Wir Erben
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Wir Erben

Roman

  1. 344 Seiten
  2. German
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Wir Erben

Roman

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Über dieses Buch

Zwei Frauen, zwei Familien aus zwei sehr verschiedenen Welten werden uns hier mit großer Sensibilität und Menschenkenntnis nahegebracht. Mariannes Leben ist vererbt. Sie übernimmt den Betrieb ihrer Großmutter, eine Baumschule, noch bevor diese stirbt und Marianne mit all dem zurücklässt, was hier, in dem großen Haus in der österreichischen Provinz, verwurzelt ist: eine weit verzweigte Familie, ihre Geschichten, ihre Vergangenheit, das, was kommt. Der Radius von Mariannes Leben ist klein, es besteht aus viel Alltag und viel Arbeit, und selbst die bestürzendsten Ereignisse geschehen mit der Selbstverständlichkeit, mit der die Jahreszeiten wechseln. Siri, die Freundin aus dem Land, das einmal die DDR war, fängt dagegen immer wieder neu an. Sie ist mit ihren Eltern in den Westen geflüchtet, Monate bevor die Mauer gefallen und die Welt auf einmal in allen Himmelsrichtungen unüberschaubar groß geworden ist. Aber wo ist darin ihr Platz, ein Anknüpfungspunkt für ihr Leben? Unsentimental im Ton, mit leuchtender Klarheit im Blick für die Details, poetisch und suggestiv in ihrer sprachlichen Präzision erzählt Angelika Reitzer diese Geschichte von zwei Frauen, deren Freundschaft zufällig scheint. Und doch erkennen sie einander in ihren Sehnsüchten, berühren sich in dem, was ihnen fehlt.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783990271155
Teil I

1. Wände

Mitten im Meer eine kleine Insel, von hohen Wellen umbrandet. Er und sie sind in dem Haus, das die Insel ausfüllt und in dem eine Matratze liegt, die so groß ist wie das Haus. Wellen schlagen gegen die Hausmauern, Felsen ragen aus dem Wasser, in die unverputzten Ziegelwände hinein. Vor der Abfahrt mussten sie genau angeben, was sie essen werden, Mahlzeit für Mahlzeit, und die genauen Mengen. Ihr gesamter Lebensmittelvorrat, der zum Teil aus fertigen Speisen bestand, war in zwei Kartons verpackt, für die Nacht und den darauffolgenden Tag. Die Mengen deuteten auf länger hin. Zwei Kartons, als gehörten sie nicht zusammen, als wären sie zwei zufällig miteinander Reisende. An Essen erinnert sich Marianne nicht, aber an die hohen Wellen, die gegen die Wände schlagen. Fest und sehr hart. Nur beim Verteidigungshaushalt heißt es plötzlich, das sei ein souveränes Recht des Staates. Das ist doch … Aber was hat das mit Krankenschwestern zu tun? Marianne fällt noch einmal in den Schlaf zurück und weiß, dass sie von der Hitze nur träumt. Sie liegt zwischen Decken und Polstern und unter Daunen, ihr Zimmer ist nicht geheizt. Was sie als Kind hasste, muss jetzt sein. Schlafwarm ist sie, aber der Schweiß rinnt nicht wie im Traum in Bächen an ihr hinunter. Sie greift sich zwischen die Brüste.
Es ist dunkel, Marianne erkennt die grünen Ziffern des Radioweckers, der in ihren Traum hineinrauscht, sodass er sich scheppernd davonmacht und entschwindet. Sie hört von einem iranischen CIA-Agenten, dass es sich um eine Hinrichtung handelt, bekommt sie nicht mit. Sie träumt meistens von – Aber wieso Rauschen? Und wer war der Mann in ihrem Bett auf dieser Insel? Marianne hört das Ticken ihrer Armbanduhr, die am Nachttisch liegt. Wie lange es her ist, dass sie einen sexuellen Traum hatte. Erst als sie diese Worte denkt, erinnert sie sich tatsächlich an das Geträumte. Das Rauschen aus dem Radio hat sich in ihrem Kopf festgesetzt, die Bewegung, die eine gemeinsame Bewegung ist, ein Stoßen vielleicht, könnte in eine Welle, die eine harte Welle ist, übergegangen sein. Ein Schlag eigentlich. Wie lange ist es her, dass sie mit Eric geschlafen hat? Sie zieht die Decke bis unters Kinn. Die dumpfen Schläge der Wellen, das betäubte Echo davon in ihrem Kopf. Wenn sie am Lautstärkeregler des Radioweckers dreht, kann sie das Rauschen zurückdrehen, aber es verschwindet nicht. Sie drückt den Knopf am Radio, sie schaltet die Nachttischlampe ein. Kurz knistert die Glühbirne, das Ticken der Uhr vergisst sie.
