Emil
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Emil

Roman

  1. 240 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Seit Emil acht Jahre alt war, ist Joel mehr oder weniger allein für seinen geliebten Sohn zuständig, weil Lea, Emils Mutter, bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Ziemlich hilflos war Joel mit der Situation am Anfang, aber irgendwie hat sich im Laufe der Zeit doch alles ganz gut ergeben. Nur dass Emil seinen Eltern so gar nicht ähnelte, konnte niemandem, auch dem Kind nicht, verborgen bleiben. Emil wurde als Säugling adoptiert. Seine leiblichen Eltern, damals selbst fast noch Kinder, verweigerten jeden Kontakt. Aber man wandelt ja durch die selbe Stadt! - und ist es nicht wahrscheinlich, dass man sich irgendwann wenigstens zufällig begegnet? Würde man die Eltern erkennen? Würde man erkannt werden? Suche und Abwehr laufen nebeneinander her und zugleich spannungsvoll ineinander.Als Joel im Alter den Tod nahen fühlt, verfällt er der verrückten Idee, diese Leerstelle in Emils Leben, der inzwischen 38 Jahre alt ist, zu füllen. Er will Emil seinen leiblichen Eltern zurückbringen.Die Kritik nannte Emil ein "stilistisches Meisterwerk des begabten jungen Autors".

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Information

Verlag
Wallstein
Jahr
2013
ISBN
9783835323551
1
Lea
Es war einmal ein großes, weißes Haus, und wir gingen zu dem weißen Haus, und da waren viele Kinder, kleine, klitzekleine Kinder, und das Haus war groß, und wir gingen hinein ins große Haus, und da waren viele Kinder, ein Junge mit einer Nase wie eine Kartoffel, nein, keine Nase hatte er, sondern eine Knolle – eine Knolle – voller Warzen wie ein alter Mann, ein richtiger alter Mann war das und kein Kind, ein alter Mann; und da war ein Mädchen, das Gesicht verschmiert mit grünem Rotz, und ein Junge, der schrie und weinte, und ein Junge mit Lippen in der Farbe von ranziger Bitterschokolade, der hieß Chaim, Chh----, und ein Kind mit einer hässlichen Wunde, und noch andere Kinder. An die anderen Kinder erinnere ich mich nicht und dein Vater erinnert sich schon gar nicht, mit Mühe erinnere ich mich an den Jungen mit der Knolle und an den mit Augen wie Glaskugeln und an den Jungen, der wie ein Hund bellte, und jenen, der sich in den Backofen verkroch, und an den alten Mann denkt schon lange keiner mehr, der ist schon tot. Denn ich erinnere mich nur an einen Jungen mit einer kleinen Nase, der ganz, ganz still war, ruhig und regelmäßig atmete, ohne zu schnaufen oder zu pfeifen, und auf dieses Kind wiesen wir gleich und sagten: Das ist das Kind, und unser Blick ließ nicht ab von ihm, bis jemand kam und es aus dem Bett hob und uns in den Arm legte. Und wir nahmen es in die Arme und nahmen kein anderes, und wussten sofort, das bist du.
[ ] und [ ]
Sechzehn waren sie. Beide. Ihre Eltern, ja, alle vier, alterten über Nacht, wie eine geballte Faust, von deren Daumen nur ein Stummel übrig ist. Der eine Vater sagte: Nein, nein. Die eine Mutter sagte: Was soll das? Was soll das?, die andere: Das kommt überhaupt nicht in Frage, nicht bei mir, und der andere Vater spuckte auf den Boden und biss sich in den Finger. Nichts hören wollten sie. Nichts sehen. So rissen die beiden einige Wochen vor dem Termin Richtung Jaffa aus. Die Busreise nach Norden, sie allein und im neunten Monat, würde sie nie vergessen. Wie sie sich auf dem Weg durch die Wüste beim großen Krater erbrach und alle Reisenden sie anstarrten. Wie der Busfahrer ausstieg, mit einer Glasflasche voll Wasser in der Hand hinter ihr stand und sie fragte: Soll ich Ihnen etwas Wasser über den Kopf gießen?, und lange zu seinen Passagieren hinüberblickte. Sie plötzlich sah. Ein Fenster nach dem andern mit dem Blick abtastete. Ein Fenster nach dem andern. Aus einem Fenster nach dem andern antworteten ihm Blicke. Verschlossene Mienen. Gegen die Scheiben gepresst. Ein Glitzern. Alle Sitze bis auf einen waren besetzt.
