Zimmer
Mein erstes eigenes Zimmer war so klein, dass mein Bett die Hälfte davon ausfüllte. Und doch war ich glücklich darüber, denn endlich durfte ich mit mir allein sein, unbelästigt von den jüngeren Geschwistern. Im Grunde brauchte ich nicht mehr als dieses Bett, das abends zu einer Höhle wurde, wo ich ausschweifend las. Über dem Bett war ein langes Regal mit meinen liebsten Büchern angebracht. Als der Großvater gestorben und die Tante ausgezogen war, konnte sich die sechsköpfige Familie etwas ausbreiten. Die älteste meiner Schwestern zog in das genannte Zimmer, und ich bekam ein neues, wesentlich größeres. Dass es im Keller lag und kein Tageslicht hatte, störte mich wenig, denn nun war ich fast autark, hatte sogar ein eigenes Badezimmer – es war die frühere Waschküche – und konnte nachts nach Hause kommen, ohne dass meine Eltern, die im ersten Stock schliefen, etwas bemerkten. Dass jedoch meine Mutter auf die Heimkehr ihres Sohnes lauschend gewartet hat, vermute ich heute deshalb, weil ich, als meine Tochter im selben Alter war und am Wochenende auf die Piste ging, ähnlich gelauscht und gewartet habe – meine Frau allerdings noch länger.
Mein Keller war gut ausgestattet, mit neuen Regalen und Schränken, mit einer blauen Schlafcouch, einem blauen Sessel, einem roten Couchtisch und einer Stehlampe. Der Fußboden war neu belegt, Decke und Wände waren frisch gestrichen. Mein Vater hatte das in die Hand genommen, nach meinen Wünschen gestaltet, die Handwerker beauftragt und die Rechnungen bezahlt. Jetzt, da ich mir dies vor Augen führe, spüre ich, wie sehr mich mein Vater geliebt hat – eine Tatsache, die ich viele Jahre nicht wahrhaben wollte und auch nicht konnte.
Am Ende war das Zimmer abermals eine Art Höhle, jetzt aber zu meinen gewachsenen Ansprüchen passend. So etwa besaß ich eine ziemlich potente Stereo-Anlage, wobei ich nicht mehr weiß, wie ich in ihren Besitz gekommen bin, ob mittels eigener Ersparnisse oder durch väterliche Zuwendungen. Auf ihr jedenfalls konnte ich die Stücke meiner bevorzugten Bands hören, und das waren nicht mehr die zarten Lieder von Françoise Hardy oder France Gall, sondern es war die Rockmusik von The Cream, Jimi Hendrix, Velvet Underground und vor allem von Pink Floyd. Deren Album Ummagumma habe ich eine Weile lang pausenlos gehört, bei voll aufgedrehtem Verstärker, denn eines war klar: Laut musste es sein. Auch hier erwies sich mein Kellerzimmer als Plus.
Überhaupt wurde damals der Keller, egal wo, zum bevorzugten Treffpunkt wilder Partys, auf denen die neuesten Hits lautstark und immer von Neuem gespielt wurden, während Tropfkerzen auf die bauchigen Weinflaschen herniedertropften, andere Flaschen zügig geleert wurden und in den dunkleren Ecken etwas stattfand, was damals mit dem neuen (inzwischen verschwundenen) Wort Petting bezeichnet wurde. An diesen Orgien – das Wort ist viel zu stark, wie ich wohl weiß, aber damals empfand ich es so – habe ich mangels Mut oder Dreistigkeit nie teilgenommen, was ich eine Weile als Niederlage empfand. Das Problem hat sich später rasch gelöst.
Die Schlafcouch in meinem Kellerzimmer wurde Schauplatz meiner ersten Begegnung mit meiner ersten Freundin und späteren Frau. Wir hatten das Treffen gut vorbereitet, wussten uns allein, waren beide noch jungfräulich und schickten uns an, miteinander zu schlafen. Es glückte, obwohl wir beide mächtig aufgeregt waren, und die Wendung »es glückte« ist wörtlich zu nehmen: Es war ein wirkliches, ein großes Glück.
Diese Szene war eigentlich die letzte bedeutungsvolle in diesem Zimmer, denn nicht lange danach habe ich mein Elternhaus verlassen. Einige Zeit davor jedoch gab es erotische Begegnungen mit einer Klassenkameradin meiner Schwester. Ich erteilte ihr Nachhilfe in Mathematik, und ich erinnere mich daran, wie wir nebeneinander auf der Couch saßen, wie ich ihr die Probleme zu erklären versuchte, wie mich ihr starkes Parfüm, ihre hübsche, von einem zarten Sommerkleid umhüllte Gestalt zutiefst verwirrten. Ich war außerstande, diesen Signalen zu folgen. Wenn ich sage, es seien erotische Begegnungen gewesen, so ist das rückblickend geurteilt. Infolge meiner Blödigkeit habe ich das nicht kapiert und erfuhr erst später, das Mädchen sei in mich verliebt gewesen. Es wird so schlimm nicht gewesen sein.
