Menschenzucht
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Frühe Ideen und Strategien 1500-1870

  1. 416 Seiten
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Frühe Ideen und Strategien 1500-1870

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Über dieses Buch

Der Mensch nach Maß - Bevölkerungspolitik und Proto-Eugenik in der Frühen Neuzeit.Nicht erst seit der Moderne wünscht man sich den optimal leistungsfähigen Menschen. Utopien der Menschenzucht sind vielleicht so alt wie die menschliche Zivilisation selbst.Bereits in der Renaissance und ausgerechnet während der Aufklärung gewannen Fragen der Bevölkerungspolitik in Europa und den jungen USA an Relevanz. Nicht nur Ökonomen, Politiker und Mediziner entwarfen Szenarien und suchten nach Wegen zur Produktion perfekter »Untertanen«. Auch Literaten, Journalisten, Philosophen, Sexualaufklärer, Theologen, religiöse Utopisten und erste Frauenrechtlerinnen forderten staatliche Regulation und Kontrolle über die menschliche Reproduktion. Dieses vorher religiös bestimmte Thema sollte sich nun allein am Staatswohl und nicht am Recht des Individuums orientieren.Maren Lorenz untersucht Utopien und Konzepte der Menschenzucht im Alten Reich, Großbritannien, Frankreich und den USA. Sie betrachtet wissenschaftliche, religiöse und politische Diskurse ebenso wie Literatur, Zeitschriften und Sexual- und Eheratgeber. Die Vielzahl der Beispiele zeigt, wie sich die Grenzen des öffentlich Sagbaren und sozial Machbaren immer weiter verschoben, bis sich Ende des 19. Jahrhunderts die Eugenik als eigene Wissenschaft etablierte.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783835343023

1 Menschenbild und Bevölkerungspolitik in der Frühen Neuzeit

Der Mensch als Träumer – Züchtungsutopien vor 1700

Auch und gerade für die späteren (Gedanken-)Experimente gilt: die Renaissance leitete in Europa einen Umbruch in allen Denk- und Lebensbereichen ein, der nie wieder unumkehrbar sein wird und in seiner langfristigen Wirkmacht und Durchschlagskraft gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die dramatischen Entwicklungen und revolutionären Forderungen der Aufklärung waren gar nicht vorstellbar, ohne die gewagten und angesichts der kirchlichen Sanktionen bis hin zur Todesstrafe durchaus für den Einzelnen extrem mutigen und riskanten Experimente in Kunst und Wissenschaft. Indem sich in ganz Europa immer mehr Menschen von religiösen Denkverboten lösten, nach technischen Neuerungen in Kunst, Architektur, Musik und Ästhetik suchten, antike Vorbilder wiederentdeckten und neu zu betrachten und lesen lernten, überschritten sie jene Grenzen, die ein theozentrisches Weltbild seit der Spätantike zementiert und durch blutige Ketzerverfolgungen jahrhundertelang martialisch zu bewachen versucht hatte.
Künstler und Wissenschaftler der Renaissance erweiterten ihr Blickfeld, rückten die Bedingungen der menschlichen Existenz im Diesseits in den Mittelpunkt. Auch wenn für die meisten von ihnen tatsächlich der christliche Glaube an das Jenseits und die Wiederauferstehung weiterhin die normative Richtschnur gebildet haben dürften, weil die Natur selbst ja den klarsten Beweis für Gottes Existenz darstellte, akzeptierten sie nicht länger das Verbot der Beschäftigung mit der Gegenwart und den allzu irdischen Problemen menschlicher Gemeinschaften.
Doch diese als Humanismus bezeichnete neue Geisteshaltung sollte nicht einseitig als harmonisches Fest der Ästhetik, als Aufbruch des schönen, guten und lebensbejahenden Menschen gefeiert werden. Die Künstler und Denker der Renaissance beobachteten Vorgänge in der Natur zunehmend ohne religiöse Scheuklappen, zählten, klassifizierten und berechneten, fertigten mittels wiederentdeckter und neu entwickelter mathematischer, geometrischer, chemischer und physikalischer Gesetze detailgetreue Studien an, zogen und begründeten logische Schlüsse. Wie in der Antike wurden wieder Leichen seziert, nun aber das unter der Haut Gesehene in Bild und Text akribisch dokumentiert. (Menschliche) Nacktheit wurde ebenso zunächst als Naturtatsache akzeptiert wie menschliche Leidenschaften, die man verstehen wollte, ohne das Menschliche vorab als sündig zu dämonisieren.