Wieder blickten sie verstohlen auf den zerknitterten Zettel, aus dem ein Wellenrauschen aufstieg wie aus einer Muschel. Morgen würden sie den Vater treffen.
Die Stadt
In 250 Millionen Jahren werden die Kontinente verworfen sein, zu einem Klumpen zusammengepresst, in der Mitte ein großer, salziger Binnensee wie ein riesiger Tropfen, Überrest der Ozeane aus fernen Tagen. Große Glut wird herrschen, heiße Winde werden wehen, und in den Straßen der Stadt, die das Eis schon vor Millionen Jahren von der Erdoberfläche ausradiert haben wird, nur roter Sand, sengende Hitze, Spuren der Wüste. Kein einziges Lebewesen wird es in der Stadt geben, nicht einmal Spinnen oder Bakterien, völlig leer wird sie sein. Alle Straßenschilder werden in den Straßen verstreut liegen und tief im Erdinneren, unter kilometerdicken Schichten von Geröll, Eis und dergleichen, werden kopfüber, erloschen, die Straßenleuchten stecken. Zu dünnem Staub zermalmte Namen. Blätter im Sand. Lastende rote Stille auf der Erde. Ein paar Minuten vergehen. Ein Jahrzehnt. Zwei. Nichts bewegt sich. Alles steht still. Kommt man nach hundert Jahren wieder, ist alles unverändert. Man will schier verzweifeln. Man verzweifelt. Doch wie eine zersprungene Blumenvase, wie ein riesiges Puzzle, werden die Bruchstücke sich vielleicht allmählich wieder zusammenfügen. Mäßiger Mühe, ein paar Hundert Millionen Jahre vielleicht, wird es dazu bedürfen. Und siehe, nach dreißig, sechzig, neunzig Millionen Jahren ist da schon ein niedriger Baum oder ein zartgrüner Busch oder eine winzige Kreatur, die im heißen Wasser schwimmt. Blasen, Blasen im fauligen Schlamm. Solch gewaltige Mühe, in einem entlegenen Winkel des einzigen Kontinents beginnt schon ein Baum zu wachsen, da schlägt wieder ein Asteroid ein und löscht Fischlein und Baum aus, oder Eis bedeckt wieder das Meer und alle Lebewesen sterben, und erneut breitet sich eine Weile tiefer Schlaf über alles, dreißig Jahre, dreißig Millionen Jahre lang, da ist keine Uhr, um die Zeit zu messen. Und wieder ein Fischlein, diesmal ein wenig größer und mit Flossen bestückt. Und wieder Moos auf den Felsen. Und in den Flüssen fließt wieder Süßwasser und ergießt sich ins Meer. Und wer ist denn das, wer geht da in der Ferne, das ist ja ein Kind, das schon auf der Bildfläche erscheint, und am Flussufer sitzend eine Rechenaufgabe löst. 1 + 1 =
Genug. Steh auf, Joel. Steh auf. Die Eltern warten.
[ ]
Am Busbahnhof hielt [ ] oft bei den Bussen Ausschau. Manchmal stundenlang. Alle kommen hier vorbei, dachte er, auch er wird vorbeikommen. Er. Niemand erwiderte seinen Blick.
Hätte er ihn nur einen Augenblick lang sehen können, und sei’s aus der Ferne, es hätte ihm ein wenig Seelenruhe verschafft. Deshalb ging er anfangs durch die Straßen, ihn zu suchen. Stand einfach an Schulzäunen herum. Ist er das? Ist er das? Jahrelang.
