Der Vogelgott
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Der Vogelgott

Roman

  1. 272 Seiten
  2. German
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Der Vogelgott

Roman

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Über dieses Buch

Hier hat eine große Erzählerin aus einer grimmigen Geschichte einen grandiosen Roman gemacht. Die Mitglieder einer wissenschaftlich orientierten Familie werden durch eine zufällige Entdeckung auf einem Kirchenbild in den schwer durchschaubaren Mythos eines Vogelgottes hineingezogen – mit einem Sog, dem sie so wenig widerstehen können wie der Leser dieser Geschichte. Spätestens als sich herausstellt, dass dieser Mythos eben nicht nur ein Mythos ist. Es ist eine sagenhafte, aber elende Gegend dieser Erde, wo die Verehrer des Vogelgotts leben, die ihm allerdings weniger ergeben als vielmehr ausgeliefert zu sein scheinen.In diesem unwiderstehlichen Roman entpuppt sich eine geheime Welt als die unsere, in der die Natur ihre Freundschaft aufkündigt und wir ihrer Aggression und Düsternis gegenüberstehen.Das ist nicht die übliche Jung und Jung Literatur, werden manche denken. Beim Lesen und vor allem Weiterlesen fragt man sich, warum man das Buch nicht aus der Hand legen kann, zumal hier nicht mit altertümlichen Spannungselementen gearbeitet wird.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783990271605

III
KINDERTRÄUME

Es hat eine Zeit gegeben, in der ich mir ein Leben ohne Marta nicht vorstellen konnte. Ich war verloren, wenn ich nicht mit ihr sprechen, sie betrachten und berühren konnte. Die Welt, in der ich mich zu behaupten versuchte, hielt nur Feindseligkeit und Kränkungen für mich bereit, die Gemeinschaft mit Marta aber war ein eigener Raum, ein Kosmos voller leuchtender Gefühle und Gedanken, die wie Sterne dem Urnebel unseres Glücks entsprangen. Als Philip, unser erstes Kind, kam, dehnte sich dieser Raum noch weiter aus. Er schien das Grabesdunkel unserer unbekannten Ahnen ebenso wie die blasse Ferne unserer namenlosen Nachfahren zu umfassen, die unser schönes Leben – konnte es einen Zweifel daran geben? – fortsetzen und vervielfältigen würden. Während der Geburt von Tom, unserem zweiten Sohn, wurde Marta plötzlich ohnmächtig, und die Angst, sie zu verlieren, überfiel mich mit solcher Heftigkeit, dass ich eine Art Schüttelfrost bekam und von einer Schwester aus dem Kreißsaal geführt werden musste. In dieser schlimmen Nacht, die ich allein in unserer engen, unaufgeräumten Wohnung verbrachte, schien es nichts anderes mehr zu geben als die trivialen Dinge, auf die mein Blick fiel, das schmutzige Laken, die stinkenden Windeln, die halb gelesene Zeitung auf dem Tisch, das stumpfe, unnachgiebige Jetzt, und ich erkannte, dass jene Macht, deren Wirken ich schon als Kind erfahren und gefürchtet hatte – das finstere Gegenteil unserer hellen Tage, unserer Zärtlichkeit und Zuversicht –, niemals ruhen würde und nicht zu besiegen war.
Als Tom nach langen Qualen endlich da war, winzig klein und kraftlos, mit Martas blauen Augen und einem Büschel dunklen Haars auf dem Kopf, weinte ich. Ein Vers aus einem Gebet meiner Kindheit fiel mir ein:
Alle Menschen groß und klein
sollen dir befohlen sein.
