Falsches Quartett
eBook - ePub

Falsches Quartett

Roman

  1. 278 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Falsches Quartett

Roman

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Die Schule als Spielwiese oder Schlachtfeld der Gefühle, wo das Leben Lehrern und Schülern zeigt, dass es Grenzen gibt, die man nicht unbeschädigt überschreitet. Martin R. Dean hat einen klaren Blick, gnadenlos und liebevoll zugleich, für seine Figuren, die darunter - und das ist seine große Kunst - zu Menschen werden. Er erzählt eine Geschichte, in der sich jeder am anderen festklammert, je mehr er sich verlorenzugehen droht.Lucas Brenner ist Deutschlehrer an einem Gymnasium in der Schweiz. Anders als in der Ehe mit Lisa begegnet er in der Schule den Enttäuschungen und der Routine des Alltags mit Leidenschaft - für die Literatur. Im Fall der klugen und rätselhaften und labilen Nadia, die dafür empfänglich ist, ist es vielleicht mehr als das? Zumindest hat Lisa einen Verdacht, sie ist aber zu sehr mit sich selbst beschäftigt, nachdem sie ihre Anstellung als Bildredakteurin bei einer Lokalzeitung verliert. Auch Deniz, ein aus Deutschland zugezogener Schüler mit türkischen Wurzeln, der an Schlafkrankheit leidet, fühlt sich zu Nadia hingezogen. Lisa erfindet sich indessen als Porträtfotografin neu und entfernt sich weiter von Lucas. Oder ist es umgekehrt? Als sie Deniz als Fotomodell engagiert, ist das falsche Quartett komplett: Der Reigen schließt sich.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Falsches Quartett von Martin R. Dean im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatur & Literatur Allgemein. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2014
ISBN
9783990271148

