»Gedenke zu leben! Wage es, glücklich zu sein!"
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»Gedenke zu leben! Wage es, glücklich zu sein!"

oder Goethe und das Glück

  1. 120 Seiten
  2. German
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»Gedenke zu leben! Wage es, glücklich zu sein!"

oder Goethe und das Glück

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Goethes Strategien, sich sein Glück zu erarbeiten - gerade in verzweifelten Zeiten.»Jeder Trost ist niederträchtig / Und Verzweiflung nur ist Pflicht" heißt es in einem Versentwurf zum »Faust". Goethe selbst aber hat sich gegen Unglück und Verzweiflung zur Wehr gesetzt und im »Wilhelm Meister" dagegengehalten: »Gedenke zu leben! Wage es, glücklich zu sein!"Manfred Osten zeigt, wie Goethe sich zwischen diesen beiden extremen Polen bewegt hat, und wie er für sich Strategien und Wege fand, glücklich zu sein. Wer glücklich sein will, muss sich das erarbeiten, muss an sich arbeiten. Goethe nannte dies das »Übungsglück" der Mäßigung.Gleichzeitig beschreibt Osten, wie hellsichtig Goethe seine Zeit und die aufkommende Industrialisierung mit der sie begleitenden Beschleunigung allen Wirkens und Handelns als dem Glück entgegenstehend verstanden hat: »So wenig nun die Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheueren Elemente …" Geschrieben hat Goethe das 1825, aber es wird hier eine Brücke zu uns ins 21. Jahrhundert geschlagen, in dem sich scheinbar alles Glück und jedes Leben optimieren läßt.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783835340930