Draußen ist es dunkel, im Haus ist es still.
Bevor sie sich anzieht, sitzt sie ein paar Minuten auf dem Hocker im Badezimmer. Neben dem Wäschekorb liegt verschlungen eine Strumpfhose auf dem Fliesenboden, die ihre Mutter vergessen haben wird. Zwischen Mariannes Handtüchern hängt eines, knallgelb, das sie zur Schmutzwäsche gibt, auch die Strumpfhose lässt sie in den Wäschekorb fallen. Marianne geht ins andere Zimmer und stellt die Heizung ab. Die Bettwäsche liegt auf dem Fußboden, auf dem Sekretär stapeln sich Bücher, die in die Regale auf der Galerie gehören. Mariannes kleiner Fernsehapparat steht auf dem Nachtkästchen. Viel zu nahe, denkt sie, und dass das schädlich ist für die Augen. Sobald ihre Mutter Johanna das Elternhaus betritt, wird sie zum Kind, um das sich alle zu kümmern haben. Sie ist unersättlich, Marianne ist froh, dass sie abgereist ist. Sie ist froh und erleichtert, dass alle abgefahren sind. Wie meistens weiß sie nicht mehr, was sie vorhin im Radio gehört hat. Nach den Nachrichten Musik, ja, aber welche? Zuerst will sie Obstbäume veredeln, dann wird sie mit Lukas ins Einkaufszentrum fahren, um ihm Hosen und eine Winterjacke zu kaufen. Seine ist schäbig. Ihr Sohn wirkt so erwachsen, seit er studiert. Spätestens morgen ist auch er wieder weg.
Das Jahr ist vorüber.
Marianne genießt die Stille, die nicht in ein, zwei Stunden wieder vorbei ist, sondern den ganzen Tag anhalten wird. Wie immer, wenn sie alleine ist, geht Marianne die Treppe hinunter, ohne das große Licht anzumachen. Nur an einem der Bücherkästen auf der Galerie brennt Licht. In der Küche macht sie Handgriffe, die nur für sie bestimmt sind, die nicht in Dienstleistungen übergehen. Man hört den feinen Strahl des Wassers, dann das Glucksen der Kaffeemaschine.
Die Großmutter schläft noch. Zu Weihnachten hat sie ihre Töchter und die Enkelkinder in kleinen Gruppen wie in privater Audienz empfangen. Sie hat kaum ein Wort gesprochen, fotografieren ließ sie sich nicht. Als Marianne aus dem Haus tritt, ist es draußen heller als drinnen. Es ist nicht so kalt, wie es um die Jahreszeit sein sollte. Sie holt die Zeitungen aus dem Zeitungsfach in der Einfahrt, es sind die von vorgestern und heute. Sie schließt die schwere Haustür leise, geht vorsichtig zurück in die Küche. Eine Tasse Kaffee steht auf dem großen Esstisch, die Zuckerdose, ein Tetrapack Milch. Marianne schiebt den Stehkalender zur Seite. Auf solchen Kalendern hat die Großmutter immer alles notiert, Liefertermine, Telefonnummern, Bestellungen. Irgendwann hat Lukas darin Schulskikurse oder Elternsprechtage eingetragen. Jetzt steht da nichts. Mitte Januar wird Marek wiederkommen, und dann sind auch die Betriebsferien zu Ende, ist Mario wieder da und bald die ganze Mannschaft.
Ein schwaches Licht fällt auf die Zeitung in Mariannes Hand. Endlich keine Jahresrückblicke mehr und keine Rankings. Für Vorsätze, denkt Marianne, sind andere zuständig. Sie liest einen Artikel über eine Amerikanerin, die sich an alles erinnern kann, seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Wie sie, wenn sie sich langweilt, in ihrem geistigen Tagebuch blättert, das alle Ereignisse in der Erinnerung gleichwertig führt. Katastrophen spielen darin dieselbe Rolle wie Launen, Alltag, einzelne Mahlzeiten oder Mode. Und immer ist dabei die Mutter anwesend. In den vergangenen Jahren hatte Marianne die Selbstverständlichkeit, mit der die Großmutter das Weihnachtsfest und andere Familienfeiern in ihrem Haus inszenierte, ungefragt übernommen. Wenn sie sich an jeden Streit, an jede Auseinandersetzung in der Familie erinnern könnte, würde sie wohl schon lange niemanden mehr einladen. Wenn sich alle daran erinnern könnten, was sie je zueinander gesagt haben, dann wäre doch längst alles explodiert. Aber das war wahrscheinlich in allen Familien so.
