Rudolf Mellinghoff
Gemeinwohl im Steuerrecht
Das Gemeinwohl gehört ebenso wie die Gerechtigkeit zu den Begriffen, die allseits anerkannt und doch außerordentlich schwer zu fassen sind. Ganze Bibliotheken sind über Inhalt und Konkretisierung des Gemeinwohls geschrieben worden. Die Idee des Gemeinwohls ist in allen Epochen der europäischen Geschichte und in allen Staaten der Gegenwart diskutiert worden.[1] Es handelt sich um einen Begriff von hoher Abstraktheit, der sich einer abschließenden Definition entzieht, aber gleichwohl als Ziel jeder staatlicher Aktivität angesehen wird. Der Begriff des Gemeinwohls wird nicht nur in der politischen Rhetorik immer wieder genutzt, sondern auch im Verfassungsstaat zur Rechtfertigung staatlichen Handelns herangezogen. Auch das Bundesverfassungsgericht verwendet den Begriff des Gemeinwohls sehr häufig; in über 570 Entscheidungen, die in der amtlichen Sammlung des Gerichts veröffentlicht sind, wird auf das Gemeinwohl Bezug genommen.
Insbesondere auf dem Gebiet des Finanz- und Steuerrechts spielt das Gemeinwohl eine große Rolle. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine inhaltliche Konkretisierung des Gemeinwohls zu entnehmen ist. Sodann soll gezeigt werden, in welchen Bereichen des Finanz- und Steuerrechts dem Gemeinwohl eine besondere Bedeutung zukommt.
1. Inhaltliche Konkretisierung des Gemeinwohls
Das Gemeinwohl hat im Finanz- und Steuerrecht seinen festen Platz. Das Bundesverfassungsgericht erwähnt in über 300 Entscheidungen aus dem Rechtsgebiet des Steuerrechts den Begriff des Gemeinwohls. So verwirklicht die auf Formenklarheit und Formenbindung angelegte Finanzverfassung ein Stück Gemeinwohlgerechtigkeit.[2] In mehreren Entscheidungen rechtfertigt das Bundesverfassungsgericht im Steuerrecht Abweichungen von einer gleichheitsgerechten Besteuerung mit Gemeinwohlbelangen. Auch der im Rechtsstaatsprinzip angelegte Vertrauensschutz steht unter dem Vorbehalt des Gemeinwohls. Anerkannt ist, dass die Gewährung vollständigen Schutzes zugunsten des Fortbestehens der bisherigen Rechtslage den dem Gemeinwohl verpflichteten Gesetzgeber in wichtigen Bereichen lähmen und den Konflikt zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung im Hinblick auf einen Wandel der Lebensverhältnisse in nicht mehr vertretbarer Weise zulasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen würde.[3] Selbst ein rückwirkender Eingriff in abgeschlossene Sachverhalte ist zulässig, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Veränderung erfordern.[4]
2. Konkretisierung des Gemeinwohls in der Verfassung
Dabei bleibt zunächst offen, was konkret unter den Belangen des Gemeinwohls zu verstehen ist. Häufig wird das Gemeinwohl mit der Verwirklichung verfassungsrechtlicher Ziele begründet. Ausdrückliche Erwähnung findet das Gemeinwohl in Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG, wenn es dort heißt, dass der Gebrauch des Eigentums zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll. Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich allerdings nicht nur in seiner Rechtsprechung zu Art. 14 GG auf das Gemeinwohl, sondern ist ganz allgemein der Auffassung, dass der Schutz der Grundrechte ein wichtiger Gemeinwohlzweck ist.
Der Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG) sind besonders wichtige Verfassungsgüter; dementsprechend verfolgen Gesetze, die dem Schutz dieser Grundrechte dienen, Gemeinwohlbelange von hohem Wert.[5] Dies betont das Bundesverfassungsgericht zuletzt in seiner Entscheidung zum Atomausstieg. Hierbei handelt es sich jedoch um eine schon lange bestehende Rechtsprechung des Gerichts.[6] Auch steuerrechtliche Maßnahmen, die dem Umweltschutz dienen, werden ausdrücklich als gemeinwohldienlich gerechtfertigt.[7] Ganz allgemein werden Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit ebenso wie Vorsorgemaßnahmen oder die Suchtprävention von Gemeinwohlzielen getragen.[8]
Aber nicht nur das Grundrecht auf Leben und Gesundheit wird als wichtiger Gemeinwohlbelang aus den Grundrechten abgeleitet. Ganz allgemein konkretisieren die grundrechtlichen Pflichten und Aufgaben des Staates das Gemeinwohl. So handelt es sich bei der Pflicht, Wissenschaft und Forschung zu fördern (Art. 5 Abs. 3 GG), um einen unmittelbar aus dem Grundgesetz ableitbaren Gemeinwohlbelang.[9] Der besondere Schutz, den das Grundgesetz in Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie gewährt, konkretisiert ebenfalls das im Grundgesetz normierte Gemeinwohl.[10]
Neben den Grundrechten dienen die Staatszielbestimmungen dem Gemeinwohl. Die institutionelle Gewährleistung der chancengleichen Willensbildung ist notwendige Voraussetzung für die Demokratie und damit ein wichtiger Gemeinwohlbelang, der auch im Steuerrecht eine Rolle spielt.[11] Eine Verbindung zur demokratischen Willensbildung wird hergestellt, wenn die Begünstigung von Sonderinteressen einzelner Gruppen als gemeinwohlwidrig angesehen wird.[12] Die Begrenzung ungehemmten Wettbewerbs wird allgemein als Gemeinwohlbelang angesehen. Der Gesetzgeber darf die Freiheit des Wettbewerbsverhaltens begrenzen, um den Wettbewerb in gemeinwohlverträglichen Bahnen zu halten.[13]