1. Kapitel
Das Glück der Aufmerksamkeit

In Wilhelm Meisters Lehrjahre findet sich der Hinweis, dass das Glück »die Göttin der lebendigen Menschen« sei (I, 10). Um ihre Gunst zu gewinnen und zu empfinden, müsse man leben und Menschen sehen, »die sich recht lebendig bemühen und recht sinnlich genießen«. Beim (in der Einleitung erwähnten) Fortunatus des Augsburger Volksbuchs kann allerdings von einem recht lebendigen Bemühen nicht die Rede sein. Begegnet er uns doch dort als ein Jüngling aus Zypern, der sich elend verlaufen hat, auf einer Waldlichtung in Thüringen. Und eben dort erscheint ihm die Jungfrau des Glücks!
Goethe, der in Thüringen seine zweite Heimat gefunden hatte, hielt allerdings nichts vom leichtsinnigen Glauben, es genüge, sich zur rechten Stunde im richtigen Wald zu verirren, um dort die Schätze des Glücks zu heben. Die Jungfrau, der Fortunatus begegnet, hatte hiervon sechs im Angebot. Sie waren ihr durch eine »Einfließung des Himmels« verliehen: Weisheit, Stärke, Gesundheit, Schönheit, langes Leben und Reichtum. Fortunatus entscheidet sich für den Reichtum. Eine Entscheidung, deren Folgen Goethe 1825 festhält im Zeichen zusätzlicher Angebote der neuen »Glücksjungfrau«: der industriellen Revolution. Ihre drei neuen Angebote hat Goethe am 6. Juni 1825 in einem Brief an Zelter beim Namen genannt: »Reichtum und Schnelligkeit« sowie »alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation«. Es sind Angebote, denen, wie er Zelter schreibt, die gesamte »gebildete Welt« verfallen sei, um »in der Mittelmäßigkeit zu verharren«. Eine »Mittelmäßigkeit«, deren weitere Entwicklung dann Grillparzer skizziert hat. Grillparzer, dem Goethe erschienen war »halb wie ein Vater« und »halb wie ein König«. Im Gedicht Die Kronenwächter hat er diesen weiteren Gang der »Mittelmäßigkeit« beschrieben. Sie gehe »von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität«.
Auch das Profil des Fortunatus-Jünglings dieser neuen Welt der »Mittelmäßigkeit« kennt Goethe bereits (November 1825 in einem zurückgehaltenen Briefkonzept an seinen Großneffen, den Juristen Nicolovius in Berlin):
Es begegnet mir von Zeit zu Zeit ein Jüngling an dem ich nichts verändert noch gebessert wünschte; nur macht mir bange, daß ich manchen vollkommen geeignet sehe im Zeitstrom mit fortzuschwimmen, und hier ist’s, wo ich immerfort aufmerksam machen möchte: daß dem Menschen in seinem zerbrechlichen Kahn eben deshalb das Ruder in die Hand gegeben ist, damit er nicht der Willkür der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht Folge leiste.
Wie soll nun aber ein junger Mann für sich selbst dahin gelangen, dasjenige für tadelnswert und schädlich anzusehen, was jedermann treibt, billigt, fordert; warum soll er sich nicht und sein Naturell auch dahin gehen lassen? […]
So wenig nun die Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist. Wohl ihm, wenn er von der Natur mit einem mäßigen ruhigen Sinn begabt ist.
Goethe hat sie früh erkannt, die »ungeheuren Elemente« und Folgen der Fortunatus-Entscheidung für den Reichtum. Und er hat bewusst gegen diese Entscheidung des Zeitgeistes empfohlen, sich dennoch »recht lebendig« zu bemühen, um die Gunst der wahren Glücks-Göttin. Da aber ein recht »lebendiges« Bemühen gemeint ist, kann offensichtlich das Glück nur übend gewonnen werden. Goethe hat dieses Übungs-Glück jedenfalls gerühmt als das verlässlichste Bollwerk gegen alle Verdüsterungen des Lebens bis ins hohe Alter. Was damit konkret gemeint ist, das findet sich in Wilhelm Meisters Wanderjahren (I, 6). Dort lautet es kurz und bündig: »Aufmerksamkeit ist das Leben!« Und da es das Leben ist, muss die Aufmerksamkeit denn auch ein Leben lang geübt werden. Goethe lädt ein zu diesen Übungen – mit der Aussicht auf große Belohnung: »denn das ist eben die Eigenschaft der wahren Aufmerksamkeit, daß sie im Augenblick das Nichts zu Allem macht« (Wanderjahre I, 2). Ein Verwandlungsglück also. Und ein Glück, das auch heute noch jedem zugänglich ist.
Es ist allerdings ein Glücksgeheimnis, dessen Beherzigung inzwischen schwieriger geworden ist aufgrund einer fundamentalen Perversion des Aufmerksamkeitssystems durch die Medien und deren Prioritäten-Setzung. Denn »schreiben wir es auf die Seite Eins, belohnen wir das Verbrechen. Das Wertvollste, das wir haben, sind unsere Aufmerksamkeit und unsere Empathie. Beides dürfen wir nicht ausgerechnet für die größten Gemeinheiten verausgaben« (Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage). Ein Aufmerksamkeitsproblem, das bereits im 19. Jahrhundert Friedrich Nietzsche bemerkt, wenn er mit Blick auf Richard Wagner festhält: »In seiner Kunst ist auf die verführerischste Art gemischt, was heute alle Welt am nötigsten hat – die drei großen Stimulantia der Erschöpften: das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische).« (Der Fall Wagner, 1888)
