Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen
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Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen

  1. 800 Seiten
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Über dieses Buch

Christine Lavants Gedichte zählen schon lange zum festen Kanon der Nachkriegsliteratur. Als Erzählerin ist sie eine Entdeckung der letzten Jahre.Mit großem Einfühlungsvermögen und ungeschöntem Realismus, sehr direkt und unverwechselbar poetisch rückt Christine Lavants Prosa an die Schicksale und inneren Welten ihrer Figuren heran. Mit »formal traumwandlerischer Sicherheit" (Franz Haas in der NZZ) erzählt Lavant von dem, was sie am besten kennt: von verletzten Kinder- und Frauenseelen, von den feinen und weniger feinen gesellschaftlichen Unterschieden, von Armut, Krankheit und Ausgrenzung, von erzwungener Anpassung, Bigotterie und Gewalt, aber auch von der befreienden Kraft der Liebe und der Fantasie.Der zweite Band der vierbändigen Werkausgabe bietet alle zwölf zu Lebzeiten Lavants erschienenen Erzählungen in neu edierter Gestalt, da viele der Erstdrucke von fremder Hand bearbeitet waren. Neben ihren beiden ersten Buchveröffentlichungen »Das Kind" (1948) und »Das Krüglein" (1949) enthält der Band »Die Rosenkugel" (1956), die beiden Sammlungen »Baruscha" (1952) und »Nell" (1969) sowie die verstreut publizierten Erzählungen.

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Information

Verlag
Wallstein
Jahr
2015
ISBN
9783835327993

Nell. Vier Geschichten

Nell

Diese Kirche war in der Systemzeit aus der Scheune des ehemaligen Herrenhofes ausgebaut worden. Das Herrenhaus wurde zum Pfarrhof, die Stallungen zu Wohnungen und unterhalb zu einem Kindergarten, die Scheune aber, wie schon gesagt, eine Kirche. Eine Notkirche! Nördlich daran anschließend die Sakristei und oberhalb ein Turmzimmer und eine Notwohnung. In dieser wohnten sie nun schon über zehn Jahre und hatten darin allerlei überstanden. Nell bedachte dies alles, obwohl sie eigentlich andächtig hätte sein wollen. Ihr war sehr nach Beten zumute. Nicht dass sie Gott in allem begriff, dessen rühmte sie sich auch nie, aber seine hier eingesetzten Diener sollten wenigstens nicht vergessen, wie völlig furchtlos sie in den ganzen Verfolgungsjahren zu Gott und zur Kirche gehalten hatte. Jeden Morgen hatte ihr Mann ihr das Konzentrationslager oder gar den Galgen prophezeit – fast mit Hohn und Schadenfreude manchmal und jedes Mal mit der wütenden Erklärung, dass er keinen Finger für sie rühren werde. Sollst du auch gar nicht! war jedes Mal ihre ruhige Antwort gewesen, denn ihr dünkte, dass hier nur einer den Finger zu rühren hätte, einer, dem sie sich so nahe unter die Hände zu stellen pflegte, dass jede Zwischenhand nicht nur überflüssig, sondern sogar unmöglich wurde. Wenn Paul, der ewige Sekten-Schwanker, das oder jenes wollte oder nicht wollte, so konnte sie wohl stundenlang in Güte und Scherz mit ihm herumstreiten, aber seinen tausend Fremdworten zu Trotz warf sie ihm schließlich den einzigen und unüberwindbaren Satz hin: Zuerst kommt Gott, dann kommt lange nichts und dann erst kommst du mit all deinem Unsinn. Ja, es hatte mehrere Male schon so ausgesehen, als sollte sie, Nell, eine geschiedene Frau werden, das heißt, eine verlassene, denn scheiden hätte sie sich ja nie lassen. Aber immer wenn es gerade am schlimmsten wurde, griff der Herr ein und manchmal so, dass man heimlich leise darüber lächeln musste. Warum auch nicht? Gott, der Inhaber aller guten Eigenschaften, musste doch auch Humor haben. So ließ er zum Beispiel einmal ein theosophisches Manuskript, das heimlich von Hand zu Hand ging, gerade in der Zeit, da Paul es hatte und es zu einem Bad an den Bach mitgenommen hatte, von Heuschrecken überfallen werden, welche es samt allen Offenbarungen auffraßen. Hierüber geriet Paul mit dem Theosophenhäuptling in Streit und nachts darauf hatte er eine Art Vision, von der er behauptete, dass ihm darin Christus erschienen sei. Hierbei war freilich nichts mehr von Humor, denn damit spielt nicht einmal Gott. Jedenfalls tauschte