Insbesondere das Sozialstaatsprinzip erlaubt dem Gesetzgeber wichtige Maßnahmen zur Förderung des Gemeinwohls. Es ist daher anerkannt, dass Abgaben sich an der Bedürftigkeit der Abgabepflichtigen orientieren dürfen.[14] Vor allem das Einkommensteuerrecht orientiert sich an den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit. Das subjektive Nettoprinzip, die Steuerfreiheit des Existenzminimums, die Familienbesteuerung, die Berücksichtigung von Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen und seit jeher die progressive Besteuerung sind Ausdruck des Sozialstaatsprinzips und der Gemeinwohlbindung des Steuerrechts.[15]
Auf das Rechtsstaatsprinzip wird Bezug genommen, wenn die Funktionsfähigkeit der Steuerrechtspflege als Teil der gesamten Rechtspflege einen Gemeinwohlbelang von großer Bedeutung darstellt.[16] Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung, die Bekämpfung der Steuerumgehung, aber auch die Verhinderung des Missbrauchs von Sozialleistungen sind in diesem Zusammenhang zu nennen.[17] Zum Rechtsstaatsprinzip und gleichzeitig zu den wesentlichen Funktionsbedingungen des Staates gehört die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege.[18] Die Ordnung des gerichtlichen Verfahrens, die Rechtssicherheit und größere Klarheit sind Gemeinwohlbelange,[19] die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten lassen.
3. Ergänzende allgemeine Konkretisierungen des Gemeinwohls
Das Grundgesetz selber enthält allerdings nur eine Teilkonkretisierung des Gemeinwohls. Mit der Menschenwürde, den grundrechtlichen Schutzpflichten und den Staatszielen enthält es wichtige Anhaltspunkte dafür, was in der Bundesrepublik Deutschland als Gemeinwohl angesehen wird. Darin erschöpft sich aber nicht der Bedeutungsgehalt des Gemeinwohls. Vielmehr gibt es zahlreiche weitere Maßnahmen, die der Allgemeinheit dienen und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Gemeinwohlbelange angeführt werden. Im Folgenden sollen davon nur einige Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Bereich des Abgabenrechts genannt werden.
Das Verbot spezifischer gewerblicher Betätigung von anwaltlichen Berufsträgern wird wegen der Bedeutung der Rechtspflege als Gemeinwohlbelang angesehen.[20] Das Verbot des Führens von Zusätzen zur Berufsbezeichnung »Steuerberater« wird mit wichtigen Gemeinwohlbelangen gerechtfertigt, weil es vor der Verwässerung der amtlichen Bezeichnungen und Titel schützt und insbesondere zur Vermeidung einer Irreführung der steuerrechtsuchenden Personen Klarheit darüber schafft, welche Bezeichnungen und Auszeichnungen auf einer amtlichen Verleihung beruhen, daher eine hoheitliche Gewähr für die ihnen zugrunde liegenden Qualitätsstandards in Anspruch nehmen können und besonderes Vertrauen verdienen.[21]
Neben der Vereinfachung des Steuerrechts handelt es sich auch beim Ziel der Bewältigung der finanziellen Lasten der deutschen Wiedervereinigung um einen überragenden Belang des Gemeinwohls. Auch die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts stellt ein besonders gewichtiges Gemeinwohlziel dar.[22] Die bloße Absicht, staatliche Mehreinkünfte zu erzielen, ist allerdings für sich genommen noch kein den Vertrauensschutz betroffener Steuerpflichtiger regelmäßig überwindendes Gemeinwohlinteresse, weil dieses Ziel durch jedes, auch durch sprunghaftes und willkürliches Besteuern erreicht würde. Das Interesse des Staates, durch die Änderung von Steuergesetzen unerwartete Mindereinnahmen auszugleichen oder bestimmte Lenkungseffekte des Steuerrechts zu korrigieren, ist hingegen ein wichtiger Gemeinwohlbelang.[23]
Auch wirtschaftspolitische Ziele fallen unter das Gemeinwohl.[24] So sind die Belange der Bau- und insbesondere Wohnungswirtschaft gemeinwohldienlich. Insbesondere bei der Zurverfügungstellung ausreichenden Wohnraums handelt es sich um einen überragenden Gemeinwohlbelang, ist damit doch ein existenzielles Grundbedürfnis angesprochen.[25]
Das Bundesverfassungsgericht erkennt an, dass das Gemeinwohl nicht lediglich das Handeln des Staates im engeren Sinne determiniert, sondern auch für das Handeln der Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung ist.[26] Die Gemeinwohlsgebundenheit und Gemeinwohlsverpflichtung erwähnt das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich im Zusammenhang mit der Erbschaftsteuerbelastung von mittelständischen Unternehmen: »Derartige Betriebe, die durch ihre Widmung für einen konkreten Zweck verselbständigt und als wirtschaftlich zusammengehörige Funktionseinh...