Marianne richtet das Frühstück für die Großmutter: zwei Semmeln und eine Kanne Kräutertee. Der Tee muss ganz dünn sein, wird aber kräftig gezuckert. Die Großmutter hat immer Appetit aufs Leben gehabt und sich nicht abspeisen lassen. Die zwei Semmeln kann sie längst nicht mehr aufessen, es ist eine Erinnerung an eine Frau, die es nicht mehr gibt. Marianne stellt das Tablett auf die Kommode im Vorzimmer und verlässt das Haus.
Es ist immer noch fast dunkel. Im Gewächshaus macht sie Licht, sie schaltet das Radio ein und nimmt sich die erste Schachtel mit den Zweigen. Die Reiser zum Veredeln kommen mit der Post, Marianne sucht von den alten Obstbäumen, deren Sortennamen längst vergessen sind, die passenden Unterlagen dazu. Es gibt ein Mutterbeet mit Wurzelteilen, das vor zwölf Jahren gepflanzt wurde. Jedes Jahr werden sie heruntergeschnitten, mit Sägemehl und Erde angehäufelt, das fördert die Wurzelbildung. Im Dezember wird nur der gewachsene Teil mit den kleinen Wurzeln gerodet, die Mutterpflanze bleibt stehen. Im Frühjahr werden die Reihen abgeblasen, damit Licht dazukommt, dann kann sie wieder ausschlagen. Bis zu dreißig Jahre alt kann eine solche Mutterpflanze werden. Durch die Veredelung können Äpfel-, Birnen-, Zwetschken- und Kirschensorten auf Jahre erhalten werden. Außerdem bestimmt die Unterlage die Wuchsstärke, die Größe der Frucht und manchmal auch die Lagerfähigkeit. Marianne mag diese Arbeit, die viel Geschick erfordert. Sie schneidet die Edelreiser auf die entsprechende Länge, putzt die Unterlage mit einem Tuch sauber, dann macht sie mit einem Messer an der Veredelungsunterlage einen diagonalen Schnitt. Sie presst den Reiser und sein Gegenstück aufeinander, bindet sie mit Veredelungsgummi zusammen. Rebwachs auftragen und topfen, das geht so dahin. Ein paar hundert werden im Frühjahr ausgepflanzt. Langsam kommt das Licht, es ist nicht sehr kräftig, aber kräftiger als in den Wochen zuvor.
Als Marianne drei Stunden später ins Haus zurückkommt, steht Lukas’ Rucksack bereits im Stiegenhaus. Er will jetzt schon fahren, aber seine Mutter kann ihn überreden, bis zum Mittagessen zu bleiben. Einkaufen will er nicht. Er braucht keine neue Hose, er will keine neue Winterjacke, hätte stattdessen gerne einen von Mariannes Armeepullovern, die sie trägt, wenn sie draußen oder mit dem Lieferwagen unterwegs ist. Das Tablett steht wieder in der Küche. Lukas hat mit seiner Urgroßmutter gefrühstückt, eine große Schale Milchkaffee und die beiden Semmeln. Er hat die Urgroßmutter gefüttert, sie hat nicht protestiert, aber nach dem dritten Bissen wollte sie nicht mehr. Sie isst nur noch ganz wenig, ein Spatz ist sie wieder geworden. Nein, nicht wieder, seine Urgroßmutter ist nie ein Spatz gewesen, eher eine Krähe oder eine Drossel. Sie hat immer hart gearbeitet, sie hat viel geredet, und sie hatte immer einen kräftigen Appetit. Nachdem sie aufgehört hatte, im Betrieb mitzuarbeiten, wurde sie fett, bekam etwas Monströses in diesen Jahren. Nun ist ihr Leib geschrumpft, sie ist klein geworden. Von den Wangen hängt sehr weiche Haut. Wenn sie sich selbst anzieht, was seit einem halben Jahr nur mehr selten vorkommt, wählt sie Sachen, die sie vielleicht vor dreißig Jahren getragen hat, und auch davon ist das meiste zu groß. Aber sie sieht nicht verloren darin aus. An diesem Vormittag ist es, als könnte sie sich gar nicht mehr erinnern, wer bis gestern noch im Haus war. (Ihre Töchter Johanna, Margret und Gertraud; Gertrauds Tochter Alina mit dem neuen oder alten Freund; Margret mit ihrer ältesten Tochter Katharina und den Mädchen, die die alte Frau ignorierte, während sie, wie um Margret zu kränken, immer nur nach den Buben fragte, den Söhnen von Margrets zweiter Tochter Pia; und Isa natürlich, aber mit Isa hat die Großmutter wahrscheinlich seit Jahren kein Wort mehr gewechselt.) Sie hat den Überblick verloren, das war die Entschuldigung, die sie aus ihrem Alter gewann. Sie war aber auch davor sehr selektiv mit ihrer Zuneigung umgegangen.