Oft saß er am Busbahnhof oder in den Nebenstraßen und musizierte, manchmal wollte ihm jemand eine Münze zuwerfen, doch er hatte keine Büchse aufgestellt, und da der Instrumentenkasten zugeklappt war, warf ihm fast niemand etwas zu, manche legten etwas auf den Boden. Eines Tages, dachte er durch die Musik hindurch, würde er sich zu ihm herabbeugen mit einer Schekelmünze zwischen den Fingern. Alle kamen hier durch. Ja. Auch er würde, musste eines Tages kommen. Damals, 1970, hatten sie ihm den Namen Emil gegeben. Aber wer weiß, wie er nun hieß.
Joel
Steh auf, Joel, steh auf. Lauf.
Und im Laufschritt ist er schon fast drüben, tritt aus dem Baumschatten des Boulevards heraus, zerschnitten vom Rasieren inmitten des Vogelgezwitschers, den Klängen des Windes und des Windspiels auf den offenen Balkonen, er reiht sich in die Schlange für das Linientaxi, und als Jugendliche sich vordrängen, sagt er nichts, sondern wartet lieber auf das nächste. Sicher wird bald eins kommen. Nicht leer vielleicht, doch mit genau einem freien Platz. Ein alter Mann wird aus- und er selbst einsteigen. Hinein geht’s, als bahne er sich seinen Weg durch einen feuchten Dschungel, geduckten Hauptes durch das Wirrwarr der Stimmen in diesem Linientaxi Nummer 5, und setzt sich an die Stelle des Alten. Während das Taxi bereits mit quietschenden Reifen lossaust, kreischen von den Baumästen Orang-Utans, durchs dichte Laubwerk streicht leise ein Tiger, brüllt auf, von Norden her gleitet ein Eisberg langsam herab, auf dem verschneiten Horizont liegt die Sonne. Er setzt sich, legt seinem Vordermann die glänzende Münze in die nach hinten ausgestreckte Hand, nur her damit, her damit.
Also sagen Sie, Sie da, Professor, wandte sich der Fahrer an ihn, als setze er ein längeres Gespräch fort, darf nun der Fahrer mit den Fahrgästen sprechen oder nicht? Und eine schwangere Frau, die Tüte einer der Brautboutiquen auf der Dizengoff-Straße auf den Knien, mischt sich lautstark ein: Früher gab’s im Autobus Schilder Es ist untersagt, während der Fahrt neben dem Fahrer zu stehen oder mit ihm zu sprechen. Da ist kein Schild hinter dir, und der Fahrer darauf: Was kommst du mir mit Schildern, es geht hier ums Prinzip, ist es verboten oder erlaubt, mit dem Fahrer zu sprechen? Wenn ich einen Unfall verursache, sagte der Fahrer, ok?, wenn ich einen Unfall verursache und wir alle hier Gott behüte umkommen, wird dann jemand kommen und sagen, da war kein Schild Es ist untersagt, mit dem Fahrer zu sprechen? Ich verstehe dich wirklich nicht, Scharon! Lass mich, ich muss mich aufs Fahren konzentrieren, ich muss mich auf die Straße konzentrieren! Ich muss mich in den Verkehr einreihen, ich muss hier abbiegen! Die Frau sagte ihm: Na hör mal, wenn’s nicht dasteht, dass es verboten ist, mit dem Fahrer zu sprechen, dann spreche ich mit dem Fahrer, und wenn dir das nicht passt, dann brauchst du von mir aus nicht zu antworten. Ich zum Beispiel nehme extra ein Linientaxi, um mit dem Fahrer zu sprechen, wenn ich nicht mit dem Fahrer sprechen wollte, würde ich extra in einen großen Bus steigen und mich ganz hinten hinsetzen, und der Fahrer lachte und vollführte eine Notbremsung, um eine Katze, die auf einem Auge blind war, über die Straße zu lassen.
