Das Streichelinstitut
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Das Streichelinstitut

Roman

  1. 356 Seiten
  2. German
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Das Streichelinstitut

Roman

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Über dieses Buch

Ein urkomischer, kluger Roman über einen liebenswerten Taugenichts, der plötzlich Erfolg hat.Sebastian war ein sensationeller Streichler, beruhigend und aufregend zugleich - fand Anna jedenfalls, seine Freundin. Trotzdem war es eigentlich nur eine Urlaubsalberei, als sie ihm vorschlug, diese Fähigkeiten zu professionalisieren. Natürlich (Regel 1) niemals unterhalb der Gürtellinie! Aber in dieser kalten Welt des Gestresstseins musste es doch eine kommerziell verwertbare Sehnsucht nach Zärtlichkeiten auch oberhalb des Nabels geben. Und irgendetwas sollte sich Sebastian schon einfallen lassen, der nach dem Ende seines Philosophiestudiums schon viel zu lange einfach nur herumhing, während Anna als Lektorin in Foucaultseminaren an der Wiener Uni wenigstens ein bisschen was verdiente. Als Sebastian geschlagene anderthalb Jahre später wirklich zum Gewerbeamt geht, um in der Mondscheingasse ein Streichelinstitut zu eröffnen, stößt er schon bei der Anmeldung auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten: "Massagesalon" schlägt ihm die Beamtin als Rubrizierung vor, weil ihre Liste unter "Streicheln" nichts hergibt. Schließlich einigen sie sich auf "Lebensberatung". Dass wirklich Leute kommen und auch noch eine Menge Geld bezahlen, überrascht Sebastian fast selbst. Endlich ist er ein "nützliches Mitglied des menschlichen Marktes", denkt er sich, wenngleich er sich eingestehen muss, dass Zielgruppe und Wunschgruppe nicht identisch sind und sich überhaupt plötzlich ganz ungeahnte Probleme auftun.