Kurz vor eins gehen Marianne und Lukas essen, danach bringt sie ihn zum Zug. Sie fährt die längere Strecke zum größeren Bahnhof nach Neustadt, dann muss er nicht umsteigen. Ein, zwei Tage wird er in Wien bleiben, dann fährt er nach Hamburg, wegen eines Mädchens. »Ich habe mich von der Urli verabschiedet«, sagt Lukas, nachdem er seinen Rucksack von der Rückbank genommen hat. Marianne runzelt die Stirn, wundert sich, verabschiedet, natürlich, was denn sonst. Sie versteht erst, als sie ihn im Bahnhofsgebäude verschwinden sieht. Es ist Jahre her, dass er seine Urgroßmutter Urli genannt hat, das war sein Kinderwort, wie alle anderen nennt er sie seit langem bei ihrem Vornamen, Jutta. Marianne würde Lukas jetzt gerne noch einmal in den Arm nehmen.
Sie parkt das Auto in der Tiefgarage und treibt sich zwei Stunden im Einkaufszentrum herum, ohne etwas zu finden. Unterwäsche, hätte sie gedacht, dann kauft sie zwei Paar Jeans für ihren Sohn. Im Supermarkt nimmt sie wieder normale Mengen, zu zweit brauchen sie nicht so viel. Marianne fährt zum Postamt, verpackt die Hosen gleich im Schalterraum, legt ein paar Zeilen dazu und gibt das Paket auf. Am Heimweg schaut sie in der Blumenhandlung vorbei und kauft Brot in der Bäckerei. Inzwischen ist es wieder dunkel geworden.
Als Marianne aufsperren will, denkt sie an die Verkäuferinnen aus der Blumenhandlung, die Grüße ausgerichtet haben, und ruft noch in der Tür: »Grüße von Melanie und der anderen!« Da spürt sie die Stille. Das ganze Haus ist ruhig, es ist leiser und größer als sonst. Es ist ein großes Haus, und natürlich ist es stiller, seit Lukas in Wien studiert. Jetzt ist es riesig und ganz still. Sie kann kein Wort mehr sagen, sie kann nicht nach Jutta rufen, muss daran denken, dass sie das nie leiden konnte: Zur Tür herein und schreit, als wär sie auf der Börse. Sie hört auch kein Husten oder einen Sessel, der zur Seite gerückt wird. Kein Radio, keinen Fernseher. Das Haus ist es, das sich so ruhig verhält. Da schaltet sich der Anrufbeantworter ein, Marianne sieht das Blinken, das anzeigt, dass er eine Nachricht aufnimmt. Aber das Telefon hat nicht geläutet, sie hätte es gehört, als sie die Tür geöffnet hat. Es ist doch ganz still gewesen. Sie hört ihre Stimme, die ihren Namen sagt und, dass niemand erreichbar ist im Moment. Geht zum Telefon und nimmt den Hörer in die Hand. Niemand meldet sich. Auch Marianne sagt nichts. Als sie den Hörer wieder in seine Halterung steckt, piepst das Gerät, und das Intervall, in dem es rot blinkt, verändert sich. Jutta liegt auf ihrem Bett, sie trägt einen Pullover über dem Nachthemd und Hausschuhe, ihre linke Hand hängt über den Bettrand. Vielleicht hat sie gerade die Nachttischlampe ausgeschaltet.
Vorher.
