Albrecht Ritschl
Kapitalismus und seine Kritik in historischer Perspektive
Einführung
Was konstituiert geschichtlich den Kapitalismus? Worin unterscheidet er sich von früheren Wirtschaftsformen, was sind die Anfangsgründe seiner Entstehung? Beruhte das neue System auf Innovationen, etwas Neuem, das den Altvorderen nicht in den Sinn gekommen war? Oder wurde es möglich durch den Wegfall von Beschränkungen, brach es Kräften Bahn, die sich zuvor nur nicht entfalten durften? Und ging das Neue, was immer die Ursache seiner Freisetzung war, eher vom Unternehmertum oder von der Finanzierungsseite aus?
Vorformen von Kapitalismus finden sich seit Beginn der großen Ackerbau- und Stadtkulturen des Vorderen Orients und Chinas. Überall dort, wo in großem Stil landwirtschaftliche Überschüsse zur Ernährung von Stadtbevölkerungen abgeschöpft wurden, musste eine kommerzielle Landwirtschaft betrieben werden. Umfangreiche Bewässerungsprojekte, der Städtebau und die dazugehörige Infrastruktur, Tempelanlagen, eine Priesterschaft, stehende Heere und nicht zuletzt der Fernhandel waren zu finanzieren. Alles das setzte neben der Besteuerung ein zumindest rudimentäres Kreditsystem voraus, schon wegen der periodischen Erntezyklen. Allerdings wäre es verfehlt, diese frühen Zivilisationen trotz ihrer Leistungen kapitalistisch zu nennen. Zwar fehlte es nicht an Kaufleuten und gelegentlichen Zusammenschlüssen in Kaufmannsgesellschaften, etwa für Unternehmungen im Fernhandel. Großprojekte aber lagen offenbar regelmäßig in Händen der Obrigkeit, wovon im Falle Ägyptens und seiner Vorsorge gegen Dürren bereits das Alte Testament berichtet. Zudem finden sich im Altertum bereits Bestimmungen über die Beschränkung des Kreditverkehrs.
Im alten Mesopotamien waren nach dem Gesetz des Hammurabi[1] Kreditzinsen zunächst erlaubt, wenngleich nach oben begrenzt. In einer späteren Zeit wurden die entsprechenden Vorschriften allerdings aus den Gesetzestafeln getilgt. Das Alte Testament kannte ein Zinsverbot für Schulden zwischen Mitgliedern der Stämme Israels, nicht aber nach außen.[2] Hinzu kamen Beschränkungen der Dauer von Schuldverhältnissen, die sich in Teilen ähnlich im Codex Hammurabi finden.
Kein Kapitalismus im Römischen Reich
Im antiken Griechenland und Rom waren dem Unternehmertum – allerdings nur soweit es sich um freie Bürger handelte – kaum Schranken gesetzt, es finden sich Hinweise auf ein rudimentäres Bankwesen mit Depositen- und Scheckverkehr. Allerdings handelte es sich hier wie überall in der Antike im Wesentlichen um die Aktivitäten von Einzelkaufleuten, die – wie die im Neuen Testament geschilderten Geldwechsler im Tempel – mehr oder weniger auf Geldgeschäfte spezialisiert waren.[3] Wesentliche Einschränkungen der antiken Gewerbefreiheit und eine – gescheiterte – Preisstoppverordnung brachten die Reformen des Diokletian, die den Übergang zum Zunftwesen des Mittelalters und seinen starren Regeln vorausahnen ließen.
Was aber war mit dem Kapitalismus in der Blütezeit des Römischen Reiches? Man muss sich fragen, warum es damals keinen Aufbruch in einen modernen Kapitalismus gegeben hat, denn an den produktiven Voraussetzungen für eine modernere Wirtschaftsform fehlte es nicht. Die landwirtschaftliche Produktivität, ein wichtiger Gradmesser für die Vorbedingungen des Übergangs zu modernem Wirtschaftswachstum, war im Römischen Reich auf einem Stand, wie er erst wieder im 18. Jahrhundert erreicht werden sollte. Auf dem Gebiet des Straßenwesens und der Wasserversorgung erbrachte das Römische Reich Leistungen, an die erst das 19. Jahrhundert wieder heranreichen konnte: Die ganz Süd- und Westeuropa durchziehenden Heerstraßen waren gleichsam die Autobahnen des Römischen Reichs und bis heute lassen sich in der räumlichen Anordnung der westeuropäischen Städte die langfristigen Wirkungen der römischen Raumplanung besichtigen.