Sämtliche Tabus in Bezug auf Leben und Tod wurden hinterfragt. Die Machbarkeit wurde zum Primat des Denkens und Tuns. Es galt nicht mehr der begrenzte Spielraum der Passfähigkeit in die Welt der katholischen Normen und Denkverbote. So wurde z. B. auch die rasante Weiterentwicklung der Waffentechnik und Militärstrategien nie infrage gestellt, sondern – nicht zuletzt durch gezielte Förderung machtpolitisch ambitionierter Herrscher – mit Leidenschaft und Akribie vorangetrieben. Doch selbst die akademische Beschäftigung mit der Optimierung der Kriegsführung nährte sich durchaus aus dem Bedürfnis nach friedlicheren Verhältnissen und dementsprechend prosperierenden Staaten.
So verfasste der ehemalige, weil von den Medici aus der Stadt verbannte, Florentiner Verwaltungschef Niccolò Machiavelli (1469-1527) seine berühmte und Maßstäbe setzende Kunst des Krieges (um 1520) aus seiner Erfahrung als Florentiner Beamter heraus. Er hatte angesichts der als unzuverlässig, undiszipliniert und grausam verschrienen Söldnermilizen eine aus der Bewohnerschaft der Republik Florenz selbst zu rekrutierende Landmiliz geschaffen. Sie wurde nach bestimmten Kriterien strukturiert und zusammengesetzt, zuverlässig finanziert, Soldaten und Offiziere mit gewissen Privilegien ausgestattet, um so einerseits die Disziplin innerhalb der Truppe zu verbessern und dadurch hohe Akzeptanz in der Bevölkerung zu generieren und gleichzeitig zur Kriegsvermeidung Abschreckung nach außen zu erzielen. Machiavelli vergaß schon aus eigener Erfahrung dabei nicht die Gefahr, die von starker Waffengewalt ausgehen kann, wenn die Befehlsgewalt im eigenen Herrschaftsbereich in die ›falschen‹ Hände gerät. Insgesamt befassten sich alle seine im Exil verfassten politisch-philosophischen Werke mit dem systemimmanent fragilen Verhältnis von Macht, Krieg, Herrschaft, Gerechtigkeit und der Verfasstheit von Gesellschaften.[1] Seine Definition von »Staatsräson«, dem Primat der Interessen eines als Einheit axiomatisch definierten Staates, wird für die folgenden Ausführungen noch eine zentrale Rolle spielen, denn die Frage der Bevölkerungsgröße sowie deren ›Qualität‹ wurden von ihm mit berücksichtigt.[2] Der Untertan wurde ganz offiziell, was er ja de facto in der Ständegesellschaft immer war, zum Machtmittel des Herrschers, v. a., wenn auch nicht nur, in militärischer Hinsicht. Die Ursprünge der neuen »Kriegskunst«, zu der auch die Erneuerung höfisch-militärischer Tugenden der Körper- und emotionalen Beherrschung gehörte, wie Ritterlichkeit, Fechtkunst und der Tanz, waren also ebenso Teil der humanistischen Denkrevolution, wie die globalen und lokalen Entdeckungen und die Experimente im Bereich der Heilkunst.