Einer der Fahrgäste, der, ganz hoher Beamter, hinter Joel saß, ein aufblasbares blaues Filzkissen unter dem Hinterteil, sagte: Bei dir müsste man die umgekehrte Aufschrift anbringen, Es ist dem Fahrer verboten, mit den Fahrgästen zu sprechen, und der Fahrer sagte: Und vielleicht müsste man eine Aufschrift anbringen, Es ist dem Fahrer verboten, Aufschriften zu lesen? Alle Fahrgäste lachten, auch Joel lachte und fragte den Fahrer: Kann ich einen Moment mit Ihnen sprechen? Und der Fahrer sagte, frei von der Leber weg: Hier herrscht Redefreiheit, und die Schwangere sagte: Warum reitest du also darauf herum, dass es verboten ist, mit dem Fahrer zu sprechen, jetzt sagst du doch gerade, dass es gestattet ist, und lächelte Joel an, und der Fahrer sagte: Klar kann man mit dem Fahrer reden, das hängt vom Fahrer ab, ich habe einen anderen Fahrer gemeint. Der Beamte rückte sich das blaue Kissen zurecht und sagte: Zeit meines Lebens habe ich nicht mit dem Fahrer gesprochen und nicht neben ihm gestanden, ich mache es mir immer hinten auf einem Kissen bequem, und Joel drehte sich zu ihm um und fragte: Warum das Kissen, Hämorrhoiden? Keineswegs, entgegnete der Beamte, damit ich höher sitze, und Joel bemerkte, dass der Kopf des ohnehin recht großgewachsenen Beamten fast an der Decke des Innenraums klebte. Chilik, wie oft habe ich dir gesagt, du brauchst auch ein Kissen über dem Kopf. Beidseitige Polsterung, keine Diskriminierung, lachte der Fahrer lauthals, während er eine alte Frau aussteigen ließ, einen Schönen Tag noch auf ihr Danke einfließen ließ, während er auf das Grün der Ampel schielte. Nur zu, einsteigen, hinter uns ist ein Jumbo, sagte er zu einigen mit Einkaufstüten beladenen Mädchen, aber bitte nicht mit dem Fahrer sprechen und nicht neben ihm stehen! Und eine der Zugestiegenen setzte sich und sagte zu ihrer Freundin: Ha, mein Vater war dreißig Jahre lang Fahrer bei Dan, diese Schilder kenne ich in- und auswendig, Es ist verboten, den Kopf aus dem Fenster zu stecken, Es ist verboten, Sonnenblumenkerne zu knacken – auf den Boden zu spucken – Abfälle zu verstreuen, offensichtlich war es früher üblich, auf den Boden zu spucken, Es ist verboten, die Füße auf die Sitzbänke zu legen, Vergewissern Sie sich, dass Sie nichts im Bus vergessen haben. Immer habe ich diese Aufschriften kopiert, für jede Schularbeit zum Thema Meine Familie und so, zum Schluss schrieb ich immer über den Bus, das interessierte alle am meisten, nicht über meine Mutter, die Schneiderin war und bei der es keine Schilder gab, nichts, nur das Ta-ta-ta-ta der Nähmaschine, ta-ta-ta-ta ab sieben Uhr morgens in der Textilfabrik, wenn es ein Wort gibt, das ich hasse, dann Textil. Aber das interessierte die Lehrerin nicht, sie sagte mir immer: Bring uns Geschichten vom Bus, alle Kinder wollen das hören, und einmal hab ich mir ausgedacht, jemand hätte die Scheibe mit dem roten Hammer eingeschlagen, frag nicht, welchen Aufruhr das gegeben hat. Joel blickte auf seine Schuhe, hörte aber aufmerksam zu. In zwanzig Minuten würde er dort sein, aus dem Taxi steigen, zu ihrer Wohnung hinaufsteigen und Emils Eltern gegenübertreten. Und wusste bereits, dass er nur dastehen und kein Wort