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Information

Verlag
Wallstein
Jahr
2010
ISBN
9783835306615

1 Die Blaue Lagune

Meine Zielgruppe war die desillusionierte Mittelschicht, das traurige, kulturell deklassierte Bürgertum, das ich Lumpenbourgeoisie nannte. Ich hätte keinen besseren Ort für mein Institut finden können als die Mondscheingasse in Wien-Neubau – nicht nur ihres Namens wegen.
Neubau, das war der Spielplatz der alternativen Bürgerkinder, welche die Grünen zur stärksten Partei im Bezirk gemacht hatten, eine Oase der Toleranz und Aufgeklärtheit. Es war haarsträubend, an solch einem Ort beschäftigt zu sein. Ich gab es bald auf, mit meinem Auto einen Parkplatz finden zu wollen, nach zwei, drei Wochen stundenlangen Fahrens im Kreis kapitulierte ich vor der radfahrerfreundlichen Politik und zwängte mich in überfüllte U-Bahnen, Tramways und Busse, wenn ich mir nicht zähneknirschend ein Gratis-Eingangrad mit ungepolstertem Sattel auslieh. Abgesehen von den ohnehin spärlichen Parkplätzen gab es so viele Behindertenparkplätze, dass ich kaum glauben mochte, es gebe so viele Behinderte in einem einzigen Bezirk. Ich fragte mich und Anna, die solche Scherze nicht sonderlich lustig fand, ob ich nicht auch einen Behindertenparkplatz beantragen sollte – wegen meiner Behinderung, mich nicht ins soziale Gefüge einpassen zu können. Mich tröstete die Vorstellung, dass es die guten Menschen in Magistrat und Bezirksrat nicht übers Herz brächten, den Antrag eines Menschen mit speziellen Bedürfnissen abzulehnen.
Die Mondscheingasse zweigt von der Neubaugasse ab, und diese Straße der Spezialisten, die ich Straße der Scharlatane nannte, konnte man nicht ohne Nasezuhalten entlanggehen. Überall roch es nach Räucherstäbchen, vor den Geschäften hingen bunte indische Kleider, wenn der Wind auch nur leicht wehte, bimmelten Glockenspiele; das Wasser, das in Auslagen über heilende Steine plätscherte, meinte man noch hundert Meter weiter zu hören. Hier gab es Sinnangebote und Lebensgefühle, Rebellion, Anderssein und Ganzheitsstimmung in Hülle und Fülle. Die Hüllen konnte man ebenerdig erstehen, für die Kopffüllungen musste man Stiegenhäuser und Aufzüge bemühen. Allein die Schilder neben den Hauseingängen! Von Yoga und seinen siebenhundertdreiundzwanzig Unterarten über Trommelkurse, Urschreitherapie, Kineseologie, Karten- und Tarotlegen, von Wahrsagern über Wünschelrutengeher, vom Rebirthing zum Schamanen war alles zu finden, was Halt unter unhaltbaren Zuständen geben sollte. Wie praktisch war dagegen meine bürgerliche Josefstadt, die ebenfalls kurz vorm Ergrünen war! Was konnte nützlicher sein als ein Institut zur Bekämpfung der Rechenschwäche auf der Lerchenfelder Straße?
In den Tagen, als ich mich mit meiner Institutsidee herumschlug, ging ich anders durch die Neubaugasse, die Gasse mit dem großen roten Herzen, das auf ein über ihren Eingang gespanntes Banner gedruckt war, beschwingter, belustigter, ja, geschäftstüchtig. Während Anna Seminare über Marx, Foucault oder Agamben hielt und von Studenten bewundert wurde, die ihr aus Tugendhaftigkeit nicht auf den Hintern zu sehen wagten, freute ich mich über die junge Frau, die mit einem seligen Lächeln und durchaus stäbchengeräuchert aus einem Geschäft trat. Ich freute mich über die, die mit großen Augen vor einer Auslage stand und im Kopf den Inhalt ihrer gestrickten Geldbörse überschlug. Ich freute mich über die, die die östliche Weisheit in sich aufsaugen wollten, über die, deren verächtlichstes Wort Schulmedizin lautete, über die, die Unbekannte zuerst nach Sternzeichen und Aszendenten befragten. Ich fand seltsamen Gefallen an denen, die frohlockten, die Mutter dessen, in den sie sich verliebt hätten, sei auch eine Indianerin. Zwar wusste ich nicht, was eine Indianerin in diesen Systemen bedeutete, doch ich beschloss, da