Zu dieser Suche nach der besten Gesellschaftsform gehörten insbesondere die europaweit sprießenden Entwürfe utilitaristischer Staatsutopien, für die nicht zuletzt auch Machiavelli stand, der oft als menschenverachtender Zyniker missverstanden wird. Die theologisch und juristisch umfassend akademisch gebildeten Autoren in Renaissance und Barock fanden durchaus widersprüchliche Legitimationen für ihre gewagten Ideen zu ganz verschiedenen Lebensbereichen, doch alle bezogen sich noch immer auf die Schriften Platons und anderer griechischer Philosophen sowie auf das kriegs- und staatspolitische Erbe des so lange mächtigen und erfolgreichen Römischen Reiches.[3]
Auch der ehemalige Jesuit Giovanni Botero (1544-1617), der den Begriff der Staatsräson mit seiner Schrift Delle Ragion die Stato (1589) erst prägte, war sowohl von diesen Traditionen, aber auch den Schriften Machiavellis geprägt. Er war der Erste, der die Malthusianische These (1798) von der Begrenztheit der Ressourcen bei zu starkem Bevölkerungswachstum vorwegnahm und dafür Venezianische Gesandtenberichte zu seiner statistischen Grundlage machte. Er stellte dabei aber keine proto-eugenischen, sondern wirtschaftliche Überlegungen an, um eine genau zu berechnende maximale Kinderzahl gut ernähren und aufziehen, d. h. entsprechend bilden, zu können.[4]
Auch wenn das biblische Paradies, der vom Kirchenvater Augustinus (354-430) um 420 herum entworfene Gottesstaat, oder mittelalterliche Varianten eines himmlischen idealen Jerusalems oder auch die vernunftgeleitete Herrschaft der Frauen, wie von Christine de Pisan – als wohl erstes feministisches Manifest um 1405 beschrieben – als frühe Utopien einer perfekten Welt gelten können, beschritt Thomas Morus (1478-1535) mit seinem Roman Utopia (1516) ganz neue Wege. Wie schon den anderen vor ihm und noch vielen nach ihm, ging es ihm um Gerechtigkeit und das Beste für eine kollektive »Allgemeinheit«.[5] Das Allgemeinwohl schloss allerdings eben nicht immer wirklich alle ein. Denn auch bei Morus blieben Sklaverei z. B. zum Schlachten der Tiere und zur Verhinderung der Verrohung der Bürger ebenso zulässig und unvermeidlich, wie die selbstverständliche Unterordnung der Frauen unter männliche Vormundschaft. Mit seinem Wortspiel des »Nicht-Orts« und gleichzeitig »Schönen Ortes« als Namen für seinen perfekten Staat und dessen detailliert beschriebene Regeln und Strukturen, wollte der zeitlebens gläubige Katholik bewusst einen konkreten Gegenentwurf zu einer extrem kritisch betrachteten Gegenwart vorstellen und öffentlich bewerben. Morus’ Stimme ragte mit seinen Überlegungen zur Abschaffung des Privateigentums und der Ständegesellschaft und damit deren Mechanismen der sozialen Diskriminierung für Jahrhunderte selbst aus dem vielstimmigen Chor der utopischen Entwürfe heraus. Keiner der frühneuzeitlichen Gesellschaftsentwürfe, auch nicht jener der französischen Revolutionäre, dachte ernsthaft an eine Abschaffung, sondern maximal an eine Restrukturierung der ständischen Gliederung. Ein jedes florierendes Staatswesen setzte eine auch rechtlich differenzierte Bevölkerungsstruktur voraus.[6] Doch Morus’ Forderungen nach gerechter Herrschaft und gerechter Verteilung der Ressourcen, der Reformation des Rechtsystems, seine Entlarvung der vorgeschobenen und der wahren Gründe für (Expansions-)Kriege etc. lösten nicht nur eine Welle utopischer Literatur aus, sondern auch eine Debatte darüber, wer denn mit dem Interesse des »Gemeinwohls« wohl gemeint sei und wessen Interessen und Bedürfnisse hier zurückzutreten hätten.