Zusammen mit meinen Geschwistern hatte ich es jahrelang vor dem Schlafengehen aufgesagt, bevor meine Mutter uns mit dem immer gleichen Wunsch: »Gesegnete Träume!« in die Nacht entließ. Meine gute Mutter hatte fest an die Macht von Gebeten geglaubt. Und auch mir wuchs in diesen freudigen Stunden, obwohl vage und undeutlich, wieder jenes kindliche Vertrauen zu. Die Unzerreißbarkeit der Kette, der Zusammenhalt der Welt, die Güte dessen, der sie in Händen hält, all das schien in dem Maße möglich zu sein, in dem ich die Kraft aufbrachte, mich nicht an meine dunklen Ängste zu verlieren. Dass der Tod mir meine Mutter genommen hatte, hatte mich gewappnet; dass er mir Marta nehmen und mein Glück vernichten konnte, war nicht zu leugnen; aber etwas viel Tieferes, Substantielleres, unsere Zusammengehörigkeit, könne mir niemand rauben. So redete ich mir zu. Erst viele Jahre später, als unsere Kinder schon erwachsen wurden, begann das alles erneut zu wanken und verlor seine Festigkeit.
Wenn es einen Anfang gab, muss es der Sommer gewesen sein, in dem ich Clara kennenlernte. Clara, die Strahlende, wie ich ihren Namen übersetzte, obwohl sie dunkel und unscheinbar wirkte; nur ihr Haar, der lange Zopf, den sie meist im Nacken zusammengerollt trug, war auffällig blond. Sie war groß, stattlich, bewegte sich langsam, wie zögernd, und ihre Handgriffe waren oft ungeschickt, als stünde sie neben sich. Doch sie bewahrte stets ihre aufrechte Haltung, und ihr langes Gesicht blieb ausdruckslos. Wenn man sie zurechtwies, antwortete sie unaufgeregt mit einer etwas rauen, krächzenden Stimme. Ich spürte eine seltsame Kraft in ihr, etwas Stilles und Unheimliches, was ihre Arbeit, ihre gewöhnlichen Lebensumstände nicht berührte. Ihre Augen sah ich nicht, da sie eine große altmodische Brille mit getönten Gläsern trug. Sie gehörte zu den sechs oder sieben Frauen, die in unserer Pension für die Bedienung der Gäste und die Besorgung der Zimmer zuständig waren. Vom ersten Augenblick an, als ich sie sah, fühlte ich mich zu ihr hingezogen.
Wir hatten uns in diesem Sommer für drei Wochen dort eingemietet, Marta und ich in einem großen Zimmer mit Seeblick, Philip und Tom in einem kleineren Zimmer daneben. Das Haus hatte einen albernen Namen (ich glaube, »Pension Abendrot«), es lag weit von der Straße entfernt direkt am Wasser, die Einrichtung war wohltuend schlicht, und es gab eine Terrasse mit bunten Lampions, wo man bei schönem Wetter essen und den Enten zusehen konnte, die ihren Kindern die Welt zeigten. Unsere Kinder ließen sich nichts mehr zeigen. Jedenfalls nicht von uns. Sie forderten mehr Spaß und mehr Geld, während wir ihnen die Schönheit der Landschaft, des stillen Sees, der grünen Hänge schmackhaft zu machen versuchten. Sie maulten herum und waren überhaupt unerträglich, sodass wir froh waren, als sie schließlich entdeckten, dass man mit einem Kleinbus in die nah gelegene Kreisstadt fahren konnten, wo es Geschäfte und ein Café mit Billard und Kicker gab.
