Schiffbruch vor Lampedusa
eBook - ePub

Schiffbruch vor Lampedusa

  1. 238 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub
Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Ein eindringlicher Text über die Insel Lampedusa, über ihre Bewohner und über Menschen, die dort Rettung suchen - ein großes Zeugnis von Humanität."Das Baby ist winzig, die Mutter selbst noch ein halbes Kind. Sie sind da, fünf Meter von mir entfernt. Und direkt vor mir gehen drei Mann gleichzeitig unter. Wen soll ich also retten? Zu wem soll ich hin? Was tun? Rechnen - das ist alles, was man in so einer Situation tun kann. Mathematik. Drei sind mehr als zwei. Drei Leben sind ein Leben mehr."Davide Enia ist nach Lampedusa gefahren, um sich selbst ein Bild von der Insel zu machen, die in den Medien zum Sinnbild für die Flüchtlingskrise geworden ist. Seine Gespräche mit Rettungshelfern, Freunden und Fischern, aber auch seine persönlichen Eindrücke bei Rettungsaktionen und "Anlandungen" verwebt er zu einer unglaublich dichten und ergreifenden Erzählung. Lampedusa ist dabei ein Mikrokosmos, in dem die Folgen von Migration, Flucht und Grenzen unmittelbar spürbar sind. Gleichzeitig erinnert Enia sich an magische Sommer an der sizilianischen Küste und seine früheren Urlaube auf der Insel, und versucht, die Unschuld dieser Zeit wieder heraufzubeschwören.Enias Tage auf Lampedusa werden begleitet von seiner Sorge um den krebskranken Onkel und der Notwendigkeit, sich mit dessen nahenden Tod auseinanderzusetzen. Dieser sehr persönliche Schmerz über den drohenden Verlust lässt erahnen, was die große Katastrophe vor den europäischen Küsten für die Tausenden, die ihr Leben im Mittelmeer verlieren, und ihre Familien bedeuten muss. So macht Enia das Unfassbare fassbar.Die Schönheit des Mittelmeers und der Natur werden ebenso sichtbar wie die menschlichen Tragödien, die dort zum Alltag geworden sind.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Schiffbruch vor Lampedusa von Davide Enia, Susanne Van Volxem, Olaf Matthias Roth im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literature & Literature General. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2019
ISBN
9783835343450
Auf Lampedusa sagte ein Fischer zu mir:
»Weißt du, was für Fische wir hier neuerdings wieder haben? Seebarsche.« Er zündete sich eine Zigarette an und verfiel in ein tiefes Schweigen. »Und weißt du, warum die Seebarsche zurückgekommen sind? Weißt du, wovon sie sich ernähren? Genau.«
Er drückte seine Zigarette aus und ging.
Es gab nichts, aber auch wirklich nichts hinzuzufügen.
Von Lampedusa sind mir die Schwielen an den Händen der Fischer in Erinnerung geblieben, ihre Berichte von den Toten, die sie bei jeder Fahrt aufs Meer hinaus mit dem Netz aus dem Wasser zogen – »Was soll das heißen: ›bei jeder Fahrt‹?« – »Bist wohl schwer von Begriff, was? Bei jeder Fahrt eben« –, ein paar rostige Kutter in der Sonne, vielleicht die letzten Zeugen jener historischen Ereignisse – Rost, Staub, Korrosion –, die Zweifel der Inselbewohner über den Sinn des Ganzen und das Wort »Anlandung«, das schon seit Jahren falsch verwendet wird, denn mittlerweile waren es regelrechte Bergungsmanöver, wenn die Boote in den Hafen geschleppt und die armen Teufel ins Aufnahmelager gebracht wurden und die Lampeduser ihnen ihre abgelegten Kleider überließen, als Akt der Barmherzigkeit, ohne viel Aufhebens, denn schließlich war es kalt und die Leute brauchten etwas Warmes zum Anziehen.
Es war so nebelig, dass man kaum etwas sehen konnte.
Die Horizontlinie zitterte.
Zum x-ten Mal staunte ich darüber, wie sehr Lampedusa seinen verunsicherten Gästen ihre Fremdheit vor Augen führen kann. Der Himmel so nah, dass er jeden Moment über dir einzustürzen scheint. Das Heulen des Windes an jeder Ecke. Allzeit blendendes Licht. Und überall das Meer, das unausweichliche, Quell der Freude und des Leids. Auf dieser Insel bist du ständig den vier Elementen ausgesetzt, nichts schützt dich davor. Es gibt keinen Zufluchtsort. Die Natur überwältigt dich, Licht und Wind dringen vor bis in dein Innerstes. Die absolute Wehrlosigkeit.
Es war ein sehr langer Tag.
Ich hörte meinen Vater rufen, während der Scirocco meine Gedanken durcheinanderwirbelte.
Ich hatte mich mit dem Taucher in der Wohnung eines Freundes verabredet.
Nur wir beide.
Der erste Eindruck: Was für ein Riese!