Paul sofort alle sektischen Schriften für Jakob Böhme und Silesius ein. Nell begriff, dass er leide. Augen hatte er manchmal wie ein Irrer und wenn er von der schweren Arbeit heimkam, nahm er sich oft nicht einmal die Zeit zu essen oder auch nur die ledernen Gelenkschutzbänder von den Knöcheln zu nehmen, sondern griff nach Böhme und Silesius. Schlimm wurde es nur, wenn er vorlas, denn das tat er schlecht, stotternd und erregt und man musste sehr seinen inneren Zustand bedenken, um es ertragen zu können. Vorlesen ist schamlos, empfand Nell, man liest über göttliche Dinge nicht laut, man bedenkt sie nach eigenem Vermögen innen und allein, denn jeder hat das ewige Abbild anders in sich. Manchmal graute es ihr fast vor diesem Abbild, so groß war es gegen ihre eigene Kleine, dann vermochte sie nur mit großer Überwindung zu beten. Überhaupt erschien ihr das Beten, trotzdem sie oft auch wieder Bedürfnis danach hatte, wie ein furchtbares Tagwerk, viel zu schwer für eine menschliche Seele. Denn die Zerstreuung ging mit der Andacht Hand in Hand, mehr aber noch die Versuchung. Eine elende und das Herz klamm machende Versuchung. Bete um eine lichtere Wohnung, bete um einen höheren Stundenlohn, bete, dass Karl in Deutsch besser mitkommt, bete, dass der Krebs nicht weitergreift … Dies alles lag so nahe, vielmals näher als das Heil der Seele, ja sogar wenn sie um die rechte Erkenntnis für Paul betete, war es durchaus nicht gewiss, ob sie damit nicht in erster Linie für sich ein friedlicheres Dasein wollte, ohne das ewige Gezänk vor dem Besuch der Messe.
Auch jetzt war die Versuchung wieder über Nell. Sie kniete ganz vorne an der Kommunionbank, hinter sich die leere Kirche mit den Scheunenfenstern, vor sich den dunklen geschlossenen Altar. Wie wohl das tut, dachte sie, und das andere, was ihr hernach sogleich einfiel, gab ihrem keilförmigen Gesicht einen eigentümlichen Ausdruck von fanatischer Erregung und Kränkung. Ja, es tat ihr wohl, allein hier zu sein, denn der Priester – alle heiligen Weihen ausgenommen! – stieß sie ab. Es waren ihrer vier im Pfarrhof, zwei Laien und zwei Hochgeweihte. Gegen die Laien war nichts zu denken, zwei armselige demütige Knechtlein, etwas eigensinnig wohl auch, aber man sagte von Herzen gern Bruder zu ihnen – Gott segne sie! Freilich, Herr, mehr Segen noch brauchen die Hochgeweihten. Zwei Blinde und Taube, und es müsste sie endlich einer an den Schultern nehmen und sie so lange rütteln, bis sie wach werden und sehen und hören. Aber sie wollen ja nicht. Nein, der Fremde, der Ungar, der schon gar nicht. Der will ja nur selbst gehört und gesehen sein oben auf der Kanzel. Der schreit und tobt wie ein Unwetter, säuselt wie ein Abendwind, wimmert und stöhnt, macht Pausen von vielen Sekunden, um dann alle mit einem wüsten Aufschrei aus den Bänken hochzuschrecken. – Sie nennen ihn alle schon bloß mehr den Schauspieler! – und das nicht etwa Kirchenfeindliche, sondern alle, welche die Kirche und seinen Segen brauchen wie das tägliche Brot. Aber das ist ja nicht alles … O Gott, lass wenigstens das andere nicht wahr sein. Aber auch dieses andere sagen nicht etwa die Kommunisten, sondern die ganz treuen Kirchgänger und manchmal weinen sie fast dabei, so schämen sie sich und haben Angst, dass das Gerede weitergeht und bis zu den Kirchenfeindlichen hin. Man muss es doch endlich einmal dem Pater Rektor klar machen, sagen sie, aber wer – wer soll das tun. Warum ist der selbst auch so blind und sieht nur, was er nicht sehen soll und sieht das noch falsch und unnatürlich. Ist es nicht einfach zum Lachen, wenn er auf einmal verlangt, dass die im Stallgebäude wohnenden Arbeiterfrauen ihre Leibwäsche nicht mehr im Hof aufhängen sollen. Es ist unschicklich und schamlos, sagt er! Die früheren Patres haben dies einfach übersehen, natürlich, denn jeder Mensch braucht Wäsche und wenn Wäsche nass ist, muss sie wo hängen. Wahrscheinlich erträgt das der Ungar nicht. Gott steh ihm bei, lass ihn leicht krank werden oder gib seinen Oberen ein, dass sie ihn von da abberufen, der passt nicht daher in die Arbeitersiedlung. Der braucht mehr Studierte um sich, die ihn ablenken können, damit er nicht auf die anderen Gedanken kommt, die ein Geistlicher eben nicht haben darf. Gott steh ihm bei. O, ein Vaterunser für den Pater …