Anfangs war es kühl und neblig. Tagsüber fuhren wir mit der Seilbahn auf einen Berg oder mit dem Auto durch die Gegend, später gab es Kaffee, dann lasen wir ein, zwei Stunden, und dann nahmen wir im Kreis angenehm leise redender Gäste das recht mittelmäßige Abendessen ein. Dazwischen die unvermeidlichen Auseinandersetzungen mit den Kindern. Wenn sie endlich im Bett lagen (es kann sein, dass sie nachts heimlich weggingen, doch dafür brachte ich bald kein Interesse mehr auf), begannen die »Gespräche«, die Marta als einen wesentlichen Teil ihrer freien Wochen betrachtete, in denen sie keinen Unterricht vorzubereiten und keine Hefte zu korrigieren hatte. Vielleicht hat es eine Zeit gegeben, in der mir diese Form des Austauschs ein Bedürfnis, ja eine Notwendigkeit gewesen war. Nun aber fühlte ich mich mehr und mehr wie der Zuhörer einer langweiligen Radiosendung. Ohne innere Beteiligung verfolgte ich, wie sie, Wollsocken an den Füßen, auf dem Bett sitzend, alle Probleme der letzten Monate hervorkramte und sie noch einmal des Langen und Breiten und mit Genuss durchkaute, meist unter Verwendung banaler Redensarten und Floskeln, und je weniger ich sagte, desto dringender forderte sie mich immer wieder auf, ihr endlich beizupflichten. »Und dann haben sie ihr das Konto gesperrt. Und weißt du warum? Sie kriegt einfach den Hals nicht voll! Gib zu, dass ich recht habe!« – »Wer so einen Mist baut, darf sich nachher nicht beklagen. Stimmt doch!« – »Dieser Typ ist ein Waschlappen! Das musst du doch sehen! Du wirst ihn doch nicht auch noch verteidigen?« Sie schnatterte, plapperte, lästerte mit unerschöpflicher Energie, und ich fragte mich mit wachsendem Entsetzen, wie ich dieses völlig inhaltsleere Gerede je hatte ertragen können. Ich hatte Lust, mir die Ohren zuzuhalten oder hinunterzugehen und auf der finsteren Terrasse Bier zu trinken und alles zu vergessen. Dadurch wäre es am nächsten Tag allerdings nur umso schlimmer geworden, weshalb ich sehr lange mit wahrhaft engelhafter Geduld alles über mich ergehen ließ. Bis es mir irgendwann doch zu viel wurde.
Nach der ersten Woche wurde das Wetter besser. Ich teilte Marta mit, dass ich vorhatte, etwas über die Pension und ihre Angestellten zu schreiben.
»Gerade jetzt, wo wir endlich baden gehen können, willst du anfangen zu arbeiten«, sagte sie. »Hatten wir nicht vereinbart, dass wir noch etwas mit den Kindern unternehmen? Wollten wir nicht alles, was mit Geldverdienen zu tun hat, auf nächsten Monat verschieben?«
»Es hat nichts mit Geldverdienen zu tun«, sagte ich.
Doch sie verzieh mir nicht, und den Rest der Zeit sprachen wir nur noch in gereiztem Ton miteinander. Mehrmals stritten wir uns nachts so laut, dass ich mich vor den Blicken der anderen Gästen beim Frühstück fürchtete. Aber das war es nicht, weshalb ich das Frühstück von nun an ausließ. Ich blieb auch bei herrlichstem Sonnenschein im Haus und drückte mich auf den Gängen herum, weil ich auf eine Begegnung mit Clara wartete.
Ihren Namen hatte ich von den zwei Zimmermädchen erfahren, mit denen ich sie oft zusammen sah, Ana und Veronica. Ich hatte mich ein paarmal mit ihnen unterhalten, hatte ihnen die üblichen Fragen gestellt, wie sie lebten, woher sie kämen, was sie mit ihrem Lohn anfingen, wenn sie nach der Saison in ihre elenden Dörfer irgendwo in Osteuropa zurückkehrten und so weiter, und hatte alles brav mitgeschrieben. Den Text hatte ich für die »Seite Drei« des Tagblatts konzipiert. Es war nicht das erste Mal, dass ich eine Reportage dieser Art schrieb; Matthisen, der Redakteur, wollte immer wieder »etwas mit sozialer Problematik« von mir. Aber ich merkte, dass ich mit dem Schreiben nicht zurande kam. Ich versuchte mehrmals, Clara allein zu sprechen, fing sie ab, wenn sie mit dem abgeräumten Frühstücksgeschirr von der Terrasse kam, stellte mich ihr in den Weg, wenn sie den Wäschewagen über die steile Rampe in den Keller schob. Aber irgendwie gelang es ihr immer, sich wegzudrehen und mir zu entziehen, und je unnahbarer sie sich gab, desto größer wurde ihre Anziehungskraft.