Zur Begrüßung sagte er:
»Keine Tonaufzeichnungen!«
Er hatte sich ans gegenüberliegende Tischende gesetzt, die Arme vor der Brust verschränkt.
Die ganze Zeit über blieb er in dieser Haltung sitzen.
»Über den 3. Oktober sage ich kein einziges Wort mehr«, fügte er hinzu.
Sein harscher Tonfall ließ keinen Platz für Fragen.
Die Stimme selbst war leise und unaufgeregt und bildete einen starken Kontrast zu seiner imposanten Statur. Manchmal schlichen sich in seinen Bericht, der vom Dialekt seiner Heimat gefärbt war – er stammte aus einem Bergdorf im Norden, wo man vom Meer lediglich den Hauch einer Ahnung hat –, Einsprengsel aus dem Sizilianischen ein, meinem Dialekt. Die zehn Jahre, die er aus beruflichen Gründen in Sizilien verbracht hatte, waren nicht ohne Spuren an ihm vorübergegangen. Für einen Moment bemächtigte sich die Sprache des Südens seines massigen Körpers und beherrschte ihn. Dann erschöpften sich seine Worte, und er starrte mich schweigend an, mit dem ganzen majestätischen Gestus der Alpen.
Er war eher durch Zufall Rettungstaucher geworden, ein Jobangebot, das ihm gleich nach dem Militärdienst zugeflogen war.
»Wir Rettungstaucher sind an den Tod gewöhnt. Von Anfang an wirst du damit konfrontiert, wie mit einer Tatsache. Am ersten Tag schon trichtern sie dir ein: ›Im Meer wird gestorben.‹ Und das stimmt. Ein Fehler beim Tauchen, egal wie winzig, und du bist tot. Und wenn du zu viel von dir verlangst, bist du auch tot. Der Tod ist dein ständiger Begleiter unter Wasser.«
Er war als Rescue Diver nach Lampedusa gekommen, als einer von denen, die sich bei Rettungseinsätzen in ihren orangefarbenen Taucheranzug zwängen und ins Meer stürzen.
Er beschrieb mir die Taucherausbildung, ihre Härte und Brutalität. Besonders ausführlich widmete er sich der rätselhaften Schönheit am Meeresgrund, wo kein Licht hin dringt und alles dunkel ist und still. Seit seiner Ankunft auf der Insel absolvierte er ein spezielles Trainingsprogramm, um für seine neue Aufgabe gewappnet zu sein.
Er sagte:
»Ich bin kein Linker, im Gegenteil, ich bin von der anderen Seite.«
Seine Familie, die erst der Monarchie nahestand, war später zu den Faschisten übergewechselt. Auch er fühlte sich dieser Ideologie verbunden.
Er fügte hinzu:
»Hier retten wir Leben. Auf See ist jedes Leben heilig. Wenn jemand Hilfe braucht, retten wir ihn. Hautfarbe, Rasse, Religion – völlig egal. Das ist das Gesetz des Meeres.«
Plötzlich fixierte er mich wieder mit seinem Blick.
Er war auch im Sitzen ein Riese.
»Und wenn du mitten auf dem Meer ein Kind rettest und es in deinen Armen hältst …«
Er fing an zu weinen, lautlos.
Seine Arme blieben über der Brust verschränkt.
Ich fragte mich, was er gesehen haben musste, was er erlebt hatte, mit wie viel Sterben dieser Riese vor mir konfrontiert worden war.
Nach einem langen Moment des Schweigens kehrten die Worte ins Zimmer zurück. Er sagte, diese Leute hätten ihr Land nicht verlassen sollen. Und dass die Flüchtlingspolitik in Italien ein Desaster sei, nichts als Missmanagement und Geldverschwendung. Dann kam er noch einmal auf seine anfänglichen Worte zurück:
»Auf See gibt es kein Abwägen von Alternativen, jedes Leben ist heilig. Und wer Hilfe braucht, dem wird geholfen. Basta.«
Dieser Satz war mehr als ein Mantra. Es war die reine Hingabe.
Die Worte kamen ihm nur langsam über die Lippen, als bewegten sie sich entlang eines Steilhangs in den Alpen.
»Je näher du den Booten kommst, umso gefährlicher wird es. Man muss höllisch aufpassen, dass man nicht plötzlich zwischendrin ist. Bei hohem Seegang passieren schnell Zusammenstöße – und zack! wirst du zerquetscht. Ein einziges Mal, bei Windstärke acht, habe ich wirklich mein Leben riskiert: Ich war im Wasser, hinter mir ein vollbesetztes Schlauchboot und vor mir unser Patrouillenboot, das von einer sieben Meter hohen Welle genau auf mich zu getrieben wurde. Mit einer Art Fallrückzieher, den nicht mal ich selbst mir zugetraut hätte, habe ich mich zur Seite geworfen. Die beiden Boote sind voll aufeinandergeprallt. Prompt gingen ein paar Leute über Bord, und ich bin natürlich sofort losgeschwommen, um sie zu retten. Später, als ich wieder an Land war, hatte ich immer noch das Patrouillenboot vor Augen, das genau auf mich zuraste. Ich bin minutenlang am Anleger sitzen geblieben, alleine, um damit klarzukommen, dass ich dem Tod in letzter Sekunde von der Schippe gesprungen bin.«
Er erklärte mir, dass die Einsatzkräfte bei jedem eingehenden Notruf eine andere Situation auf See vorfinden.