herausbekommen würde. Besser gesagt, gar nicht erst hinaufgehen, es mit der Angst zu tun kriegen würde, wie schon gestern und vorgestern. Du wirst es wieder mit der Angst zu tun kriegen, Sissu. Angsthase. Er fuhr sich mit der Zunge über die Vorderzähne. Ich stand immer hinter ihm, jeden Tag kehrte ich mit ihm im Bus Nummer 5 von der Schule heim, damals gab es noch keine Linientaxis, und auch wenn es welche gegeben hätte, wäre ich nicht eingestiegen, denn ich hatte ja eine Gratiskarte als Mitglied der Dan-Familie – da unterbrach sie die Freundin: Komisch, dein Familienname ist doch wirklich Dan – und die andere fuhrt fort: Schosch, ich bitte dich, streu mir kein Salz in die Wunden, er hat doch unseren Namen geändert, um seine Firmentreue unter Beweis zu stellen, damals machten das viele Fahrer, heute würde das keiner tun, aber damals? Den Familiennamen änderten sie und manchmal auch den Vornamen zu Dan, und die, die hoch aufstiegen, wurden auch zu Daniel Dan oder Dan Daniel. Der Generaldirektor von Dan war Dan Daniel und der Leiter der Schaffnerabteilung Dani Ben-Daniel, rief der Fahrer aus, seine Hand auf dem Walkie-Talkie. Und mein Vater, fuhr die Passagierin fort, der nur ein einfacher Fahrer auf der Buslinie Nummer 5 war, wurde Yaakov Dan, das heißt alle riefen ihn Kuba Dan, die meisten aber einfach Dan. Und anfangs war er stolz darauf, dass er die seelische Kraft zum Namenswechsel aufgebracht hatte, und ich stand immer hinter ihm, ich erinnere mich, wie ich meine ganze Kindheit lang hinter der Kunststoffscheibe im Bus stand und ihm leise zuflüsterte: Papa … Papa … aber er hörte nicht oder antwortete nicht, weil es verboten war, mit dem Fahrer zu sprechen. Er hatte Angst, dass vielleicht ein Inspektor in Zivil als alte Frau verkleidet auf dem Behindertenplatz sitzen könnte, und dass die Alte, kaum dass er ein Wort sagte, aufspringen und ihm ein Bußgeld aufbrummen würde. Aber er zwinkerte mir immer im zerkratzten Spiegel zu.
Im Taxi, das über den Rothschild-Boulevard segelte, herrschte nun Schweigen, beim Dizengoff-Center stieg ein Soldat aus, und der Fahrer klapperte mit den Fünf-Schekel-Münzen. Was für ein Leben ist das, sagte er und verstummte, während ihm die einäugige Katze in den Sinn kam, die mit verklebtem Auge die Straße überquert hatte. Daraufhin fiel ihm Mosche Dayan ein, den er als junger Soldat einmal gesehen hatte und dem er am liebsten zugerufen hätte: Dayan, Dayan, was habt ihr angerichtet. Hielt an, die Bauruine des Habima-Theaters im Rücken. Und zum Schluss zog ich immer an der Schnur, das Stopp-Schild leuchtete auf, und ich stieg zu Hause aus. Er sagte mir nicht einmal Schalom zum Abschied. Angst hatte er vor den Inspektoren, die als Blinde verkleidet einstiegen, um den Fahrer bei einem Disziplinarvergehen zu ertappen, und nur darauf warteten, dass er einen kleinen Fehler machte, um ihn dann sofort aus dem Bus zu weisen oder einen Vermerk in seine Personalakte einzutragen. Und einmal hat er aus dem Fahrerfenster hinausgespuckt, einen Prozess wie Dreyfus hat man ihm gemacht, was für eine Schande … Und was jetzt?, unterbrach sie die Freundin, die Schosch hieß, und die Tochter des Dan-Fahrers sagte: Jetzt? Jetzt ist er tot.