zuzulernen, Augen und Ohren offenzuhalten, mich dem Übersinnlichen und Feinstofflichen aufzuschließen und nur noch in Lokale zu gehen, in denen man auf dem Boden sitzen konnte, um zu demonstrieren, was man von der steifen westlichen Lebensart hielt. Einmal blieb ich vor der Auslage der größten Buchhandlung stehen, in der über bunten Büchern ein Spiegel in Form einer riesigen goldenen Sonne hing. Ich trat so nah an die Auslage, dass mein Gesicht die Mitte der Sonne darstellte. Mein Antlitz strahlte, meine Kraftquelle schien Feuerzungen auszusenden, mein inneres Licht war entzündet. Ich freute mich über mein Zielpublikum. Allerdings würde ich ihm keine spirituellen Zugeständnisse machen. In Neubau musste man beinahe überlegen, ob man sonntags nicht doch einen Gottesdienst besuchen sollte.
Aber auch die Kultur suchte ihr Zuhause in dem einstmals verlotterten Bezirk. Alle paar Wochen eröffnete eine neue Galerie mit sehr ausgeweitetem Kunstbegriff, Maler, Grafikerinnen, Musiker, Architektinnen, Konzeptkünstler, Tänzerinnen, Schauspieler und Dichte rinnen – alle zog es in den von der Mariahilfer und Lerchenfelder Straße umgrenzten Wienplanausschnitt. Sie tranken viel, sie kifften gern, sie koksten brav, sie versuchten, so promisk wie nur möglich zu leben, um ihren Eltern oder Lehrern oder denen, die etwas aus ihren Leben machen wollten, eine Nase zu drehen. Ich fragte mich oft, wie ihre Welten aussahen, wenn sie nach Hause kamen, allein oder mit jemandem, den sie am nächsten Tag schon nicht mehr sehen konnten. Ich fragte mich, wohin all die lokale Prominenz strömte, wenn sie morgens mit dröhnendem Kopf erwachte und ihrem Traum von internationalem Ruhm noch immer so fern war. Wer würde da nicht gern gestreichelt werden?
Es gibt ein Bild von Parmigianino, das Selbstbildnis im Konvexspiegel heißt. Darauf hat sich der Künstler ein Denkmal gesetzt, wie er, die Lider halb über den Augen hängend, das Gesicht leicht abgewandt, den Betrachter vergebend anblickt. Das dünne, leicht gewellte rötlich-braune Haar ist in der Mitte gescheitelt, verdeckt die Ohren und fällt bis zu den Wangenknochen. Die Nase ist kerzengerade, die schmalen Lippen ruhen aufeinander, da ist etwas Melancholisches, etwas Überzeugtes, etwas Wissendes. Der Raum im Hintergrund ist merkwürdig verzogen, links oben fällt Licht durch ein Fenster, das wie eine Dachluke aussieht. Das Rundherum ist kahl, der junge Künstler trägt einen Pelzmantel, die weißen Ärmelenden aufgebauscht. Im Vordergrund des Bildes, im Brennpunkt, ist die rechte Hand Parmigianinos, die vor ihm auf einem Tisch zu ruhen scheint, weiß, entspannt, elegant, vom Spiegel vergrößert und in die Länge gezogen; am kleinen Finger steckt ein schmaler Ring. Eine noble, sehr blasse Hand. Das ist das Werkzeug des Künstlers. Seht, damit werde ich meine Meisterwerke malen! Seht, damit werde ich meine Meisterwerke gemalt haben! Leben im Futurum Exactum.
Parmigianino war von einem Barbierspiegel und den seltsamen Effekten, die er hervorrief, wie die Balken der Decken sich krümmen, Türen und alle Gebäude ganz seltsam sich verkürzen, wie Vasari schreibt, so beeindruckt, dass er sich die Technik aneignete. Mit einundzwanzig Jahren schenkte er Clemens VII. das Bild als Visitenkarte. Der Papst war begeistert, vermachte es aber bald einem Dichter, von dem es über den Prager an den Wiener Hof kam.