Dagegen lässt sich einwenden, dass das alte Rom und noch mehr die hellenische Welt zwar die technischen, aber vielleicht nicht die institutionellen Voraussetzungen für dauerhaftes Wachstum mit sich brachten, denn beides waren Sklavenhaltergesellschaften. Wozu modernisieren und die Produktivität erhöhen, wenn die Arbeitsleistung von Sklaven für ein Minimum an Kosten verfügbar war? Dass Sklaverei ein ernsthaftes Hindernis für den Übergang zu einer modernisierten Wirtschaftsweise darstellen kann, ist intensiv und kontrovers am Beispiel der amerikanischen Südstaaten vor dem Bürgerkrieg diskutiert worden. Immerhin scheint nach der abgeschlossenen Expansion des Römischen Reichs ca. 150 n. Chr. der Zustrom an Sklaven geringer geworden zu sein und die Institution etwas an Bedeutung verloren zu haben. Zudem wuchs mit der Verbreitung billiger Nahrungsmittel aus den Provinzen die Arbeitslosigkeit in Rom und den angrenzenden Gebieten, zunehmend mehr italische Güter blieben unbewirtschaftet. Gerade diese Freisetzung landwirtschaftlicher Arbeit ist jedoch eine Voraussetzung für den Übergang zu modernem Wachstum mit seinem sektoralen Strukturwandel weg von der Landwirtschaft. Hinzu kam, dass Italien als das Kernland des Römischen Reichs erhebliche Steuerprivilegien genoss. Wenn nicht hier, wo sonst hätte der Übergang zu einer kapitalistischen, profitorientierten Wirtschaftsform gelingen können?
Drei Reformen im mittelalterlichen Italien
Dieses unerklärt bleibende Paradox wiegt umso schwerer, als gerade Italien die Region war, in der tausend Jahre später eben jene Umwälzungen eintraten, die im Römischen Reich ausgeblieben waren und sich von dort aus allmählich ausbreiteten. In den italienischen Stadtrepubliken des Mittelalters setzten zu fast gleicher Zeit drei Entwicklungen ein, die dem modernen Kapitalismus sein Gepräge gegeben haben: ein kommerzielles Manufakturwesen, die Kreditfinanzierung über Wechselbriefe und die Herausbildung der Rechtsform der Firma.
Max Weber verglich in seiner Dissertation die italienische Rechtsform der Firma mit älteren, besonders in der Schiffsfinanzierung angewandten Rechtsformen wie der commenda, die sich weit in die Antike zurückverfolgen ließen, sowie der societas des römischen Rechts, fand aber keine direkten Vorläufer.[4] Neu war in der Firma das Nebeneinander voll und beschränkt haftender Gesellschafter, für das es außer den zeitlich begrenzten Schifffahrtsunternehmungen der commenda keine Vorlagen gab. Auch das römische Recht und seine Wirtschaftspraxis scheinen diese Unterscheidung nicht gekannt zu haben. Wohl gab es Vereinigungen, die als Konsortien öffentliche Aufträge übernahmen, aber die socii hafteten unbeschränkt, ähnlich wie in der heutigen, ihr nachgebildeten Gesellschaft bürgerlichen Rechts.[5]
Zur Kapitalansammlung und dem Unternehmenswachstum erwies sich die neue Institution der Firma als erfolgreich. Größere Manufakturen und Handelsunternehmen konnten nun etwa als Familienunternehmen betrieben werden, ohne dass jeder Kapitalgeber zugleich haftendes Mitglied der Geschäftsführung war, wie es das Partnerschaftsmodell der römischen societas nahegelegt hätte, oder die Unternehmung nach jeder abgeschlossenen Expedition mit Erfüllung ihres begrenzten Geschäftszwecks abgewickelt worden wäre, wie bei der commenda. Überraschend bleibt, dass die commenda sich nicht zu einer ständigen Unternehmung verewigt hat. Weber argumentiert detailreich, dass die Firma stattdessen ihre Wurzeln in Erbengemeinschaften und Familienstiftungen langobardischen Rechts hatte, bei denen ein Fortbestand des Patrimoniums erreicht werden sollte, ohne alle Familienmitglieder in der Haftung zu belassen.