Nell betete es; ihr Gesicht ging wie ein verkehrter Keil gegen den Himmel, sie war innen ganz krank. Aber sie betete doch bis zu Ende, klar und zäh und absolut nur für das Heil des Paters. Es erschöpfte sie und während sie dann eine Pause einschob, war der letzte schwere Schritt der Agnes, der windischen Kirchendienerin, schon oben im Turmzimmer und dann läutete es. Der Engel des Herrn brachte Maria – – begann Nell, aber sie merkte, wie ihr die Angst die Augäpfel weiter aus den Höhlen trieb, denn nun würde es wieder anfangen. Ja, Herrgott – muss das denn sein! schrie sie auf einmal auf, mitten im Gebet, sie konnte nicht anders. Auf der Stirne stand ihr kalter Schweiß und es war ihr so übel, dass sie die Kirche verließ, ohne das Gebet zu vollenden. Ein paar Schritte um die Ecke, dann sah sie schon Paul. Die Fenster ihrer Wohnung waren schmale, der Länge nach angebrachte Schlitze, sehr tief unten angebracht, nicht einmal in Kniehöhe und es musste fast ständig Licht im Zimmer brennen. Über einem dieser Fenster hing Paul heraus als wolle er sich im nächsten Moment herunterstürzen. Vor einem knappen Jahr war er von der schweren Arbeit und dem ewigen Sinnieren erschöpft mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus gebracht worden. Eine wüste, jähzornige, arme Seele. Paul, leg dich aufs Sofa, nimm die Kopfhörer um! … rief sie beschwörend hinauf, denn Bert, der Führer der katholischen Jugend, pfiff schon um die Kirchenecke herum, einen Fußball vor sich herstoßend. Der Ball war eine momentane Hoffnung. Vielleicht würden sie sich, da der Abend ja warm und schön war, doch dafür entschließen hier im Hof zu krawallisieren, obwohl ja auch das schon schlimm genug ist, wenn ohnedies den ganzen Tag über die sechzig Kinder vom Kindergarten da vor dem Fenster getobt und geweint hatten. Sie ertrugs schon lange, sie würde auch die katholische Jugend noch eine Weile ertragen, aber wahrscheinlich eben auch nur eine Weile. Dreimal hatte sie den Pater Rektor schon mit aufgehobenen Händen gebeten, die Jugend woanders unterzubringen und nicht gerade im Turmzimmer fast Tür an Tür mit ihrer Wohnung. Nichts, gar nichts, wie gegen eine Mauer geredet war alles. Und Paul geht oben schon wieder herum wie ein gefangenes Tier vor dem Ausbrechen. Wenn er nur nicht wieder weint! … Gott lass ihn wenigstens nicht weinen, nicht vor meinen Augen, denn er ist mein Mann und Karls Vater. Auch um Karl geht es, er bekommt schon ganz erwachsene und feindselige Augen, wenn er einen der Patres sieht, und soll doch noch Ehrfurcht haben. Zehn Jahre hab ich Tag für Tag um Karl gekämpft, dass er überhaupt hat geboren werden dürfen, dann, dass er ordentlich getauft wurde, dann um den Religionsunterricht, um seinen Kirchenbesuch, tagtäglich bin ich gegen meinen Mann, für dich, o Gott, aufgetreten … Nell wollte rasch oben sein, ging aber doch nur wie ein altes Weib über jede Stufe einzeln hinauf, denn ihr nach stürmte schon die katholische Jugend, zwei drei vier fünf auf einmal, pfeifend, grunzend, singend. Nell machte sich breit und langsam, als könne sie damit die Treppe wenigstens noch für einige Minuten verstellen. Aber die Knaben waren voll Lust und Jugend, waren stark und schmal wie Pfeile, wenn es darauf ankam, sie überstürzten Nell, mancher grüßte noch flüchtig, aber höflich, einige grinsten bloß, denn sie wussten in ihr eine Feindin. Alte Betschwester, vermurkste Schachtel – nun ja, das war nichts besonders Schlimmes, was sie da dachten, sie waren eben jung und hatten vor, einen mutigen, frischen neuen Wind in das lahme Segel der Kirche zu bringen. Das kann man nicht mit Beten und Knierutschen allein, das muss auch werktäglich und werktätig vor sich gehen, man muss sich dafür an Geist und Leib gleich munter und stark machen, muss boxen, fußballern, ringen, aber auch Schach spielen, singen, kommandieren und gehorchen. Hui-heil – auf zum Kampf gegen die Kirchenfeinde!