Als das Linientaxi an der Ecke Balfour-Straße angelangt war, verabschiedete sich Schosch und stieg aus, unter dem Arm einen großen Umschlag mit einer Röntgenaufnahme, und die Freundin sagte, zu Joel gewandt, der sie nicht ansah: Sehr krank, die da. Noch nicht einmal vierzig, und verstummte. Joel wollte sie fragen, ob die Geschichte ihres Vaters ein Ende habe oder eine Fortsetzung, doch sie wandte ihren Blick zum Fenster. Joel sah zur Schwangeren hinüber, die hinter dem Fahrer saß und die ganze Zeit mit ihm weitergestritten hatte, ob es nun erlaubt oder verboten sei, während der Fahrt mit dem Fahrer zu sprechen. Weder er noch sie wurden dieses Gesprächs müde, man hätte meinen können, es habe irgendwann in dunkler Vorzeit begonnen und würde bis in alle Ewigkeit währen. Er heftete seinen Blick auf den vollen Leib der Frau. Das Taxi war in einem Stau an der Ecke Schenkin-Straße steckengeblieben. Als das Handy des Beamten läutete, entschuldigte er sich wegen der Störung und stieg zum Sprechen aus. Ein bunter Umzug kreuzte den Rothschild-Boulevard von Ost nach West. Joel schloss das Fenster, um sich dem Getöse der Pfeifen und Trommeln zu entziehen. Machen Sie das Fenster zu, wollte er der Schwangeren sagen, damit Ihr Baby nicht vom Lärm erschrickt, genierte sich aber, das Wort an sie zu richten. Im Taxi gingen die Stimmen durcheinander. Joel zog seinen vom Meersand klebrigen MP3-Player hervor und steckte die Kopfhörer ein, nur einige Orgelstücke von Bach, Lieder von Schubert und Songs von Shlomo Artzi waren darauf, und die Bildershow, die den Großteil der Speicherkarte einnahm. Mit geschlossenen Augen lehnte er den Kopf an die Scheibe. Er hörte gerade noch den Fahrer sagen: Ich schalte den Motor ab, bis der Umzug vorbei ist. Was heißt Umzug – der Auszug der Juden aus Ägypten, und das an Purim! Noch war genug Zeit. Das Geräusch eines Autoalarms durchschnitt die Luft, doch die Hülle des Traums schirmte ihn ab. Das Geschrei draußen hörte er nicht. Er war müde, und das mitten am Tag. Extra, hörte er die Stimme sagen, extra, natürlich extra. Er wollte schlafen, obwohl es erst Mittag war. Träumte, dass er in einem Taxi fahre, dass er schlafen wolle, und wie sein alter Vater Amikam ihm als Kind immer gesagt hatte, sprach auch Joel zu sich im Schlaf: Wie gut es doch tut, zu schlafen, wenn man müde ist. Durch ein offenes Fenster flog ein kleiner Vogel ins Taxi hinein, durch ein anderes wieder hinaus. Weitere Traumbilder drängten sich ihm auf, aber wie gewöhnlich vergaß er fast alles. Hätte er sich an seinen Traum erinnert, wäre da eine durchsichtige Eisenbahn gewesen, die, mühsam von einer pfeifenden Lokomotive gezogen, einen Turm hinauffuhr, wenn man aber auf den Boden der Eisenbahn blickte, sah man, dass da nichts war, nicht durchsichtig war der Boden, sondern einfach nicht vorhanden. Als er aus seinem Schlummer erwachte, war das Taxi leer.
Jemand hatte ein Handy auf einem der Sitze vergessen. Das Handy vibrierte blinkend in den Sitz hinein.
Das Taxi war auf dem Parkplatz des Busbahnhofs abgestellt. Zunächst erblickte Joel den Fahrer nicht, doch dann sah er ihn durch halb geöffnete, vom plötzlichen Lichteinfall geblendete Augen mit mehreren andern Fahrern im Freien auf einer Bank sitzen und aus einem Plastikbecher Kaffee trinken. Joels Nacken schmerzte. Der aufsteigende Dampf umhüllte die Gesichter der Fahrer und ihre dickrandigen Brillen. Er war vom Schlaf wie zerschlagen, sein Nacken war steif, das Musikgerät verstummt, wie weiße Pfropfen ragten die Kopfhörer aus seinen Ohren hervor. Was hatte er überhaupt gehört? Traumfetzen schwirrten ihm einen Augenblick lang vor den Augen. Ein Fenster. Eine Wolke. Ein Pfeifen. Eine Uhr. Ohne noch seinen Kopf von der Rückenlehne zu lösen, sah er um sich herum das leere, stille Taxi, die Sitze, in denen Form und Ausdünstung tausender Fahrgäste ihre Spuren hinterlassen hatten. Zum ersten Mal merkte er, wie sehr diese Sitze eingesunken waren und das Gewicht sie zusammengequetscht hatte. Zusammen- und in die Tiefe gequetscht. Die Bespannung abgenutzt. Wie eine Herde von Eseln, deren Rücken unter der Last eingesunken ist, dachte...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Kapitel 1
  4. Kapitel 2
  5. Kapitel 3
  6. Impressum