Ab jetzt gibt es ein Vorher und Nachher, Marianne weiß es auf der Stelle. Jutta hat nie Hausschuhe im Bett getragen, nur Menschen in Filmen machten das. Wie oft hat sie sich beim Fernsehen darüber gewundert, immer ein wenig verächtlich gesagt: »Diese Amerikaner! Legen sich mit Schuhen aufs Bett.« Marianne rechnet damit, dass das Kostüm, in dem Jutta begraben werden will, auf dem Sofa liegt, aber da ist nur eine Wolldecke und das Bezirksblatt von vor zwei Wochen mit einem Weihnachtsbaum auf dem Titelblatt. Sie weiß es ja: das blaue mit der Stickerei. »Es wird mir zu groß sein, obwohl ich doch immer so schlank war. Aber du kannst es am Rücken mit Stecknadeln fixieren, wie bei einer Modepuppe.« Marianne greift nach der Hand der Großmutter und bettet sie in ihren Schoß, spürt die feine Haut über den Knochen. Als sie sich neben die alte Frau legt, die jetzt ganz klein ist, ist ihr, als sollte sie einen Gedanken fassen. Ja, ich bringe dich, wohin immer du willst. Als sie sich neben die alte Frau legt, ist ihr, als würde ihr die Tote Platz machen. Ein paar Gedanken, Jutta, ein paar Ideen, nein, eine, eine einzige. Sie spürt keine Verzweiflung, was sie spürt, ist die kleine Figur der Frau neben sich. Der dunkelgrüne Pullover hat eine Laufmasche, daran klammert sich Marianne jetzt: Heißt das offene Laufmasche, oder ist die Masche, wenn sie läuft, sowieso schon offen? Sie greift nach einem Faden. Es fühlt sich an, als würden Tränen aus ihr herausfließen. Das ist ihre Jutta, »Oma, du«. Marianne hält den kurzen Faden in der Hand und weiß, wenn sie daran zieht, löst sich der Körper der Großmutter auf, dann ist Jutta weg. Wäre das nicht ein perfekter Abgang? Weinen, denkt Marianne bei dem Wort Abgang, aber alles ist trocken. Kein Wasser weit und breit, in das der Wollfaden sinkt, ins weite Nass eines Styx, aus dem nur mehr der Haarschopf der Großmutter herausschaut. Sie ist mit einem Mal ganz lebendig, wie sie sich da bewegt unter Wasser, und wer zieht an diesem Haarschopf? Marianne kann das nicht, Marianne darf das nicht, die Großmutter hätte es niemals erlaubt. Weinen hätte sie erlaubt, die Hände falten hätte sie geduldet (auch wenn sie es nicht gebilligt hätte, so hätte sie sich dennoch damit abgefunden). Sitten. Aber obwohl es zur Großmutter gehört, fällt Marianne das nicht ein. Nur comme il faut, dabei kann Marianne kein Französisch. Sie spricht es aus, aber die Großmutter nickt nicht. Immer wieder sagt Marianne diesen Satz, der sie seltsam berührt, schmerzt, tröstet: »Comme il faut.« Jutta stimmt nicht zu, winkt nicht einmal ab. Von dem wenigen dünnen Haar, das die Großmutter wie immer, Tag und Nacht, eng am Schädel nach hinten gekämmt hat und das zu einem sehr kleinen Knoten zusammengebunden ist, stehen ein paar Strähnen weg. Schon lange sind die Haare nicht mehr wirklich grau, weiß waren sie nie, die meisten Strähnen sind gelblich.