Und Nell schwankte durch diesen Sturm nach oben, matt an Leib und Seele, ohne direkten Hass, aber auch ohne völlige Einsicht. Oben hing Paul immer noch aus dem Fenster, er musste dabei fast auf den Fersen hocken und fortwährend zählte er, dreizehn vierzehn fünfzehn sechzehn siebzehn – Hör auf, bat Nell, es hat ja keinen Sinn, weniger werden es deswegen ja nicht. Aber er hörte erst auf, als keiner mehr nachkam.
Dann erhob er sich langsam, wandte sich zu Nell und starrte sie an wie eine Todfeindin. Hast wieder gebetet? höhnte er, hast wohl gar darum gebetet, dass sich noch ein paar Lümmel bekehren und noch um zehn mehr zu der Horde dazukommen, waas? … Leg dich nieder, nimm die Kopfhörer, vielleicht gehen sie auch bald wieder hinunter, sie haben ja den Fußball mit … Den Fußball – wiederholte Paul öde, indem er schon zu Nells Entsetzen schräg auf und nieder zu gehen begann. Den Fußball – und fünfundzwanzig und genau unter unserem Fenster – Aber nicht einmal das erfüllte sich, die Jugend hatte wohl beschlossen für diesen Abend im Turmzimmer, dem von ihrer gemeinsamen Ersparnis nett hergerichteten Turmzimmer, zu bleiben. Fünfundzwanzig Knaben im Alter zwischen fünfzehn und achtzehn können beim allerbesten Willen nicht leise sein. Ob sie nun Tischtennis oder Schach spielen, ob sie aus Spaß raufen oder bloß klug disputieren, sie können nicht verhindern, dass ein einziges Zimmer für ihre verschiedenen Ausbrüche zu klein wird. Nell sagte sich das alles vor, sie sagte es auch Paul, der schräg auf und nieder ging. Karl war gottlob von der Geigenstunde noch nicht zurück, hoffentlich hat ihm nicht wer das Rad gestohlen, dachte Nell, während sie das arg ausgebuckelte Sofa mit Pölstern herrichtete. Komm Paul, schau nur, wie lieblich ich das Dromedar hergerichtet hab, versuchte sie zu scherzen, aber er hatte schon die Ellbogen auf die Kommode gestützt und weinte wimmernd wie ein kleines Kind: Das halt ich nicht aus, das halt ich nimmer aus, winselte er. O erbärmlich, o ein höllischer erbärmlicher Anblick. Drüben johlten sie und einige schlugen mit den Absätzen gegen den Boden. Sicher waren sie überaus fröhlich. Eine gesunde Jugend, eine unschuldige Jugend, das sagte sich Nell immer wieder vor, aber Paul wimmerte bloß: Ich halt das nimmer aus. Schließlich war es Nell, die es nimmer aushielt. Wie eine Säge ging ihr Pauls Gejammer durch das Herz. Er war ihr Mann, ihr Brotverdiener, er hatte seine Hände für sie und Karl so ausgeschunden, dass er sie an den Gelenken mit Lederriemen zusammenhalten musste, er war mit seinen noch nicht vierzig Jahren schon kreuzlahm und wenn er abends todmüd heimkommt, kann er es nicht aushalten und muss weinen wie ein Kind. Leg dich hin, ich bitt dich um alles in der Welt, leg dich hin, nimm die Kopfhörer, ich geh wie ich bin zum Pater Rektor, er muss das einsehen. Ich schleif ihn an der Kutten herauf, wenn er gutwillig nicht mitgeht! … Ja, jetzt war sie mutig und stark, sogar so stark, dass sie Paul bis zum Sofa brachte, wo er hinfiel und sich die Kopfhörer umlegen ließ. Sie deckte ihn noch mit ihren Mantel zu, obwohl es heiß war hier vom Kochen her, aber es fiel ihr sonst nichts ein, womit sie ihm noch wohltun hätte können. Sie liebte ihn. Voll einer hastigen und verquälten Zärtlichkeit brachte sie den Gang über die Treppe hinter sich. Schräg ging sie durch den plumpen