Das bei so viel Idylle und Wohlstand drohende Problem der Überbevölkerung wurde in den verschiedenen Utopien ganz unterschiedlich gelöst. Während Platon gezielt die Fortpflanzung begrenzen wollte, nutzte Morus, neben der obrigkeitlich gesteuerten Gattenwahl, den Trick der Verlagerung nach Außen, in eine als Black Box unbeschriebene Welt des Jenseits, hier jenseits des Meeres. Auf dem nächstgelegenen Festland sollten Utopianer in selbstverständlich unbesiedelten, aber fruchtbaren Bereichen Kolonien anlegen. Auch diese Idee war bereits in der Antike bekannt. Doch genau beim Aspekt der Bevölkerungspolitik wurde auch seine Utopie widersprüchlich und geriet an ihre normativen Grenzen; denn es hieß zu den dort durchaus vermuteten Ureinwohnern:[7]
»Diejenigen aber, die sich weigern, nach ihren Gesetzen zu leben, vertreiben sie [die Utopianer] aus diesen Gebieten, die sie sich selbst aneignen. Gegen Widerstrebende wenden sie Waffengewalt an. Denn sie halten es für einen gerechtfertigten Kriegsgrund, wenn irgendein Volk Boden selbst nicht nutzt, sondern gleichsam ohne Sinn und Zweck leer lässt, dennoch anderen, die nach dem Naturrecht daraus ihre Nahrung holen müssten, die Nutzung und den Besitz untersagt.«[8]
Die Kolonien fungierten auch als menschlicher Vorratsspeicher, falls »Unfälle« oder Seuchen im Mutterland die Bevölkerung zu stark dezimierten. Umgekehrt sollte Bevölkerungsmangel durch patriarchale Umverteilung der Fortpflanzungsfähigen und genau berechnete Stadtgrößen von 6000 Einwohnern vermieden werden. Morus konzipierte Familiengrößen mit mindestens zehn und maximal sechzehn Erwachsenen. Grundlage des Staates waren im Stile einer klassischen patriarchalen Stammesstruktur durch gezielte Ausheiraten aller Frauen miteinander verwobene Familienverbände unter Führung eines männlichen Oberhauptes. Weder für Frauen noch für Männer gab es individuelle Rechte, nur Pflichten gegenüber dem Verband und dem Staat. Überschuss und Mangel an unterschiedlichen Orten würden schlicht durch Selektion und Umsiedelung behördlicherseits gesteuert.
Auch im Umgang mit Schwerstkranken tauchten utilitaristische Aspekte auf, die den katholischen Glaubensnormen der Caritas des Autors massiv widersprachen: So sollten unheilbar Kranke und schwer Leidende, die »den Aufgaben des Lebens nicht (mehr) gewachsen, anderen zur Last und sich selber unerträglich« geworden seien, ausschließlich freiwillig, allerdings auf aktive priesterliche Empfehlung hin, in würdiger Form sterben dürfen. Entweder sollten die Betroffenen ausnahmsweise Suizid begehen, zum Beispiel durch Nahrungsverweigerung oder sie sollten auf ihre Bitte hin »eingeschläfert« werden. Dazu sollten »sacerdotes ac magistratus« (Priester und die Behörden) die Erlaubnis erteilen. Dem Willen des Kranken soll hier unverhohlen nachgeholfen werden, indem man ihm kirchlicher- und amtlicherseits mitteilte, er habe »sein eigenes Leben bereits überlebt«.[9] Die vorher betonte Freiwilligkeit wird hier massiv konterkariert.Der Medizinhistoriker Udo Benzenhöfer sieht, wie schon bei Platon, auch diese Passagen kritisch und ordnet die Utopia insgesamt nicht als Idealentwurf, sondern als gezielt ironisch-sarkastische rein literarische »Posse« ein, die sich auch bei dieser Thematik konkreter literarischer Vorbilder bediente, ohne dass er letztlich jedoch die tatsächliche Motivation Morus’ ergründen konnte.[10]
Von den vielen späteren Entwürfen der Frühen Neuzeit, die von Platons Grundideen inspiriert, strahlende glückliche Gesellschaften entwarfen, seien hier stellvertretend jene zwei Zeitgenossen genannt, auf die sich später neben Morus auch die meisten Epigonen beziehen: der englische Philosoph und Politiker Francis Bacon (1561-1626) und der Dominikanermönch Tommaso Campanella (1568-1639).[11] Es ist bemerkenswert, mit welcher Verve ein italienischer katholischer Mönch, der wegen seiner umstürzlerischen Pläne über Monate von der Spanischen Inquisition massiv gefoltert worden war und seinen Sonnenstaat im Gefängnis schrieb und ein englischer Jurist, der erst mit 45 Jahren ein 14-jähriges Mädchen heiratete, kinderlos starb und über dessen Homosexualität bereits zu Lebzeiten offen spekuliert wurde, die Kontrolle und Steuerung des heterosexuellen Geschlechtsverkehrs in den Mittelpunkt ihrer jeweiligen Gesellschaftskonzepte stellten.