Marta blieb das natürlich nicht verborgen. Einmal lag sie heulend auf dem Bett. »Was ist in dich gefahren?«, sagte sie schluchzend, als ich mich neben sie setzte. »Seit wann interessierst du dich für dicke, hässliche Frauen in schmuddeligen Kittelschürzen? Was willst du von diesem abscheulichen Weib?«
In gewisser Weise hatte sie recht. Was wollte ich von Clara? Ich wusste nur, dass ich das, was ich hatte, nicht wollte. Die Bücher und Kleider und Zeitungen in unserem Zimmer stießen mich ab, die Wanderstöcke und Trockenobstpackungen, Martas Nachthemd, Martas Tampons, Martas Gefühlsausbrüche – alles, was mich an unsere gewohnte Welt erinnerte, stieß mich ab. Ich konnte es nicht in Worte fassen. Hilflos ging ich hinaus, zum See hinunter, wo ich mir eine einsame Stelle suchte und aufs Wasser starrte.
Schon des Öfteren hatte ich an die Tür geklopft, hinter der, wie ich wusste, Clara mit Ana und Veronica zusammen wohnte, aber erst am vorletzten Tag unseres Aufenthalts, nachdem ich Veronica etwas Geld zugesteckt hatte, wurde mir geöffnet. Es war eine winzige unordentliche Mansarde. An einer Wand stand ein Stockbett. Auf dem Tisch unter dem Fenster sah ich eine Nähmaschine, einen Haufen Stoffe, einen Laptop. An der Wand klebte das Foto eines jungen Mannes mit schwarzem, glattem Haar im Profil. Etwas ungeheuer Feindseliges ging von diesem Gesicht aus, das mich wie ein eisiger Luftzug traf. Es gab nur zwei Stühle. Einer wurde mir hingeschoben, auf dem anderen saß Clara. Ich sagte, dass ich sie gern befragen würde, für die Zeitung. Sie schüttelte den Kopf. Ana und Veronica begannen zu kichern. In ihrer Sprache redeten sie auf ihre verlegen dasitzende Freundin ein, drängten sie offenbar, halb scherzend, halb ernst, zu antworten. Clara schüttelte den Kopf.
»Sie hat Angst vor Ihnen«, sagte Ana kichernd.
»Sie liest auch aus der Hand«, sagte Veronica. »Aber das ist nicht billig.«
Unwillkürlich versteckte ich meine Hände hinter dem Rücken. Ich schämte mich für ihre Weichheit und Blässe. Um irgendetwas zu sagen, fragte ich nach dem Foto an der Wand.
»Ein Verwandter«, sagten sie ausweichend.
Die Atmosphäre veränderte sich plötzlich. Ich sah, dass die beiden Frauen, die hinter Clara standen, sie an der Schulter schüttelten, ihr mit den Fingerknöcheln in den Nacken stachen. Clara senkte den Kopf, nahm die Brille ab, rieb sich die Augen. Leise, nervös sagte sie etwas in ihrer Sprache.
»Was sagen Sie?«, fragte ich, nach vorn gebeugt.
Ich wollte ihr Gesicht sehen, aber sie hielt den Kopf gesenkt. Ihre Hände nestelten an einem losen Knopf. Plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich drehte den Kopf zur Decke – wandte mich dann wieder Clara zu und sah für einen kurzen Moment ihre Augen – schwarze Augen, die mich faszinierten, metallisch glänzende Spiegel.
»Sie müssen jetzt gehen«, sagte Ana in unvermittelt strengem Ton.
»Sofort«, bestätigte Veronica.
Ich löste mich aus der seltsamen Starre, die mich befallen hatte, stand auf und ging zur Tür.