»Manchmal läuft alles total glatt, die Schiffbrüchigen verhalten sich ruhig, das Meer auch, und innerhalb von kürzester Zeit können wir sie an Bord holen. Manchmal sind sie aber so panisch und hibbelig, dass der Rettungskreuzer kurz vorm Kentern ist. Wir müssen dann erst mal alles daran setzen, sie zu beruhigen. Das hat oberste Priorität. Manchmal kommen wir auch just in dem Moment an, wenn ihr Boot gerade gekentert ist und sie überall im Wasser verteilt sind. Weil Afrikaner nur wenig Körperfett haben, gehen sie schneller unter als andere. Wir müssen also extrem fix sein. Es gibt keinen vorgeschriebenen Ablauf, man trifft seine Entscheidungen von Fall zu Fall. Wir können zum Beispiel mit einem Tau einen Kreis um eine Gruppe ziehen und sie auf diese Weise alle zusammen aus dem Wasser holen. Manchmal ist das Meer aber zu stürmisch, und sie gehen vor unseren Augen unter. In so einem Fall kannst du nur versuchen, so viele wie möglich zu erwischen.«
Wieder folgte eine lange, lange Pause. Sein Blick verharrte nicht mehr an der Wand hinter mir. Er ging weiter, bis zu einem Punkt im Mittelmeer, den er nicht vergessen konnte.
»Wenn du drei Leute vor dir hast, die untergehen, und fünf Meter weiter ertrinkt eine Mutter mit ihrem Kind – was machst du dann? Wohin schwimmst du? Wen rettest du zuerst? Die drei direkt vor dir oder die Mutter mit dem Neugeborenen ein paar Meter weiter?«
Es war, als wäre die Zeit zurückgedreht und er befände sich wieder dort, in demselben gnadenlosen Dilemma.
Die Schreie der Vergangenheit waren nicht verhallt.
Er war ein Riese, der Taucher.
Er wirkte unverwüstlich.
Und doch musste er in seiner Seele ein Heiliger Sebastian sein, von fürchterlichen Zerreißproben gequält.
»Das Baby ist winzig, die Mutter selbst noch ein halbes Kind. Sie sind da, fünf Meter von mir entfernt. Und direkt vor mir gehen drei Mann gleichzeitig unter. Wen soll ich also retten? Zu wem soll ich hin? Was tun? Rechnen – das ist alles, was man in so einer Situation tun kann. Mathematik. Drei sind mehr als zwei. Drei Leben sind ein Leben mehr.«
Er hörte auf zu sprechen.
Draußen der Himmel war bedeckt, der Wind kam von Südost, das Meer wogte. Ich dachte darüber nach, dass ich bei jeder Begegnung hier auf der Insel, jedes verdammte Mal, das Gefühl hatte, mit einem Menschen zu sprechen, dessen Seele ein einziger Friedhof war.
* * *
Ich versuchte meinen Onkel Beppe zu erreichen, den Bruder meines Vaters. Wir telefonieren ziemlich häufig miteinander. Oft fragt er mich: »Warum ruft mein Bruder nie an?« Und ich antworte: »Er ruft nicht mal mich an, seinen ältesten Sohn. Beppuzzo, so ist er eben.«
Über eine Minute lang klingelte es ins Leere.
Ich drückte auf Aus, steckte mein Handy in die Tasche und ging zurück ins Haus.
Wir aßen Thunfisch mit eingelegten Zwiebeln und einem Salat aus Fenchel, Orangen und geräuchertem Hering.
Wir waren zu viert am Tisch: Paola, Melo, mein Vater und ich.
Wir waren in Cala Pisana, einer kleinen Bucht im Westen der Insel, bei Paola, einer befreundeten Anwältin, die nicht mehr praktiziert und seit Jahren schon auf Lampedusa wohnt, wo sie mit Melo, ihrem Lebensgefährten, ein Bed & Breakfast hat – mein übliches Domizil bei meinen Rechercheaufenthalten auf der Insel.
Ich erzählte von meinen Erlebnissen während dieses langen Tages und tauschte mich mit Paola darüber aus. Melo nickte ab und zu und gab kurze zustimmende Laute von sich, maximal ein einsilbiges Wort. Mein Vater schwieg die ganze Zeit. Er war der schweigsame Tischgast. In über vierzig Berufsjahren als Kardiologe hatte er eine beeindruckende Fähigkeit entwickelt, zuhören zu können. Allein durch seine ruhige Haltung und...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Schiffbruch vor Lampedusa
  5. Am Ende Licht. Ein Nachwort von Albert Ostermaier
  6. Impressum