Erst recht aber ist es Faust, dem Aufmerksamkeitsübungen fremd sind, da er die Geduld verflucht. Von der Verführung Gretchens bis zur Ermordung von Philemon und Baucis zieht sich die Schleifspur seiner »Verbrechen« der Un-Aufmerksamkeit. Ganz im Gegensatz zu Lynkeus, dem Türmer (im Schlussakt der Faust-Tragödie). Er hat die Organe des Aufmerkens entwickelt zu achtsamen, »glücklichen Augen«, weil er geübt hat, lange und konzentriert aufzumerken: in die Ferne und in die Nähe. Mit dem Ergebnis eines glücklichen Welt- und Selbstverständnisses. Er sieht in allem die »ewige Zier« und das darin gründende Glück der Selbsterfahrung: »Ich blick in die Ferne, / Ich seh in der Näh, / […] / So seh ich in allen / Die ewige Zier / Und wie mir’s gefallen, / Gefall ich auch mir.« (Faust II, 5. Akt, Tiefe Nacht)
Das vielleicht prägnanteste Beispiel für das Glück der Achtsamkeitsübungen sind Goethes eigene Versuche in der Kunst des Zeichnens. Es ist jene Übungswelt der Aufmerksamkeit, für die Goethe sogar gefordert hat: »Wir sollten weniger sprechen und mehr zeichnen« (Gespräch mit dem Schriftsteller und Erzieher Johann Daniel Falk am 14.6.1809). Immerhin circa 1.800 Beispiele intensiven Aufmerkens auf die nächsten Dinge hat er hinterlassen. Es sind Handzeichnungen, die Goethe gefertigt hat nach dem Grundsatz seines Vaters: Zeichnen müsse jedermann lernen. Und er hat es gelernt mit dem Fazit: »Es [das Zeichnen] entwickelt und nötigt zur Aufmerksamkeit und das ist ja doch die höchste aller Fertigkeiten und Tugenden.« (Gespräch mit Friedrich von Müller am 30.11.1816)
Und wenn Goethe gegenüber Eckermann gesteht, er sei nur in Italien zur Höhe der Glücksempfindung gelangt, so ist dieses Glück nicht zuletzt dem Zeichnen und der hierdurch gesteigerten Aufmerksamkeit geschuldet. Einer Aufmerksamkeit, die ihre Gegenstände überall findet mit Glücksempfindungen, die Goethe für Charlotte von Stein festgehalten hat: »Du weißt, was die Gegenwart der Dinge zu mir spricht, und ich bin den ganzen Tag in einem Gespräch mit den Dingen« (Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein, 1786, 3. Stück). Und er wird nicht müde, sie aufzuzählen: »Paläste und Ruinen, Gärten und Wildnis, Fernen und Engen, Häuschen, Ställe, Triumphbögen und Säulen«. Alle, auch die geringsten Dinge, nennt er beim Namen: Pflanzen, Zweige und Blätter, sogar »Hüte, Mützen und Federn«. Sie alle gehören zum Kompendium einer Schule der Aufmerksamkeit, die es erlaubt, »alle Dinge wie sie sind zu sehen und abzulesen«. Und dies alles, um »im Stillen höchstglücklich« zu sein (Italienische Reise, Rom 10.11.1786). Was damit gemeint ist, lässt sich schließlich an zwei Zeilen ermessen. Sie seien stellvertretend für viele genannt als poetisches Resultat dieser Schule der Aufmerksamkeit, die zum Nacheifern einlädt: »Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer. / Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken.« (Nausikaa-Fragment)
Aber die bereits erwähnte Glücksgöttin verlangt – wie gesagt – nicht nur, das Glück der Aufmerksamkeit zu üben. Es muss gleichzeitig auch das Glück geübt werden, »recht sinnlich genießen« zu können. Das gilt auch für das Glück des Genießens der Aufmerksamkeit beim Zeichnen. Goethe hat dies im genannten Gespräch mit J. D. Falk enthusiastisch geschildert: »Die Seele musiziert, indem sie zeichnet, ein Stück von ihrem innersten Wesen heraus.«
Ein Glück des Genießens, das Goethe generell im West-östlichen Divan fordert: »Nun in allen Lebensreihen / Müsset ihr genießen können« (Buch des Sängers). Es genügt also nicht nur das konzentrierte Aufmerken auf den Gegenstand. Es muss noch etwas hinzukommen: das Genießen des Augenblicks der Aufmerksamkeit. Eine offensichtlich schwierige Glücksübung, die Goethe 1810 gegenüber Zelter – nicht ohne Resignation – erläutert: »Die Menschen begreifen niemals, dass schöne Stunden […] im Fluge genossen werden müssen.«
Wie aber lassen sie sich »im Fluge genießen«? Welche geistig-seelische Disposition ist die richtige Voraussetzung, um genießen zu können? Sicherlich nicht der Blick auf Versäumtes. Goethe blickt in eine ganz andere Richtung. Er deutet sie an in einem Gedicht mit langem Titel: Antworten bei einem gesellschaftlichen Fragespiel. Was er dort beim Namen nennt, ist die Formel für das, was er als »das größte Glück des Lebens« bezeichnet: ein »guter leichter Sinn«. Es überrascht daher auch nicht, dass Goethe diese Formel als »Lebensregel« bezeichnet. Und indem er 1814 diesen Begriff als Titel eines Gedichts wählt, gelingt ihm hierbei so etwas wie eine Phänomenologie des »größten Glücks des Lebens«. Und zwar im Zeichen eines Genießens schöner Stunden »im Fluge«. Hier die Übungsfelder, über die man zum Superlativ des Lebensglücks gelangen kann (aus der Zeitschrift »Chaos«):
 