Marianne gräbt in ihren Hosentaschen nach Geld für den Obolus und zieht eine Fünf-Cent-Münze und einen Euro aus ihrer Gesäßtasche. Sie will sich an die letzten Worte Juttas erinnern und an ihre eigenen. Sie will sich entschuldigen, dass sie ihren Beitrag nicht geleistet hat. Wie lange Jutta hier schon liegt? Die Kälte, die von diesem Gedanken ausgeht, lässt Marianne sich noch enger an die Großmutter schmiegen. »Comme il faut.« Jetzt hat sie es schon wieder gesagt. Vielleicht, weil ihr eingefallen ist, dass sie die kleinere Münze unter die Zunge der Großmutter hätte legen sollen, aber das wagt sie nicht. »Ich weiß, Jutta, ich weiß, ich bin zu spät gekommen.« Sie streichelt das weiche Gesicht der Großmutter. Die Haut an den Wangen fühlt sich an, als würde sie nachgeben, aber sie hört nicht auf, die Großmutter zu streicheln, vermeidet dabei, deren Haare zu berühren. Als könnte sie in dieses Gesicht hineingreifen, durch die Haut hindurch. Kein Widerstand mehr, keiner. Die Großmutter ist es selbst gewesen, die sich am Haarschopf genommen und hinübergetragen hat. Das sieht ihr ähnlich, alles macht sie selber, sie verlässt sich nicht auf ihre Nachkommen und auf die Götter schon gar nicht. Marianne streicht jetzt ihrer Großmutter das Haar noch glatter, drückt es an den kleinen Kopf. Sofort ist Mariannes Handfläche feucht oder eher schmierig. Sie steht auf und nimmt den kleinen schwarzen Kamm von der Kommode, um die tote Frau zu kämmen. Sie schämt sich ihres Ekels, Juttas Haare sind wie mit einer Fettschicht überzogen. Wann hat sie der Großmutter das letzte Mal die Haare gewaschen? In diesem Jahr bestimmt noch nicht, vielleicht war das vor Weihnachten, bevor die anderen eingetroffen sind. Es ist auch einige Tage her, dass sie sie auf ihrem Leibstuhl mit dem Waschlappen abgerieben hat. So sehr sie die Großmutter auch liebte, so sehr ekelt es sie vor den wenigen gelben Haaren. Im Kamm bleiben fingernagelgroße Schuppenblättchen hängen, die Marianne am Nachthemd der Großmutter abstreift.
Was dachte sie, als sie den Haarschopf endlich erwischt hat? So forsch sie noch konnte, wird sie zugegriffen haben, sich im letzten Augenblick nicht schonend, nun schon gar nicht mehr. Dachte sie an etwas, das nicht aufhören würde? Was für ein Moment kann das gewesen sein, ein Wimpernschlag oder eine Ewigkeit? Die Großmutter hatte für die meisten Gelegenheiten Formeln parat, sie hat sich ihr Leben zusammengeredet. Die Krankheit war eine Last, die man zu tragen hatte, das Leben etwas, das einmal zu Ende ist. »Niemand holt einen ab«, sagte sie vor ein paar Tagen. Und: »Wenn man unzufrieden ist mit seinem Leben, dann ist man zu alt.« Sie hat nie mit sich selbst geredet. Marianne hat sie nie flüstern oder vor sich hin murmeln gehört, das hätte etwas mit Schwäche zu tun gehabt, mit fehlender Selbstkontrolle.
Dass ein Organismus mit einem Mal nicht mehr ist, kann sich Marianne nicht vorstellen. Die Wurzeln eines Menschen liegen schließlich ganz innen oder außerhalb des Körpers. Juttas Hände sind nicht gefaltet. Gott sei Dank, denkt Marianne und muss laut auflachen. »Gott sei Dank! Das warst du wohl auch selber.« Sie lacht über die Hände der Toten, die tun, was Jutta will, die ihr immer noch gehorchen, diese fleißigen Hände, die ins Volle gegriffen haben, ein ganzes Leben. Hände, die den Schmutz nicht gescheut haben und nicht, ihre Kinder zu ohrfeigen, wenn sie sich um sie sorgte. Jutta hat ihre Hände immer aufgehalten, um den anderen zu geben. Sie verteilte Beeren, die sie noch gepflückt hatte, obwohl ihre Augen schon schlecht waren, an alle, die ihr über den Weg gelaufen sind. Eine Flasche Schnaps für den Arbeiter, den die Frau verlassen oder betrogen hat oder die ihm weggestorben ist, während er bei Jutta das Geld für den Hausbau verdiente. Wenn Marianne und Lukas verschwitzt nachhause kamen, weil sie so wild gespielt hatten, weil zuerst die Mutter, dann der Sohn den Weg von der Bushaltestelle gerannt war, als wäre jemand hinter ihnen her, hielt sie schon das Wasserglas für sie bereit. Wenn Marianne betrunken nachhause kam, schüttete ihr die Großmutter das Wasser ins Gesicht. Ohrfeigen gab es da keine mehr.