Die zweite institutionelle Innovation des italienischen Mittelalters war die Etablierung eines bargeldlosen Zahlungs- und Kreditverkehrs auf Grundlage des Wechselbriefs. Hier spielte die Umgehung religiöser Vorschriften eine Hauptrolle. In einer frühen Version von Kapitalismuskritik hatte die kirchliche Scholastik argumentiert, die Erhebung von Zins bei Rückzahlung eines Kredits sei wie eine Doppelbelastung des Kreditbetrags, denn anders als Nutztiere oder -pflanzen vermehre sich Geld nicht von selbst. Die kirchlichen Doktrinen wandten sich nicht gegen den Unternehmensgewinn, der sich auf Gütervermehrung zurückführen ließ. Das Verbot richtete sich gegen den festen Zinssatz, der das Ertragsrisiko allein beim Schuldner belässt. Für ein solches Verbot konnten manche Gründe sprechen, insbesondere die Not des unverschuldet ohne Ertrag gebliebenen Kreditnehmers. Zu dessen Schutz dienten bereits die alttestamentarischen Vorschriften über die Begrenzung der Schuldknechtschaft und den periodischen Schuldenerlass. Andererseits musste das Zinsverbot als Hemmschuh der Investitionen wirken, denn jede Risikoteilung zwischen Kapitalgeber und Unternehmer im Sinne einer Gewinnbeteiligung setzt ein für beide Seiten beobachtbares Geschäftsergebnis voraus. Bei den Schiffskrediten der commenda sorgten genaue Verfahrensregeln dafür, dass die Erlöse der Expeditionen von unparteiischen Beobachtern aufgezeichnet wurden. In einem laufenden Geschäftsbetrieb mit wechselnden Projekten war dagegen eine hochentwickelte Buchführung erforderlich, die sich im Zuge der Verbreitung der Firma in Italien herausbildete und allmählich ausbreitete. Ohne Zuhilfenahme so komplexer Mechanismen war der Einzelkaufmann auf Überschüsse aus früheren Unternehmungen angewiesen oder allenfalls auf stille Einlagen, die auf Vertrauen gegeben wurden und für ihre Durchsetzbarkeit von den erwarteten Erträgen einer fortbestehenden gegenseitigen Geschäftsbeziehung abhingen. Als Alternative blieb der Weg zum jüdischen Geldverleiher, der früh komplexe Finanztransaktionen übernahm.
Neu am Wechselbrief war zunächst die Umgehung des Zinsverbots durch eine Wechselgebühr. Ihre Berechtigung ergab sich durch das Wechselkursrisiko beim Überweisungsverkehr mit auswärtigen Finanzplätzen. Seiner Bestimmung nach stellte der Wechsel eine gebührenpflichtige Überweisung dar, später meist mit einer Bevorschussung von Warentransporten durch den Empfänger oder eine zwischengeschaltete Bank. Ihre Berechtigung erhielt die Wechselgebühr durch das Kursrisiko beim Überweisungsverkehr mit auswärtigen Plätzen. Am Empfangsort wurden periodisch die Wechsel gegen andere, auf den Senderort gezogene Wechsel verrechnet und die Clearingspitzen ausgeglichen oder durch neue Wechsel vorgetragen in die nächste Wirtschaftsperiode. Italien und von dort ausgehend bald ganz Europa hatten damit eine Methode des grenzüberschreitenden bargeldlosen Zahlungsverkehrs entwickelt, der später die Einrichtung von regionalen Clearingmessen folgte, oft am Rande regulärer Handelsmessen. Clearing- und Sammelwechsel übernahmen Derivatfunktionen. Schon zuvor war die Verwendbarkeit des Wechsels für reine Kredittransaktionen entdeckt worden, die den kirchlichen Regeln direkt zuwiderliefen. Erforderlich war allein Überweisung von A nach B und eine Rücküberweisung (recambium) von B nach A. Der Kreditzeitraum entsprach der Laufzeit der jeweiligen Wechsel, etwa 2 Monate zwischen West- und Südeuropa, sechs Wochen innerhalb des Mittelmeerraums. Auch von Wechseln, die auf Aussteller an anderen Orten gezogen wurden und scheinbar zu Protest gingen, wird berichtet. Während der doppelten Laufzeit bis zur Rückkehr des Wechsels an seinen Ausstellungsort und der Rückabwicklung des ursprünglichen Zahlungsvorgangs war Kredit in Anspruch genommen worden, die Überweisung erfolgte nur zum Schein. Für die religiösen Autoritäten waren solche Transaktionen kaum kontrollierbar und wohl auch schwer zu durchschauen. Im Ergebnis bürgerte sich der Wechsel als universelles, zunehmend handelbares Zahlungs- und Kreditinstrument ein. Als Nebeneffekt bildete sich eine Schicht europaweit tätiger, als Lombarden bezeichneter katholischer Bankiers und Händler heraus.[6]
Mit diesem System war zunehmend eine Abkehr von früheren Traditionen verbunden. An Stelle des Einzelkaufmanns trat die Firma, wuchs an Größe und breitete international ihre Aktivitäten in Handel, Finanz und Produktion aus, bis hin zu weltweit tätigen Großfirmen wie den Augsburger Handelshäusern der Fugger und Welser. Durch ihre oft dezentrale Organisation waren sie optimal an die politische Zersplitterung Europas in zahlreiche Mikroterritorien angepasst, beteiligten sich aber auch maßgebend an den großen Expeditionen zur Erschließung der Seewege und der lateinamerikanischen Kolonien. Gerade das ist aber diesem ersten Aufblühen des Kapitalismus zum Verhängnis geworden. Der rasche Machtzuwachs der spanischen Habsburger brachte diese Unternehmen in Abhängigkeit von einem kapitalhungrigen Souverän, der sie in den Strudel einer Reihe von Staatsbankrotten zog und ihre Blütezeit beendete.