Lebensregel
 
Willst Du Dir ein gut Leben zimmern,
Mußt um’s Vergangne Dich nicht bekümmern,
Und wäre Dir auch was verloren,
Erweise Dich wie neu geboren;
Was jeder Tag will? sollst Du fragen,
Was jeder Tag will wird er sagen!
Mußt Dich an eignem Tun ergötzen,
Was Andre tun, das wirst Du schätzen;
Besonders keinen Menschen hassen,
Und das Übrige Gott überlassen.
      Zum 25ten Oktober 1828

2. Kapitel
Das amoralische Glück

Unter den »Lebensregeln« des »guten leichten Sinns« findet sich die Aufforderung: »Erweise dich wie neugeboren«. Eine Lebensregel, die auf jene Göttin hinweist, von der Goethe bekannt hat, sie sei die einzige Göttin, die er anbete: die Gegenwart. Sie ist für Goethe tief verschwistert mit dem Glück, sich immer wieder als »neugeboren« zu empfinden: durch Aufmerksamkeit und Genießen. Es ist allerdings eine Göttin, mit der sich das Leben nur dann genießen lässt, wenn man sie zugleich erkennt als das Zentrum, in dem sich Herkunft und Zukunft verschränken: »Ich rief im stillen mir das Vergangene zurück, um, nach meiner Art, daran das Gegenwärtige zu prüfen und das Künftige daraus zu schließen, oder doch wenigstens zu ahnen« (1804, Tag- und Jahreshefte). Der Blick allein auf das Vergangene genügt jedenfalls nicht. Oder wie Goethe es mit Blick auf die Romantiker formuliert hat: »Allein, wer bloß mit dem Vergangenen sich beschäftigt, kommt zuletzt in Gefahr, das Entschlafene, für uns Mumienhafte, vertrocknet an sein Herz zu schließen.« (Schriften zur Literatur, Klassiker und Romantiker in Italien)
Ja, Goethe hat sogar die Behauptung gewagt, dass es zum Glück einer geistigen Neugeburt gehört, sich vom Vergangenen loszusagen. Faust jedenfalls praktiziert dies mit Erfolg zu Beginn des zweiten Teils der Tragödie. Eine Verweigerung gegenüber dem Vergangenen, die freilich kontrastiert zur im Nachkriegsdeutschland geforderten Notwendigkeit der »Vergangenheitsbewältigung«. Goethes Held leistet jedenfalls dort genau das nicht, was moralisch von ihm erwartet wird: die »Trauerarbeit«. An die Stelle der Schuldeinsicht als Bedingung der moralischen Würde des Menschen tritt bei ihm das »amoralische« Glück einer »Neugeburt«, die Goethe selbst als »hohe Gottesgnade« der menschlichen Natur empfunden hat: die Gewissensentlastung durch Vergessen.
Faust erfährt dieses Glück in Gestalt eines hypnotischen Heilschlafs. In Anmutiger Gegend, im »Tau aus Lethes Flut« (Faust II, 1. Akt ) verschwindet die Schleifspur seiner Verbrechen der Vergangenheit. Ein Glück des Vergessens, das Goethe auch für sich selbst in Anspruch genommen hat mit der Begründung, »daß mit jedem Atemzug ein ätherischer Lethestrom unser ganzes Wesen durchdringt, so daß wir uns der Freuden nur mäßig, der Leiden kaum erinnern. Diese hohe Gottesgabe habe ich von jeher zu schätzen, zu nützen und zu steigern gewußt.« (Brief an Zelter vom 15.2.1830)
Der »ätherische Lethestrom« des Vergessens also sogar als »Gottesgabe«. Eine »Gottesgabe«, die allerdings nur dem Glück verheißt, der den Aphorismus beherzigt: »Wir alle leben vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zugrunde.« (Maximen und Reflexionen, 94)