Das nächste Zimmer, das ich bezog, war in vieler Hinsicht das Gegenteil: Es lag hoch oben unter dem Dach des kleinen Einfamilienhauses in Pfrondorf, und erotische Begegnungen, welcher Qualität auch immer, hat es dort nicht gegeben. Im Gegenteil: dieses helle Zimmer, in dem ich mein Tübinger Semester verbrachte und von dem ich einen weiten Blick über die Dächer und Täler hatte, war ein Ort der Askese, einer allerdings freundlichen, denn meine Quartiersleute waren nette Menschen, die weiblichen Besuch, der jedoch nicht anstand, vermutlich geduldet hätten. Der Hausvater war ein Handwerker, der mir die ansprechend ausgeführten Umbauten seines Anwesens voller Stolz vorführte; und die Ehegattin, eine dralle, vitale und liebenswürdige Erscheinung, die drei kleine Kinder versorgte beziehungsweise stillte, war der Inbegriff dessen, was man seinerzeit noch unter Mutter verstand. Sie war die selbstbewusste Gebärerin, die Chefin des Haushalts und das emotionale Oberhaupt in einer Person.
Pfrondorf war damals in der Tat ein Dorf, hoch über dem Neckartal gelegen, und von dort fuhr ich jeden Tag mit dem Fahrrad zur Uni in Tübingen. Das waren etwa fünf Kilometer, also fast nichts, und doch erschien mir die Strecke als erheblich. Das galt zweifellos für die Heimfahrt, denn die Straße stieg, nachdem man den Talkessel durchquert hatte, rasch und steil an, und es bedurfte einer gewissen Ausdauer und Muskelkraft, sie durchzustehen. Vormittags jedoch, wenn ich mich erhoben, ein frugales Frühstück zu mir genommen hatte und endlich wach geworden war, erfrischte und berauschte mich die rasante Talfahrt hinab ins deutsche oder philosophische Seminar. Es war ein produktives Semester, obwohl ich in diesem heißen Sommer oft im Freibad lag und am Wochenende nicht selten in den prachtvollen Villen der studentischen Verbindungen zu Gast war, denen beizutreten ich dann doch nicht über mich brachte. An solchen Abenden wurde schrecklich gesoffen, und ich weiß nicht mehr, wie ich danach mit meinem Rad die Steigung bewältigt habe. Vermutlich habe ich es geschoben.
Nachdem ich mein Staatsexamen bestanden, meine Anstellung bei der FAZ erhalten, nachdem ich geheiratet und ein Haus in den Hügeln des Taunus bezogen hatte, nachdem schließlich meine erste Ehe (aus eigener Schuld) gescheitert und ich zunächst vorübergehend, dann endgültig ausgezogen war, befand ich mich plötzlich aufs Neue in einer studentischen Wohnsituation. Mein Freund und FAZ-Kollege Jürgen Busche war aus Liebesgründen nach Heidelberg umgezogen, und sein Zimmer in einer Art Wohngemeinschaft war frei geworden. Dort konnte ich einziehen, und ich fühlte mich in dem geräumigen, hellen Raum ziemlich bald wohl, wenngleich mich meine Flucht und mein Verrat noch lange bedrückten. Mieter der Altbauwohnung waren Rainer und Betty Kuhlen – er Informationswissenschaftler in Frankfurt, sie Anglistin in Freiburg. Wir schätzten einander und kamen bestens miteinander aus, vermutlich auch deshalb, weil wir nicht allzu oft zusammentrafen. Alle verfolgten wir die unterschiedlichen Karrierewege, die uns vorschwebten.
Die gemeinsamen Skat-Abende jedoch waren ein Fixpunkt. Die Runde bestand aus Hans-Jochim Noack von der Frankfurter Rundschau, Busche und Kuhlen sowie aus Michael Schwarze, meinem FAZ-Kollegen, und mir selbst. Von diesen fünf Freunden waren immer drei oder vier anwesend, so dass ein Skatspiel stattfinden konnte. Es bestand aus der kompletten Abfolge der Varianten, einschließlich Bock-Runden und Ramsch. Zwar spielten wir nur um Zehntel-Pfennige, doch leicht konnte es passieren, dass man am Ende zehn oder zwanzig Mark verloren hatte. Das war damals keine geringe Summe. Während des Spiels wurde mächtig geraucht, zügig getrunken, und obgleich es sich bloß um Bier handelte, entschied über den Ausgang nicht allein das Kartenglück, sondern auch die Trinkfestigkeit. Ich weiß noch, dass Schwarze deshalb ein paar Mal mächtig verloren und, da er immer pleite war, seine Spielschulden entweder spät oder gar nicht zurückgezahlt hat, was ihm den beißenden Spott von Busche eintrug. Schwarze (wir duzten uns alle, nannten uns aber, als wären wir noch in der Penne, beim Nachnamen) war ein hochbegabter Journalist, vor allem ein guter Film- und Fernsehkritiker. Ich mochte ihn, und sein früher Tod (er starb 1984 im Alter von 39 Jahren) hat mich sehr getroffen.
1977, als unsere Skatrunde fest etabliert war, kam der Hitler-Film von Joachim Fest und Christian Herrendoerfer in die Kinos. Fest, Herausgeber der FAZ, war von der zum Teil scharfen Kritik, die sein Film gefunden hatte, offenbar irritiert, und er fragte uns, die jüngeren Feuilleton-Redakteure, also Schwarze, Busche und mich, ob wir nicht Lust hätten, eine Diskussionsrunde zusammenzustellen. Er sei daran interessiert, die Ansichten jener Generation zu erfahren, die das Hitler-Regime nicht selbst erlebt hätte. Wir alle hatten den Film, dessen Neuigkeitswert vor allem darauf beruhte, dass er bislang unbekanntes Wochenschau-und Propagandamaterial der Nazis in ein Hitler-Porträt integrierte, selbstverständlich schon gesehen, untereinander diskutiert, und deshalb stieß Fests Wunsch auf unsere Zustimmung. Rasch herrschte auch Einigkeit darüber, dass die Debatte in Kuhlens Wohnung stattfinden sollte, denn...