Jedes Mal, wenn ich im Kunsthistorischen Museum war, blieb ich lange vor dem Selbstbildnis stehen. Nicht nur, weil ich mit sechzehn, siebzehn ähnlich ausgesehen hatte, das helle Gesicht an den Wangen und auf der Nase leicht gerötet, als sei etwas peinlich, was noch nicht ansatzweise verstanden wird; nicht nur, weil meine halblangen Haare damals die gleiche Konsistenz, die gleiche Welle (Dachrinne) und eine sehr ähnliche Farbe gehabt hatten; nicht nur, weil ich mich ähnlich spöttisch, abgewandt und skeptisch in Erinnerung hatte; und auch nicht nur, weil da kein Ansatz eines Bartes, kein unmissverständliches Zeichen war, ob aus dem jungen Mann nicht doch noch eine hübsche Frau werden könnte. Das Bild erzählt von einer Einsamkeit, einem dräuenden Vorwissen. Es hat etwas ungemein Zartes, das gleichzeitig äußerst entschlossen wirkt. Der so jung schon so grandios malte und seine Zeitgenossen entzückte, wollte später reich werden, Magier, Naturkünstler, Elementbezwinger, auf die andere Seite gelangen. Er versuchte sich in der Alchimie, an deren Folgen – eingeatmete Dämpfe, geschmolzene Metalle, geheime Versuche in abgedunkelten Räumen – er gestorben sein dürfte, mit siebenunddreißig Jahren, früh gealtert und dem Selbstbildnis nur noch sehr entfernt ähnlich.
So musste die Hand eines Streichlers aussehen! So musste sie gezeigt werden! Die Visitenkarte eines Berufsstreichlers musste für diesen jene Bände sprechen, in denen stand, wie gut, ja lebensgeisterweckend ihre Berührung tat. Seit der Rückkehr aus der Blauen Lagune hatte ich mich gefragt, ob ich mir schon vor der Eröffnung des Instituts eine Seite im potentiell weltweiten Netz einrichten lassen oder abwarten solle, ob dem Angebot eine gewisse Nachfrage entspreche. Ich versuchte, ökonomisch zu denken. Vorher, was sonst! Die Interessierten wollten sich vorher über die Seriosität meines Unternehmens informieren, noch vor dem Anruf, einer E-Mail, einer Terminanfrage sehen können, was sie davon zu halten haben. Erleichterung natürlich, Entspannung, Kontakt zum ureigensten Selbst!
Helfen sollte mir ein Bekannter, der Fotograf war, ein witziger Mensch mit langen Haaren, der sich ständig über seinen Bauch mokierte, der nicht halb so groß war, wie er spottete. Er fotografierte Politiker, Wirtschaftskapitäne, Künstlerinnen, Sportlerinnen, versuchte bei Großereignissen im richtigen, also für den Dargestellten falschen Moment abzudrücken. Durch ihn verstand ich, warum ein Foto geschossen wurde. Ich rief ihn an, erzählte von meiner Idee, er lachte lange und immer wieder, bevor wir einen Termin vereinbarten.
In meinem Streichelzimmer setzte ich mich auf das Sofa und stützte die Rechte vor mir auf die Lehne. Ich trug einen leichten grauen Anzug und mein schönstes weißes Hemd. Zwei Tage vor dem Fototermin hatte ich mich rasiert, um eine sanfte, gleichzeitig von ersten Stoppeln übersäte Haut zu erwirken; außerdem waren mir die Haare gewaschen und geschnitten worden. Aus Erfahrung musste ich erstens darüber schlafen und sie zweitens zumindest einmal beim Duschen nass gemacht haben, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.
Peter Kornfeld, der seine E-Mails, Kurznachrichten und Fotos mit Kornfeld unterschrieb, hatte seinen hellbraunen Porsche in der Mondscheingasse gegenüber meinem zukünftigen Institut und knapp vor dem türkischen Änderungsschneider geparkt. Als am Vorabend wunderbarerweise ein Parkplatz frei geworden war, der von keinem Rollstuhl bezeichnet war, hatte ich einen Nachbarn gebeten, sofort seinen Wagen aus der Garage zu holen und so lange den freien Platz zu besetzen, bis der rasende Kornfeld anrausche. Während er mich fotografierte, lief er immer wieder zum Fenster.
„Ist er nicht geil, Sebastian?“
„Bin ich nicht geil, Kornfeld?“
„Kann sein, aber schlag die Augen nicht so von unten auf, wir machen ja keine Partnerannonce.“
„Ich darf nicht ernst schauen, verstehst du, arrogant zu wirken wäre das Schlimmste, was sage ich, geschäftsschädigend!“
„Du hast doch Anna.“
„Ich hasse Anna nicht.“
„Schau normal, wie dein Maler, aber weniger traurig.“
Ein paar Stunden später saß ich mit Kornfeld an seinem Computer und sichtete die Fotos. Zwei Drittel waren sofort auszuschließen, weil ich bisweilen dümmlich, manchmal allzu anzüglich, meistens aber irgendwie teuflisch lachte. Wir tranken Kaffee und redeten Unsinn, als sein Mobiltelefon läutete.