Bei Campanella entschieden vier weise Männer über alles: an der Spitze eines Triumvirats mit Ministerien für »Macht«, »Weisheit« und »Liebe« stand eine Art Papst.
Das Liebesministerium sorgte für das Qualitätsmanagement bei der Fortpflanzung, aber auch im Medizin- und Ernährungsbereich, bei Ackerbau und Viehzucht, ganz im Stile der Medizinalpolizei der Spätaufklärung. Hier blieb bis hin zu Haartracht und Kleidung nichts mehr dem Zufall überlassen, denn »Selbstsucht« wurde als Kern allen Übels betrachtet. Die Verbesserung der »Menschenrasse« war das explizite Zuchtziel, weshalb auch die Neugeborenen in behördlichen Anstalten aufgezogen werden sollten und Männern vor dem 21., Frauen vor dem 19. Lebensjahr kein Geschlechtsverkehr gestattet würde. In Ausnahmefällen, mithin nach Antrag bei der Behörde, dürften junge Männer, um »unnatürliche« Praktiken, etwa Sodomie, auf die bei Wiederholung die Todesstrafe stand, zu verhindern, allerdings »Unfruchtbare« und »Schwangere« beschlafen. Insgesamt spielte allerdings die Samenökonomie, das perfekte Intervall von Enthaltsamkeit und Entladung, insbesondere für den Zuchterfolg der Männer eine zentrale Rolle. Auch sonst gab es bis in das Intimste hinein keine individuelle Entscheidungsfreiheit, alles wurde bis ins Detail präzise vorausgeplant und organisiert. Voraussetzung für ehelichen Beischlaf waren Reinigung durch ein Bad, erfolgter Stuhlgang und Abendgebet, und als Frequenz galt maximal jede dritte Nacht, darum waren getrennte Schlafzimmer vorgesehen. Jünglinge bereiteten die Betten vor, eine »Oberaufseherin« führte ins Beischlafzimmer (in der deutschen Übersetzung »Zelle« genannt), wo Säulen schöner nackter Männerkörper dafür sorgen sollten, dass die potentiellen Mütter im Moment der Empfängnis nur perfekte Maße vor sich sähen. Die antike Imaginationstheorie lieferte hierzu den Hintergrund. Der ideale Beischlafzeitpunkt würde, wie in der gesamten Vormoderne üblich, von Ärzten und Astrologen vorausberechnet. Große und schöne Frauen dürfen nur mit ebensolchen Männern gepaart, »fette« Frauen mit »mageren« Männern verheiratet werden. Umgekehrt wurden schlanke Frauen für ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Statt eines Vorwortes. Die Optimierung des Menschen – Historischer Traum und Alptraum
  6. 1 Menschenbild und Bevölkerungspolitik in der Frühen Neuzeit
  7. 2 Der Staatskörper als Volkskörper – Das Alte Reich und die Sattelzeit
  8. 3 Die Medikalisierung der Gesellschaft – La grande nation malade
  9. 4 Provokanter Pragmatismus in Großbritannien
  10. 5 Neue Menschen für die Neue Welt (USA)
  11. 6 Die Pflicht zur Selbstverpflichtung. Fortpflanzungsoptimierung in Ehe- und Sexualratgebern
  12. 7 Schlussbemerkung – Die Perfektionierung des Menschen. Von der Utopie zum Projekt
  13. Anmerkungen
  14. Abbildungen
  15. Bibliographie
  16. Personenindex