Eigentumsrechte und der Aufstieg des Kapitalismus
Mit der Entdeckung der Seewege nach Indien und der Neuen Welt verlagerte sich aber auch der wirtschaftliche Schwerpunkt Europas auf die seefahrenden Nationen entlang der Atlantikküste. Für die weitere Entwicklung wichtig wurden besonders die Niederlande, die in langen Kriegen ihre Unabhängigkeit von den spanischen Habsburgern errungen hatten und eine Sonderentwicklung in Gang setzten. Kennzeichnend wurde im niederländischen Goldenen Zeitalter des 17. Jahrhunderts zum einen eine gewisse religiöse Toleranz, was die Niederlande zur Zuflucht religiös Verfolgter machte, insbesondere portugiesischer Juden. Zum anderen bildeten sich in den Niederlanden innovative Methoden zur Kapitalsammlung heraus. Die neugebildete, mit einem staatlichen Monopol versehene Vereinigte Ostindische Kompanie (VOC) gab Aktien aus, die an der Amsterdamer Börse gehandelt wurden. Börsenhandel hatte es seit der Renaissance an zahlreichen europäischen Plätzen gegeben, so auch in Augsburg und Nürnberg, meist allerdings im Handel mit Währungen und Schuldtiteln. Auch Handel mit Firmenanteilen, insbesondere Bergwerkskuxen, war schon im Mittelalter bekannt, allerdings bestand für den Anteilseigner das Risiko der Zubuße, einer Nachschusspflicht im Falle von Geschäftsverlusten. Neu war die Börsennotierung einer prominenten Gesellschaft mit – anders als zunächst bei Englands gleichaltriger East India Company – frei handelbaren Anteilsscheinen, bei denen die Haftung auf die Kaufsumme begrenzt war.
Nun bot die VOC kein Beispiel marktwirtschaftlichen Unternehmertums, handelte es sich doch um ein quasi staatliches Monopolunternehmen, dessen Gewinne in weiten Teilen auf der Ausübung militärischer Gewalt basierten. Aber die Trennung von Geschäftsführung und Kapitaleignern war nun vollständig vollzogen und der Schritt zur Bewertung durch den Kapitalmarkt getan. Florieren konnte dieses System unter den Gesetzen der Republik, die der Kaufmannschaft Teilhabe an der politischen Macht und damit den staatlichen Budgets gaben. Insbesondere waren die Aktivitäten der VOC von denen des allgemeinen öffentlichen Budgets getrennt, so dass die Hergabe von Kapital nicht selbst eine Form der indirekten Staatsfinanzierung war, anders als bei den von den Fuggern und Welsern finanzierten Expeditionen der Habsburger. Voraussetzung für den Erfolg dieser Innovationen war also einerseits die Schaffung nicht entziehbarer Eigentumsrechte, die das Vertrauen in die neuen Institutionen schufen und befestigten, und andererseits die Abwesenheit eines von den Bürgern unabhängigen Souveräns, dessen Finanzierungsnöte das Rechtssystem gefährden konnten. Ersteres war in den Niederlanden weitgehend garantiert, während es um die Stellung des damals so genannten Statthalters anhaltende Konflikte gab.
Eine ähnliche Entwicklung setzte in England nach dem Ende der Bürgerkriege mit der Glorious Revolution von 1688 ein, die selbst ein Revolutionsimport aus den Niederlanden war und mit der Krönung des damaligen Statthalters zum englischen König ihren Abschluss fand. Zur Absicherung seiner Wahl gewährte der neue Monarch die Bill of Rights, welche dem Parlament weitgehende Rechte bei der Besteuerung, der Schuldenaufnahme und der Kriegserklärung zugestand. Zur Erlangung von Kriegskrediten gegen Frankreich unterstützte der Monarch 1694 die Gründung der Bank von England, die der Kaufmannschaft weitere Kontrolle über das Staatsbudget brachte. Mit den finanziellen Inno...