Es ist eine andere Stille jetzt, während es ganz dunkel geworden ist, auch im Zimmer. Als sich Marianne am Teppich vor dem Sofa wiederfindet, den Kamm in der einen, die Münzen in der anderen Hand, sieht sie nicht einmal mehr bis zum Boden, es ist stockfinster. Bettbank, Juttas Wort für das Sofa klingt jetzt wie der Abschluss einer Epoche. Ein letztes Mal hört Marianne die Großmutter aufseufzen, dann schließt sie die Augen, und die Münzen rollen über den Holzboden unters Bett.
Den Arzt, der den Tod der Großmutter feststellte, kannte sie nicht. Jutta, Marianne und Lukas fuhren, wenn sie zum Arzt mussten, in den Nachbarort zu einer Schulfreundin Mariannes aus der Volksschule, die noch nicht aus dem Weihnachtsurlaub zurück war, als Marianne sie anrief. Den Totenschein musste dann noch ein weiterer Arzt ausstellen, den Marianne auch noch nie gesehen hatte. Es war der zuständige Sprengelarzt, und Marianne hatte für einen Moment das Gefühl, es sei der Mann aus ihrem Traum von letzter Nacht. Er hatte rötliches Haar, ganz kleine Locken. Sie schätzte ihn nur ein wenig älter als Lukas, aber so jung konnte er nicht mehr sein. Vielleicht ließ ihn seine vermeintliche Hilflosigkeit jünger wirken. Die Männer von der Bestattung waren alle gutaussehend. Wie sie die Tote ankleideten, in den Sarg betteten, dabei immer wieder einen Satz an Marianne richteten, nahm ihr die Angst. Sie stöberte in Juttas Dokumenten nach Geburtsurkunde, Taufschein, Meldezettel. Geboren 1927. In Linz, das hatte Marianne nicht gewusst. Wo waren Juttas Eltern Titta, geborene Kasselau, und ihr Vater, der Unternehmer Harald Musil, all die Jahrzehnte gewesen? Jutta hatte nie den Eindruck gemacht, als hätte auch sie Eltern gehabt. Wo haben diese Musils gelebt? In Afrika? Die Großmutter hieß laut Taufschein Jolanda Titta, aber im Meldezettel von 1958 oder 1959, der fast ganz ausgebleicht war, stand Jutta Lex. Ihre Eltern waren noch im 19. Jahrhundert zur Welt gekommen, sie hatte nie von ihnen gesprochen. Jetzt hatte Marianne ein Gefühl, als würden die greisen und vielleicht sehr vornehmen Urgroßeltern irgendwo auf eine Verständigung warten, und sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Mehrmals promenierten sie in lachhaften Tropenanzügen durch Mariannes Träume. Erst in der Nacht, nachdem der Sarg im Krematorium nach unten gelassen und Jutta verbrannt worden war, verblassten diese Traumbilder.
Am schlimmsten, denkt Marianne immer und immer wieder, am schlimmsten ist doch, dass jetzt wieder alle zurückkommen müssen. Sie würde sich vor Jutta für diesen Gedanken schämen, weil er beweist, dass sie der Situation nicht gewachsen ist. Sie würde gerne noch ein paar Stunden allein sein, in dem Haus, das ihr jetzt ganz allein gehört, in dem sie nun ganz allein ist. Frau Schwaiger steht auf einmal in der Küche und will etwas für sie kochen. »Einen Tee wenigstens. Marianne, trink einen Tee.« Am Vormittag hat die Nachbarin, die sich seit dreißig Jahren um den Haushalt kümmert, alle Betten frisch überzogen. »Jaja, so ist das. Jetzt kommen alle Mädchen wieder nachhause!«
Sie räumen den Christbaum im Wintergarten ab, und Frau Schwaiger wickelt Kugeln und Sterne in das weiche, zerfledderte Papier. Marianne sitzt bei ihr, stellt ihr die Kartons hin und hört der Nachbarin zu. Wie Jutta, die im nächsten Jahr 85 geworden wäre, nach dem Tod ihres Mannes den Betrieb übernommen, großgemacht und dabei noch die Kinder aufgezogen habe. Dass man ihr die Liebe zu den Blumen nicht auf den ersten Blick angesehen habe, aber ihren Geschäftssinn sehr wohl. Wie sie, Frau Schwaiger, Jutta immer dafür bewundert habe, auch wenn diese streng war mit ihren Leuten, mit ihrer Familie. So habe sie doch alles immer geschafft, was sie sich vorgenommen habe. Alles. Frau Schwaiger würde Marianne gerne an ihren Busen drücken, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. Inhalt
  5. Teil I
  6. Teil II