»Sie hat den Teufel gesehen«, flüsterte mir Ana ins Ohr, bevor sie mich hinausschob. »Er war bei Ihnen, ganz nah. Sie sagt, Sie müssen aufpassen.«
In dieser Nacht erwachte ich von einem Geräusch, einem leisen Klopfen oder Picken gegen Glas. Ich hatte so fest geschlafen, dass ich nicht gleich wusste, wo ich war. Am offenen Fenster stehend, verflog meine Benommenheit nicht, sondern schien sich auf eigenartige Weise noch zu vertiefen. Der hinter ziehenden Wolken immer wieder aufscheinende Mond warf bleiches, unregelmäßiges Licht auf den rauschenden See. Oder kam dieses Rauschen von den dunklen Bergen her, die mit ihren gewaltigen Körpern unser winziges Haus umstanden? Nirgends sah ich Lichter oder sonst irgendein Zeichen menschlicher Anwesenheit, und es war mir plötzlich, als wäre ich in eine urzeitliche Landschaft versetzt worden, in der die noch von keinem menschlichen Auge erblickte und von keinem menschlichen Fuß entweihte Natur ihre grausame und erhabene Macht ausübte und Wesen, die nach anderen Gesetzen lebten und anderes für wirklich hielten als wir, einander auf geheimnisvolle Weise riefen und lockten. Ich hörte ein leises, dumpfes Krächzen zu meiner Linken, dann sah ich einen riesigen Vogel, der, in geringer Höhe über dem Boden schwebend, seinen Kopf mit dem starken Schnabel, den blitzenden Augen zu mir drehte. Nach einer Weile schraubte er sich mit raschem Flügelschlag in die Höhe und verschwand über dem jenseitigen Ufer des Sees. Am nächsten Morgen fand ich eine große weißliche Feder auf dem Fensterbrett. Bevor wir abreisten, zeigte ich sie einigen vogelkundigen Einheimischen. Sie stamme aus der Armschwinge eines Raubvogels, sagten sie. Aber solche Vögel seien schon seit Jahrzehnten nicht mehr in der Gegend heimisch.
Clara sah ich nur einmal wieder – Jahre später, als ich endlich begriff, worin unsere tiefe Verbundenheit bestand. In den Monaten, die unserer ersten Begegnung folgten, fand ich andere Frauen, auf die ich mich, immer nur für kurze Zeit, ein paar Stunden, eine Nacht, einließ, Frauen, die meine Sprache nicht beherrschten, von deren Gefühlen ich wenig erfuhr und denen ich nichts von mir erzählen musste. Ich lernte sie bei alltäglichen Gelegenheiten kennen, wenn ich, statt ein Konzert, eine Lesung zu besuchen, wo Marta auf mich wartete, »Recherchen« vorschützte und wahllos Bars und Kneipen in der Bahnhofsgegend aufsuchte, und folgte ihnen in dunkle, stickige Zimmer. Alles dort war mir unvertraut, der Körper neben mir und die Habseligkeiten, die ein fremdes Leben bezeugten, und das Eindringen in dieses fremde Leben erleichterte und belebte mich, als hätte mein eigenes Dasein dadurch ein wenig von seiner bedrückenden Enge verloren. Seit meiner frühesten Jugend hatte ich unter dem Gefühl gelitten, bei allem, was ich tat, etwas Wesentliches zu verpassen, nicht das zu erleben, was die anderen erlebten, was sie stark und erfahren machte, und mich dadurch unrettbar im Nachteil zu befinden. Jetzt erlebte ich etwas, was ich aus Büchern und Filmen kannte, ich betrog meine Frau, ich erhielt geheime Nachrichten, ich führte eine Art Doppelleben, das mit Überreizung und Übermüdung einherging und mich zum Lügen zwang. Doch bald war ich es leid zu lügen; die Wirkung der Eskapaden hielt nicht an. Letzten Endes brachte ich nicht genug Interesse für diese routinierten und verschlossenen Frauen auf, deren Blicke sagten, dass sie Bescheid wüssten, dass sie die Männer kannten, und nach kurzer körperlicher Befriedigung spürte ich wieder die Unrast, die seit unserem Aufenthalt am See in mir gärte. Ich erkannte, dass ich etwas anderes suchte, etwas, was mit Clara zusammenhing, mit jenem Ungreifbaren, Unheimlichen, das ich in ihrem Blick gesehen hatte.