TEIL I

Lucas Brenners Gymnasium, so sagten einige, lag dem Himmel näher als der Hölle. Außerhalb der Stadt thronte der Bau verborgen hinter Linden, Eichen und Buchen auf einem Hügel. Im Winter leuchtete der knochenbleiche Sandstein zwischen den Stämmen hindurch, das Licht aus den Bibliotheksfenstern fiel auf den beschneiten Kiesplatz, an dessen Peripherie eine Gruppe alter Bäume in einen Wald überleiteten, der sich wie eine dunkle Zunge ins Tal erstreckte. An Sommertagen sah man in der Ferne die Solitude, die Ruine des klassizistischen Gebäudes inmitten des dichten, von einem Fluss geteilten Waldes. Die Solitude war eine Brache Land, ein Stück gefallener Himmel, wo die Schüler an den Wochenenden ihren Trieben freien Lauf ließen.
Der Eingang des Gymnasiums bestand aus einer massiven, noch aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden Holztür, deren zwei schwere Flügel abends vom freundlichen Zerberus Koni Wyss geschlossen wurden. Wer drin war, hatte es geschafft, ebenso, wer heil wieder herauskam.
Das Gymnasium zählte ungefähr tausendeinhundert strebende, irrende oder verlorene Seelen. Es galt als Hort der Besten in der Region und hielt mit seinem Elitebewusstsein nicht hinter dem Berg. Seit sich die Rahmenbedingungen im Bildungswesen verschlechterten, propagierte Rektor Lorenz Lichtsteiger eine antizyklische Haltung und bläute jeder Schülerin und jedem Schüler ein, sich als Teil einer gesellschaftlichen Elite zu begreifen: Das Gymnasium sei der beste Ort für den Erwerb einer soliden Bildung, die als Investition in die Zukunft zu verstehen sei. Rudi, der Witzigste im Lehrerkollegium, veränderte Lichtsteigers Satz vor der Kaffeemaschine dahingehend, dass das Gymnasium der beste Umschlagplatz für neueste und teuerste Designerdrogen sei. Ebenso gefragt sei es als Sammelplatz nächtlicher Besäufnisse, im Sommer ein Idyll für klebrige Stelldicheins, was die im Wäldchen herumliegenden und bis auf den Kiesplatz verstreuten Präservative beweisen würden.
Im Innern des Sandsteingebäudes verbanden lange, lichtlose Korridore die muffigen Schulzimmer, die seit einer Ewigkeit mit einem Bestand an unnützen Dingen wie verjährten Landkarten, vergilbten Filmpostern, deprimierenden Schülercollagen und ausgeblichenen Schaubildern aufwarteten. In den Klos waren die Pissoirschüsseln braun wie Zahnstein. Nichts davon ließ der Rektor, ein Anhänger alter englischer Eliteschulen, renovieren. Die Patina verstärke, so Lichtsteiger, die Aura alteingesessener Bildungstradition, und mit der Bildung sei es wie mit dem Wein, je älter desto besser.
image
Eine Klasse ist wie ein Raubtier. Die Zähmung der Bestie muss gleich in der ersten Stunde beginnen. – Lucas erinnerte sich an diesen drastischen Satz eines Kollegen, als er am ersten Montag nach den Sommerferien das Klassenzimmer betrat und in neunzehn neue Gesichter blickte. Du hast Heimvorteil, dachte er, sie sitzen zum ersten Mal auf diesen alten, knarrenden Stühlen und starren zum ersten Mal auf diese verwitterte Landschaft der Wandtafel. Sie sind neugierig und gleichzeitig eingeschüchtert, weil sich das warme »Du« der Unterstufe in ein kälteres »Sie« verwandelt hat.
Er stellte seine Mappe neben den Tisch, schob den Hellraumprojektor behutsam in eine Ecke, nestelte eine neue Kreide aus der weißen Kartonverpackung und ließ sich von den Blicken, die wie Stiche in seinem Rücken juckten, nicht beirren. In den letzten Ferientagen hatte er sich die Gesichter und Namen der neuen Klasse eingeprägt, aber erfahrungsgemäß würde es Wochen dauern, bis die Namen unverwechselbar mit den Gesichtern verschmolzen. Die eine Hand in der Hosentasche, begrüßte er die Klasse locker und freundlich, und ein Ausatmen ging durch die Reihen, blinzelnde Blicke, verhärmtes Getuschel, Scharren der Füße. Noch schaute jeder in eine andere Richtung, von Konzentration keine Spur.
Lucas verteilte eine Kopie des Grimmschen Märchens »Die kluge Else«.
Lesen Sie das Märchen und schreiben Sie sich den wichtigsten Satz heraus, sagte er ruhig.
Ein Mädchen senkte sofort seinen Kopf und biss heftig in seinen Stift. Ein Junge zückte das Smartphone, um schnell das Wichtigste über das Märchen zu googeln. Man würde ihm solche Dinge ausreden müssen. Ein Mädchen im Trainingsanzug namens Barbara – später würde sie auf »Babs« bestehen – stärkte sich vor der Aufgabe mit einem Schokoriegel. Nach einigen Minuten hatten alle ihre Köpfe über das Blatt gebeugt. Folgsamkeit war nicht das, worauf es Lucas ankam. Begabung ist Nonkonformität, so lautete sein Lieblingssatz eines großen Schriftstellers aus dem letzten Jahrhundert. Fiel ein Schüler durch Originalität auf, hatte er seine Sympathien. Doch nahm der Typus des Schülers, der wie ein Korken an der Oberfläche schwamm und jeder Versuchung zu mehr Eigenständigkeit widerstand, immer mehr zu.
Ein Junge, dessen pickeliges Gesicht eher in die Grundschule gepasst hätte, wollte seinen Satz vorlesen: »Wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß, und wir schicken das Kind in den Keller, dass es hier soll Bier zapfen, so fällt ihm die Kreuzhacke auf den Kopf und schlägt’s tot.«
