tag des Martyriums, als man die Haut von seinem geschundenen Leib abzog, starb er.
Ottiz erzählte die Geschichte mit Hingabe und Liebe zum Detail, als ob er ein Augenzeuge der Tragödie gewesen wäre. Dabei hätte er Famagusta nicht einmal auf der Karte gefunden. Ottiz, der aus einem kleinen Dorf am Fuße der Alpen stammte, liebte Zahlen, Ordnung, die Uniform; sein Geist reichte nie über die unmittelbaren Bedürfnisse seines Körpers und die Erfordernisse seines Dienstes hinaus. Seine Lieblingsmusik waren Märsche, seine Lieblingslektüre Erlasse, Statuten und die Bibel. Von Famagusta hatte ihm Matti erzählt. Der, ein gebürtiger Venezianer, war mit diesem grausigen Märchen groß geworden. Mattis Familie wohnte nicht weit von San Zanipolo, wo Bragadins Haut, gestohlen und aus Konstantinopel heimlich nach Venedig gebracht, begraben liegt. Wie oft hatte er damals vor dem Grabstein gestanden, auf dem dessen Martyrium lebhaft dargestellt war. Das Bild säte keinen Hass oder Angst in der Kinderseele, sondern weckte seine Neugier und verstärkte das Fernweh, das ihn wegen der langen Abwesenheit und dem frühen Tod seines Vaters, eines Schiffskapitäns, plagte. Nicht Kreuzritter waren die Idole seiner Kindheit, sondern Marco Polo und Plano Carpini, dessen Liber Tartarorum ihm lieber war als jedes Märchen. Seine Seekrankheit hinderte ihn daran, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Aber auch die Artillerie lernte er zu lieben. Pulver, Feuer, Metall, das alles roch sehr nach Alchemie. Unter gebildeten Menschen war diese mysteriöse Lehre damals sehr populär. Für den jungen Matti war sie auch eine unsichtbare Brücke, die ihn mit dem Orient verband.
Matti, der sich für einen Kenner exotischer Welten und fremder Kulturen hielt, war überzeugt, dass die respektvolle Demut bei orientalischen Herrschern gut ankommen, ihre Herzen zermürben würde. Schon malte er sich vor seinem inneren Auge aus, wie sie gesenkten Kopfes dem Sultan feierlich die Schlüssel zur Festung überreichen. Nur diese symbolische Geste könnte ihnen das Leben retten, dachte er, während die aggressive Haltung des Hauptmanns ihnen allen den sicheren Tod bringen würde. Matti bereute, dass er Ottiz die Geschichte von Famagusta erzählt hatte.
»Wann war das? Vor Ewigkeiten! Jetzt wird es anders sein. Sie werden uns ziehen lassen, glaub mir!« Matti drückte seine beiden Hände an die Brust.
»Famagusta fiel 1571. 1571 und 1715, siehst du das denn nicht?! Das ist die Magie der Zahlen! Und auch alles andere stimmt auf magische Weise überein: Famagusta wurde im März angegriffen, wie wir, und im August wurde es ausgelöscht.«
»Deine Angst macht dich dumm! Damals war es üblich, Feinde zu häuten, aufzuspießen und zu foltern. Unsere Vorfahren waren um nichts besser«, erwiderte Matti mit einem Lächeln.
»Wir sind Christen!«
»Ja?« Mattis Ton wurde immer spöttischer. »Das Martyrium von Bragadin ist unbestritten. Aber was ist mit Savonarola? Wer hat Savonarola zu Tode gequält und dabei vor Begeisterung gegrölt? Und was ist mit all den anderen?«
Auf und ab marschierend erzählte Matti, wie Otto III., ein glühender Christ, Johannes Philagathos auf einem Esel verkehrt herum sitzend durch die johlende Menge ziehen ließ – ohne Augen, Ohren, Nase und Zunge. Dann berichtete er, dass Richard Löwenherz bei der Eroberung Jerusalems zweitausendsiebenhundert Geiseln köpfen ließ, darunter auch Frauen und Kinder. »Unsere Sünden hassen wir am meisten an unseren Feinden!«, sagte er dann zum Schluss seiner flammenden Rede, leiser, aber entschlossen.
»Märchen und Lügen!«, schrie Ottiz und stampfte mit dem Fuß auf. »Du redest wirres Zeug. Wenn wir uns ergeben, werden wir alle enden wie Bragadin! Du hast wohl wieder zu tief in deine Fläschchen geschaut.«
Matti, dessen Kammer mit alten Büchern, Tierpräparaten, Gläsern und Fläschchen vollgestellt war, genoss den fragwürdigen Ruf eines Gelehrten, der mit dunklen Kräften in Verbindung steht. Selbst die Madonna in seinem Medaillon war schwarz wie Pech, und in die Kirche ging er nur, wenn er musste. Und auch seine Schwäche für Wein gab den Bewohnern der Zitadelle Nahrung für Misstrauen und Spott.
»Ich habe dich gehört«, erwiderte Matti. »Nicht mehr als eine Woche, dann öffnen wir alle Tore. Meine Maria wird ihre schützende Hand über uns halten, das weiß ich.« Matti holte sein Medaillon unter dem Hemd hervor und küsste es.
»So ungefähr könnte die Geschichte gehen, mit der ich die Vitrine mit dem Medaillon versehen würde. Was meint ihr?«
Mira schaut in die Runde, dabei schirmt sie ihre Augen mit der Mappe gegen das blendende Licht ab. Unter ihrem gehobenen Arm öffnet sich die Achselhöhle. Ivo schaut weg, erregt und beschämt zugleich. Während Mira redet, spielt sie mit einer Haarsträhne, die sie schließlich mit einer Spange in Form eines Molchs zähmt: gelbe Flecken auf dem schwarzen Emaille, grüne, glatt polierte Steinaugen. Diese Spange: Bei ihrem Anblick denkt Ivo an Szenen vom Jüngsten Gericht, solche, die sich immer in der unteren linken Ecke des Bildes abspielen, dort, wo es von durch zügellose Gelüste geknechteten Kreaturen nur so wimmelt. Von solchen wie uns.
Ivo kann sich gut an den Tag erinnern, als sich das unanständige Verlangen tief in seinem Fleisch eingenistet hat. Es ist drei Jahre her. Es war Sommer, eine dieser leeren Stunden am Montagnachmittag, wenn das Restaurant geschlossen ist. Vor allem im Sommer fühlt Ivo sich an solchen freien Nachmittagen immer apathisch, leer, gestaltlos. Oft gelingt es ihm, diese dumpfen Stunden durch eine verlängerte Mittagsruhe zu überbrücken, an diesem Tag aber ging er einfach in die Stadt hinunter, zu Fuß und ohne Eile. Auf der Brücke blieb er länger am Geländer stehen. Die Autos und die wenigen Passanten wirkten langsamer als sonst, wie verschlafen. Der Boulevard war fast leer, Ivo bog in den kleinen Park ein. Blaue Tannen, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. I
  5. II
  6. III
  7. IV
  8. V