Meine Reportage wurde nicht gedruckt. Ich schickte sie Matthisen am Ende dieses Sommers, nach unserer Rückkehr, mit einem freundlichen Begleitschreiben, auf das er nicht antwortete. Auch andere Redaktionen, an die ich den Text schickte, reagierten nicht. Seit ich nach der ersten großen Entlassungswelle beim Tagblatt freiberuflich arbeitete, war ich an lange Wartezeiten, Vertröstungen und Zurückweisungen gewöhnt, doch diesmal irritierte mich besonders Matthisens Schweigen, weil ich ihn in den letzten Jahren oft intensiver Zusammenarbeit als einen überaus verlässlichen Zeitungsmann schätzen gelernt hatte. In seiner Kartei der freien Mitarbeiter gehörte ich zu den gediegensten Namen. Er war fast ein Freund für mich geworden, auch wenn wir längst nicht mehr regelmäßig zusammen zu Mittag aßen. Ich wusste, dass er unter großem Druck stand und wahrscheinlich keine Zeit mehr hatte, sich eingehender um Leute zu kümmern, die potentiell jederzeit ersetzbar waren. Aber ich vertraute immer noch darauf, dass er die Qualität meiner Arbeit höher schätzte als die oberflächlichen und reißerischen Texte, die ihm von anderen geliefert wurden, auch wenn diese anderen schneller, wendiger, anpassungsfähiger sein mochten. Er musste zu dieser Zeit längst aus dem Urlaub zurück sein. Als er auf weitere Nachrichten von mir nicht antwortete, blieb mir nichts anderes übrig, als mir neue Projekte auszudenken, die ich ihm anbieten konnte.
Aber mir fiel nichts ein. Anders als sonst, wenn ich nach einem längeren Aufenthalt in der Natur wieder in die Stadt zurückkehrte, hatte ich nicht die geringste Lust, irgendeine Sache zu verfolgen, irgendeiner Geschichte auf den Grund zu gehen. Ich war zerstreut, ungeduldig, auf unklare, ziellose Weise tatendurstig; ich telefonierte viel, schrieb Nachrichten an Bekannte, die ich lange aus den Augen verloren hatte und die mir nachts plötzlich einfielen, und wartete darauf, dass sie mir antworteten oder dass von irgendwoher etwas auftauchte, was mit einem Schlag alles regeln und klären würde. Ich saß stundenlang am Bildschirm, ohne dass irgendetwas meine Neugier, oder wenigstens echte Aufmerksamkeit geweckt hätte; nichts öffnete mein wie versiegeltes Inneres. Die Schule hatte wieder angefangen, Marta und die Kinder hatten mit sich selbst zu tun, ich war oft bis spätnachmittags allein in dem stillen Haus, das wir uns dank einer Geldspritze von Martas Eltern vor einigen Jahren hatten kaufen können. Wenn ich aus dem Fenster meines Arbeitszimmers sah, fielen mir die mageren Bäume auf, deren Blätter dieses Jahr schon im August gelb geworden waren. Die ganze Welt lag abgenutzt und entkräftet unter einem trüben Himmel. So reibungslos der Verkehr funktionierte, so betriebsam sich alles gab, so überdeutlich schien mir die große Ermattung zu sein, die sich unter der Oberfläche verbarg. Hinfällig, gebückt wie Greise, kleinmütig wie Verurteilte trotteten die Leute die Straßen entlang oder saßen wie abgestumpfte Jahrmarktbesucher in ihren Autos. Wie sehr schien sich jeder darum zu bemühen, auf seiner Bahn zu bleiben, die Augen nicht zu weit zu öffnen, den Kopf nicht zu weit nach rechts oder links zu wenden, um nichts Beunruhigendes zu sehen. Oder waren das nur meine eigenen Empfindungen, die ich auf die Welt übertrug? Das Licht hatte sich verändert, war stumpf und fahl geworden; tagelang verbarg sich die Sonne hinter einem milchig-grauen Schleier. Etwas schien mit der Stadt geschehen zu sein, in der ich lebte, sie war anders, weniger gesund, weniger intakt, als ich sie in Erinnerung hatte. Ein g...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. INHALT
  5. PROLOG
  6. I IM LAND DER AZA
  7. II DIE MADONNA MIT DER WALDERDBEERE
  8. III KINDERTRÄUME