Was finden Sie an diesem Satz interessant?
Lucas schaute dem Jungen beim Nachdenken zu. Ein guter Literatursatz, und schon schien der Mensch verwandelt. Darin lag das unergründliche Geheimnis der Literatur.
Fabian sagte: Finds echt krass, dass dem Kind die Kreuzhacke auf den Kopf fällt. Kann ja nichts dafür. Ist ungerecht.
Das war schon alles. Mehr als dieser Zipfel Erkenntnis war von Fabian im Moment nicht zu haben. Heute.
»Was tu ich? Schneid ich eh’r oder schlaf ich eh’r?«, meldete sich das dicke Mädchen zu Wort, das Barbara hieß. Sie begründete ihre Satzauswahl damit, dass ihr Elses Arbeitsverweigerung gefalle. Else habe einfach die Nase voll von dem ewigen Stress. Barbara spielte mit dem Schokoladenpapier. Dann schaute sie auf und sagte, auch die Schule sei das reinste Arbeitslager.
Was man denn der Else, falls man ihr begegnen würde, raten könne.
Uff, sagte Barbara und geriet ins Schwitzen.
Also, ich würde der einfach mal raten, nix zu tun. Dem Manne mal ins Gesicht zu lachen und sich von der Sonne bescheinen lassen.
Lucas lachte: Und was für Sätze haben die anderen gewählt?
Ein Mädchen, dessen Blick nur zögerlich hinter dem Vorhang langer schwarzer Haare durchdrang, meldete sich. Sie hob den Kopf wie aus tiefem Schlaf, schaute ihn an und gleichzeitig durch ihn hindurch. Etwas in ihrem Gesicht lächelte, er hätte nicht sagen können, was es war: die Augen, die Lippen, der Mund, die Stirn? Sie senkte den Kopf aufs Paper und las: »Endlich, als es schon ganz dunkel war, erwachte die kluge Else, und als sie aufstand, rappelte es um sie herum, und die Schellen klingelten bei jedem Schritt, den sie tat. Da erschrak sie, ward irre, ob sie auch wirklich die kluge Else wäre, und sprach: Bin ich’s, oder bin ich’s nicht?«
Das Mädchen, Nadia Breitenmoser, hatte die Sätze so vorgelesen, als wäre sie seit langem mit ihnen vertraut. Am besten, fügte sie an, gefällt mir der Satz »Bin ich’s oder bin ich’s nicht?«
Und warum?, fragte Lucas.
Die braucht nur zwei Sätze, um durchzudrehen.
Lucas merkte sich diese Schülerin. Genau deswegen unterrichtete er, damit aus dem toten Buchstaben eines Textes ein lebendiges Gebilde wurde! Diese Schülerin führte vor, welche Macht Geschichten über den Geist hatten; eine Folge von Wörtern konnte diese introvertierten und gelangweilten Wesen in wache Individuen verwandeln, die sich selber Fragen zu stellen imstande waren. Besonders Märchen, sagte er abends zu seiner Frau Lisa, sind wirkungsmächtige Texte.
Lucas bewegte sich nun entspannter im Klassenzimmer; aus der Bestie war ein vielköpfiges Wesen geworden, mit dem man sich anfreunden und das man zum Denken verführen konnte.
image
Als er in der nächsten Doppellektion eine Woche später den »Froschkönig« lesen wollte, stockte das Klassengespräch. Dabei hatte er recht konventionell den Anfang vorgetragen:
»In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien.«
Die Mienen blieben eingefroren, teilweise dumpf vor Ablehnung, wohl darüber, dass er noch einmal mit einem Märchen kam. Man wollte nicht nochmals mit diesem Kinderkram belästigt werden! Natürlich hatte Lucas mit diesem Widerstand gerechnet.
Er verwies auf die außergewöhnliche Schönheit der Prinzessin, ein Thema, mit dem sich die Mädchen, die an nichts mehr interessiert waren als an ihrem Spiegelbild, einfangen ließen. Aber diesmal gelang es nicht, die Aufmerksamkeit so zu fesseln, dass alle dabei blieben. Einer namens Frédéric zog sich einen massiven schwarzen Kopfhörer über die Ohren und klopfte mit flinken Fingern eine SMS ins Handy. Ihn jetzt mit einem Ordnungsruf zurückzuholen, war Lucas’ Sache nicht. Da hätte er die Verführungskraft des Denkens allzu billig preisgegeben! Diese Verführungskraft wollte er auch an den zerredeten, verstaubten und tausendmal totgesagten Märchen wieder freilegen. Also konfrontierte er die Klasse mit der Frage, welches das eigentliche Problem der Prinzessin sei. Stundenlang spiele sie allein mit einem goldenen Ball, ein siebzehn- bis achtzehnjähriges Mädchen, das, für damalige Zeiten, durchaus in einem heiratsfähigen Alter sei.
Stille.
Stille, Stille, Stille.
Stille hatte er aushalten gelernt. Zumindest in der Schule. Zuhause, wenn Lisa schwieg, drohte er daran zu ersticken.
Frédéric wackelte mit dem Kopf, und die anderen dachten nach. Oder dösten in sich hinein.
Was könnte der Ball bedeuten, mit dem sich die Prinzessin ihre einsamen Stunden versüßt?
Auch das Mädchen mit den langen Haaren, Nadia, war im Standbymodus. Ihre dunklen Augen blickten ihn reglos an. Mit einem leisen Flackern der Angst. Aber das bildete er sich wohl ein.
Der Ball ist golden, das heißt, er ist äußerst wertvoll. Erst der Frosch kann sie davon erlösen. Diesen Frosch muss sie am Ende des Märchens küssen. Wie nennt man denn jemanden, der in sich selber gefangen ist?
Zu schwierig die Frage?
Falco, der Junge mit dem Irokesenschnitt, hob zwar nicht die Hand, aber er schaute ihn fast flehend an.
Autist!, sagte er.
Narzissmus oder gar Autismus, so könnte die Diagnose lauten, sagte L...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. INHALT
  5. TEIL I
  6. TEIL II