Schatten des Gebäudes – hier waren gegen Ende des Krieges Brandbomben gefallen wie Regen, ohne die Kirche auch nur anzurühren, ein Wunder, wenn man es genau nahm! – und sie nahm es genau, auch jetzt noch, es verhielt sie, ehe ihre Holzsohlen den Schatten des Kreuzes betraten. Diesen umging sie; eine kleine nachdenkliche Zeitspanne entstand, in welcher es ihr einfiel, dass sie ihren Mann erst lange nach Gott lieben dürfe und dass jede Unternehmung wohl zu Gunsten ihres Mannes, nie aber gegen Gott ausgeführt werden könne. Dies machte sie nicht mutlos, nur ein weniges sanftmütiger und voll guten Willens, dem Priester – sei er wie er sei – alle mögliche Ehrfurcht zuteilwerden zu lassen. Als sie das ehemalige Herrengebäude betrat, kam ihr jener der Laienbrüder entgegen, welcher auf eine Art sprach, als wage er dies vor lauter Demut nicht wie andere Menschen durch den Mund, sondern durch die Nase. Sein geschorenes Haar flehte um Rücksicht für den Herrn und seine Nase sagte, Hochwürden könne niemanden empfangen, er bete gerade sein Brevier.
Nell glaubte zu wissen, dass man ein Brevier in Raten abbeten kann und es dünkte ihr, den weinenden Mann daheim bedenkend, nicht zu viel, eine Unterbrechung zu verlangen. Bruder Johannes, es ist was sehr Wichtiges, sagte sie, ich muss mit dem Pater Rektor reden können und zwar gleich, bitte sagen Sie ihm, dass es sein muss … Alles zu seiner Zeit, sagte die winzige demütige Nase unter den wunderbar blauen, eigensinnigen Kinderaugen. Da schob Nell den Bruder einfach zur Seite, ders sprachlos hinnahm, weil er von Frauen nicht berührt werden wollte, ein winziger Heiliger ohne großen Anfangsbuchstaben, ein Eigenschaftswort eines Heiligen eigentlich nur. Es genügte nicht für Nell, die viele Eigenschaften hatte, mit denen sie heftig umgehen konnte. Sie kannte das Haus sehr gut und ihr Pochen war beinahe das eines Mitbewohners, sodass der Pater Rektor ohne zu überlegen Herein! sagte. Auch als er Nell schon gewahrt hatte, erschrak er noch nicht so, dass es ihn etwa vom Stuhl gehoben hätte. Sie wünschen? fragte er kühl und legte sorgsam ein Heiligenbildchen ein, ehe er das vor ihm liegende Buch zumachte.
Nell merkte sogleich, dass er noch blinder und noch tauber sein wollte als bisher und das warf viele ihrer guten Vorsätze über dem Haufen, sodass sie Ehrfurcht Ehrfurcht sein ließ und einfach sagte: Ich muss mit Ihnen reden, so geht es nun bestimmt nicht mehr weiter, am besten wärs, wenn Sie einmal mit hinüberkommen täten und sich das selber anhören.
Ach, jetzt kommen Sie schon wieder damit! Sie sind wirklich eigensinnig, liebe Frau, Sie wissen ganz gut, dass die katholische Jugend das Turmzimmer für sich hat herrichten lassen und niemand das Recht hat, sie daraus zu vertreiben. Vielleicht denken Sie einmal mit etwas mehr christlicher Demut darüber nach – ja? …
Nein, sagte Nell aufgebracht, nein, ich denke nur, dass mein Mann drüben mit den Nerven so fertig ist, dass er mir jeden Abend wie ein kleines Kind weint – ich bitte Sie Hochwürden! – wie ein kleines Kind …
Ach Nerven, sagte der Priester mäßig lächelnd, Nerven sind eine Einbildung, die wir uns lieber nicht...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Das Kind
  6. Das Krüglein
  7. Baruscha
  8. Thora und die Rosenkugel
  9. Nell. Vier Geschichten
  10. Einzelveröffentlichungen
  11. Anhang