Meine Damen und Herren,
zuerst möchte ich danken, daß ich als Schweizer zum Tag der Deutschen Einheit reden darf – in diesem Raum, aus dem in meinen jüngeren Jahren auch zu diesem Thema große Debatten übertragen wurden. Sie scheinen mir farbiger als die heutigen, auch wenn das Bild anfangs noch schwarz-weiß war. Aber auch die Welt war noch klar in Freund und Feind geteilt und ließ die Vereinigung einer Republik, die ihre Seite so unwiderruflich gewählt hatte, mit ihrem ebenfalls deutschen, aber keineswegs demokratischen Widerpart als illusorisch erscheinen, und für viele Freunde der Bundesrepublik nicht einmal als wünschbar. Diese hatte der doppelten Einbindung in NATO und EG jedes Pochen auf den Vorrang nationaler Interessen geopfert, nicht nur taktisch, sondern faktisch. Und dieser Verzicht wurde nicht nur von verdientem Wohlstand honoriert, sondern aufgewogen durch soliden Gewinn an internationalem Respekt; auch durch eine diskret behandelte Zunahme an politischem Gewicht.
Vor 1989 war nicht einmal der israelische Geheimdienst auf die epochale Wende gefaßt gewesen, die überraschende und überraschend unblutige Implosion des Sowjetblocks. Die Weltgeschichte verhielt sich viel unberechenbarer als die Bundesrepublik, und Kohl zeigte sich als geistesgegenwärtiger Staatsmann, als er mit den Machthabern der Gegenseite, bevor ihnen ihre eigene Macht entglitt, in kürzester Frist die deutsche Einheit aushandelte, ohne dabei die Stützen des bisherigen Bündnisses zu beschädigen. Dieses Wunder besiegelte damals nicht nur das Ende der DDR, sondern auch der alten Bundesrepublik, ohne daß die neue damit zur unbekannten Größe geworden wäre. Die Wende erwies sich auch als unglaublicher Glücksfall für die Europäische Union. Eigentlich ist es noch immer kaum zu fassen, daß wir heute ein in Freiheit zusammengekommenes Bündnis von 27 europäischen Staaten haben, die sich, nehmt alles nur in allem, rechtsstaatlicher Verhältnisse und eines noch nie dagewesenen Wohlstands erfreuen.
Noch viel weniger allerdings ist zu fassen, daß sich dieses Bündnis auf der Höhe seiner Errungenschaft in einer Existenzkrise befinden soll und daß sich ausgerechnet die gemeinsame Währung als Sprengstoff erweist; selbst das Schwergewicht der Union, Deutschland, droht europäisches Gemeinwohl wieder nationalem Eigennutz unterzuordnen. Was gestern noch Reichtum war, schlägt plötzlich als Schulden zu Buch. Was ist da geschehen, und warum geschieht es immer weiter?
Fest steht nur so viel: was dem »Vorgebirge Asiens« (Valéry) gerade zustößt, geschieht überall auf diesem Planeten. Der Kalte Krieg hatte einen umfassenden Gewinner, den wir lange nicht bemerkt haben, weil wir seine Komplizen waren, bevor wir seine Geiseln wurden. Es ist der globalisierte Markt, dessen Herrschaft solider fundiert ist als jedes politische System: nämlich auf jene Grundeigenschaft des Menschen, die im alten Todsündenkatalog noch unter dem Doppelnamen luxuria und avaritia figuriert: Gier und Geiz. Seit der fromme Adam Smith gerade im natürlichen Egoismus die unsichtbare Hand Gottes am Werk gesehen hatte, durfte sich die Marktherrschaft ihrerseits als Freiheit verkleiden. Eigentlich lebt sie von einer Tautologie: was gewinnt, ist ein Gewinn. Nicht nur Darwins Evolutionslehre, auch die alltägliche Erfahrung beweisen, daß jeder und jede zu den Gewinnern gehören will. Und da weder Religion noch Sittengesetz mehr verbindlich vorgeben, was als Gewinn zu betrachten ist und was nicht, hat der monetär meßbare keine natürlichen Feinde mehr – außer dem Neid, invidia, und der ist vom gleichen Zeug geschnitten. Eine neue Technologie, von der wir inzwischen ganz und gar abhänge...