Wenn Goethe hier ein Zuviel an Vergangenheit ablehnt, so gilt dies bei ihm auch für jedes Zuviel an Zukunft. Ja, er hat dieses Zuviel an Zukunft offensichtlich empfunden als das unglückliche Bewusstsein der Moderne überhaupt. Es kündigt sich an im Schlussakt der Faust-Tragödie in der bereits in der Einleitung erwähnten Gestalt der »Sorge«. Bedeutete doch die industrielle Revolution eine extreme Neuorientierung des Bewusstseins in Richtung einer von Wachstums- und Fortschrittssorgen gespeisten Zukunft. Womit auch die Sorge bereits wirkmächtig werden konnte als Zentralbegriff moderner Kapitalrentabilität: »The Return on Investment«.
Die Sorge als die Unglücks-Furie, die den Menschen mit Blindheit schlägt und ihm das Glück der Gegenwart verweigert. Hier im Schlussakt der Faust-Tragödie vollendet sie ihr Werk. Sie lässt auch Faust erblinden. Und sie nennt gleichzeitig die Unglücks-Wahrheit der Moderne beim Namen: »Die Menschen sind im ganzen Leben blind, / Nun Fauste! werde dus am Ende.« (Faust II, 5. Akt, Mitternacht) – Sie tut dies mit der Regieanweisung »Sie haucht ihn an«. Und sie tut dies, indem sie jetzt Fausts eigene Selbstcharakteristik einlöst. Hatte er doch – in Wald und Höhle – einst sich selbst verstanden als »Wassersturz«, der »begierig wütend« dem »Abgrund« zubraust. Die Sorge schildert ihm nun diesen »Abgrund« mit Worten von hoher Aktualität. Denn sie stehen in grellem Kontrast zum Glück des »guten leichten Sinns«. Hier die Worte der »Sorge«: »Wen ich einmal mir besitze / Dem ist alle Welt nichts nütze, / Ewiges Düstre steigt herunter, / Sonne geht nicht auf noch unter, / Bei vollkommnen äußern Sinnen / Wohnen Finsternisse drinnen. / Und er weiß von allen Schätzen / Sich nicht in Besitz zu setzen. / Glück und Unglück wird zur Grille, / Er verhungert in der Fülle, / Sei es Wonne sei es Plage / Schiebt ers zu dem andern Tage, / Ist der Zukunft nur gewärtig / Und so wird er niemals fertig.« (Faust II, 5. Akt, Mitternacht)
Es war Goethes Bewunderer Nietzsch...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Einleitung
  5. 1. Kapitel. Das Glück der Aufmerksamkeit
  6. 2. Kapitel. Das amoralische Glück
  7. 3. Kapitel. Das Glück des Gesprächs
  8. 4. Kapitel. »Vernünftige, glückliche Momente«
  9. 5. Kapitel. »Gerüche winden sich durchs Glück«
  10. 6. Kapitel. Das Glück der »Folge«
  11. 7. Kapitel. Das Glück, »viel Leben zu haben«
  12. 8. Kapitel. Das Glück der »Idee des Reinen«
  13. 9. Kapitel. Sich mäßigen, um glücklich zu sein?
  14. 10. Kapitel. »Eigentum« als Glück?
  15. 11. Kapitel. »Wie sich Verdienst und Glück verketten«
  16. 12. Kapitel. Das posthumane Glück
  17. 13. Kapitel. Das Glück des Zufalls
  18. 14. Kapitel. Der Stein des »guten Glücks«
  19. 15. Kapitel. Das Glück der Liebe?
  20. 16. Kapitel. Resümee: Die Geburt des Glücks aus dem Geist der Verzweiflung
  21. Literaturhinweise
  22. Impressum