„Scheiße! Ich werd gleich depressiv. Arschlöcher! Schick’s mir durch, alle Preisträger, ja. Bitte, danke.“
Kornfeld vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte, bevor er sehr laut lachte. Wieder hatte er nicht den Fotopreis der österreichischen Presseagentur gewonnen, obwohl man ihn in die engere Auswahl genommen und ihn unentwegt seiner guten Chancen versichert habe. Irgendein Nichtskönner sei bei irgendeiner Papstaudienz zufällig gut gestanden und habe zufällig genau in dem Moment geschossen, in dem ein Windstoß dem an einem Pult stehenden Stellvertreter Gottes auf Erden den roten Umhang ums Gesicht geweht habe, dass nur ein paar Büschel aufgewirbelter weißer Haare und ein schwarzer Brillenbügel an der Schläfe zu sehen seien. Kornfeld zeigte mir sein Bild, den Vorstand eines großen Konsortiums, einen gedrungenen Mann, den er vor einem Geweih an dessen Bürowand geschossen hatte, dass er wie ein Hirsch aussah. Mir gefiel das Foto, weil ich daran denken musste, wie ich im Sonnenspiegel der esoterischen Buchhandlung ausgesehen hatte. In diesem würde ich mich erst schießen lassen müssen, sollte ich mit einem vernünftigen Institut scheitern.
„Such dir eins aus und verschwind, ich muss mich beruhigen und dann wieder Geld verdienen. So eine Kacke!“
Was am nächsten Morgen in meinem Posteingang landete, gefiel mir außerordentlich. Es erstaunte mich, wie leicht der Effekt, den Parmigianino zwar nicht entdeckt, aber so kunstvoll für sich verwendet hatte, mit ein paar Knopfdrücken zu haben war. Der Hintergrund war dunkelweiß, wenn man so sagen kann, im Vordergrund war meine auf einer Lehne ruhende Hand zu sehen, gebräunt, entspannt, elegant, vergrößert und in die Länge gezogen. Anstatt des Ringes konnte man auf dem Knöchel des kleinen Fingers eine ovale, glatte Narbe sehen; ein eher mittelmäßiger Hautarzt hatte mir als Bub, während er halblustige Witze erzählt hatte, eine Warze weggebrannt. Ich blickte die Betrachterin entspannt, freundlich, etwas schelmisch und, wie ich hoffte, nur so anzüglich an, dass es geschäftsfördernd wirken könne. Den möglichen Eindruck auf mögliche Betrachter vernachlässigte ich.
Das war das Werkzeug des Streichlers. Seht, damit streichelt er seine Rücken, Gesichter und Hände! Seht, damit wird er seine Rücken, Gesichter und Hände gestreichelt haben! Curriculum vitae in futuro exacto. Ich hatte schöne Hände, lange, feine Glieder, zumindest hatte ich das von vielen Frauen zu hören bekommen; von Männern hatte ich eher zu hören bekommen, ich hätte zwei Linke – bloß den Menschen, der zwei Linke hatte, hatte mir keiner zeigen können. Frauen waren es gewesen, die meine Hand in ihre Hände genommen und im ernsten Scherz meine Handflächen gelesen hatten. Ich hätte ein langes Leben vor mir, hatten sie erklärt und mir meine Lebenslinie gezeigt. Ich hatte nie widersprochen oder die Seriosität dieser Methode auch nur scherzhaft in Zweifel gezogen. Erstens wegen der Frauen, zweitens wegen mir – oder umgekehrt. Nur die Frau, deren Namen ich vor Anna nicht erwähnen durfte, hatte gestutzt.
„Du hast eine sehr lange Lebenslinie, Sebastian. Aber da, schau, ist sie unterbrochen.“
Mihail war Bulgare, der Bekannte eines Bekannten aus einem Lokal, in dem ich abends zu oft zu viel trank, wenn ich nicht bei Anna oder sie nicht bei mir war, weil es mich ohne Anna so sehr nach Gesellschaft verlangte, auch nach der einfältigsten. Seit der Rückkehr aus der Blauen Lagune war ich nur einmal zum Essen dort gewesen, um mit Mihail über meine Visitenkarte zu sprechen und demonstrativ direkt gepressten Apfelsaft mit Leitungswasser zu trinken. Er hatte die Seite meines Bekannten entworfen, er hielt sie auf dem Laufenden, mir wollte er...

Inhaltsverzeichnis

  1. Das Streichelinstitut
  2. 1 Die Blaue Lagune
  3. 2 Im Streichelzimmer
  4. 3 Thermidor