Interessante Zeiten, könnte man sagen
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Interessante Zeiten, könnte man sagen

Fragile. Europäische Korrespondenzen

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  1. 312 Seiten
  2. German
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Interessante Zeiten, könnte man sagen

Fragile. Europäische Korrespondenzen

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Vierzehn literarische Brieffreundschaften aus ganz Europa diskutieren über Zustand und Zukunft ihres Kontinents.Der »Versuch Europa«, der Versuch, ein nationenübergreifendes Gemeinschaftsmodell zu imaginieren und zu stabilisieren, bleibt politisch und kulturell brisant. Das Netzwerk der Literaturhäuser hat deshalb vierzehn Autorinnen und Autoren aus den Ländern Europas eingeladen, mit Briefpartnern im deutschsprachigen Raum in einen mehrmonatigen Austausch über aktuelle gesellschaftliche, kulturelle oder politische Themen zu treten, die Ihnen ebenso wertvoll wie gefährdet erscheinen.Viele Autorinnen und Autoren leben in anderen als ihren Geburtsländern, sie reisen viel und sind mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen europäischen Ländern im Kontakt, sie sind Seismographen der Stimmungen und Diskussionen, die Europa beschäftigen.Die Briefpartner sind Jan Wagner und Nikola Madzirov, Irena Brežná und Anna Schor-Tschudnowskaja, Katharina Schultens und Cristina Ali Farah, Carmen-Francesca Banciu und Mirela Ivanova, Martin Pollack und Yevgenia Belorusets, Annika Reich und Zeruya Shalev, Ingo Schulze und László Györi, Georg Klein und Victor Martinovich, Carlo Ihde und Dana Grigorcea, Karl-Markus Gauss und Dževad Karahasan, Björn Bicker und Ece Temelkuran, Kathrin Röggla und A.L. Kennedy, Antje Rávic Strubel und Lena Andersson, Ruth Schweikert und Cécile Wajsbrot.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783835341289
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Die Himmelsrichtungen machen den Menschen Angst
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Jan Wagner – Nikola Madzirov

Die Städte, in die wir nicht zurückkehren, sind ein primäres Alphabet der Übersiedlungen. Solche Reisen sind ein normales Verteidigungssystem gegen die bekannten Landschaften der Zugehörigkeit. Oft wollen wir sagen, dass wir nicht zu dem Raum gehören, der zu jemandem oder einer historischen Realität gehört, sondern nur zu der Sprache, auch wenn sie möglicherweise schneller migriert als wir – von einem Zeichen in ein Symbol, von einem Befehl in ein Gebet. Jan und ich treffen einander in den Städten Europas, wo wir uns über die Zerbrechlichkeit der poetischen Realität unterhalten, über die Realität der menschlichen Zerbrechlichkeit. Wir sind in einem unterschiedlichen Europa aufgewachsen, auf Plätzen mit unterschiedlichen Denkmälern. Die Erinnerung war unsere Nähe.
Nikola Madzirov
Berlin, 28. 9. 2016
Lieber Nikola,
bei unserer letzten Begegnung, Du wirst Dich erinnern, saßen wir in einem lauschigen Biergarten im Westen Berlins, irgendwo zwischen Nollendorfplatz und Landwehrkanal, und genossen einen der letzten prachtvollen Tage des Sommers, ganz so wie die Wespen, die ihr nahendes Ende schon ahnten und wie angeschlagene Samurai um unsere Gläser torkelten. Wir waren zu dritt, denn ein gemeinsamer Freund aus China, der jedoch schon lange nicht mehr in seiner Heimat lebt, saß mit uns am Tisch, und irgendwie, wohl aus aktuellem Anlass, weil also einer von uns dreien bei einem Konsulat vorstellig zu werden hatte, begann unser Gespräch sich ums Reisen zu drehen, um die Beschaffung von Visa und sonstigen Dokumenten, und ich gestand, welchen Zauber seit jeher die Einträge in Reisepässen auf mich ausgeübt hatten, schon jene im ersatzweise ausgestellten Kinderpass mit dem labberigen gelblichen Papier und dieser kleinen mintgrünen Gebührenmarke in der Ecke, auf der man den Kopf des Freiherrn von Stein erkannte. Ich war, Du hast es sicher bemerkt, kurz davor, meiner Begeisterung die Zügel schießen zu lassen: Für diese seltsame Bürokratenmagie der Stempel in all den Pässen, die man jemals besessen hat, für die Vermerke, die Formen und Farben und Sprachen, die nüchternen grauen Vierecke einer frühen Spanienreise im Jahre 1983, die allerdings durch ein Wort wie »fronteras« und die Zusätze »entrada« und »salida« an Feuer gewannen, dem Amtlichen einen Hauch Flamenco beizumischen schienen; für die peniblen Rechtecke und Ovale, diese seltsame Geometrielehre des Grenzverkehrs, mal meerblau, mal teerschwarz, mal blasser und gelegentlich kaum noch lesbar, hier für einen Rhombus von Beamtenhand, der wie ein Kinderdrachen an der krakeligen Unterschrift zerrt und den es über die Seite hinwegzufliegen drängt, dort für ein winziges gleichschenkeliges Dreieck, das 1978 irgendein »Immigration Officer«, ich vermute: aus England, in die untere linke Ecke gesetzt hat, ein überaus korrekt aufgeschlagenes kleines Pfadfinderzelt nach dem Musterbuch Baden-Powells; auf einer anderen Seite, in einem späteren Pass, ein Alpha, ein Epsilon, ein Rho, die, aber ja, auf einen griechischen Flughafen hinauslaufen, und das Feld dieser attischen Einreiseerlaubnis ist so wohlproportioniert wie der Grundriss eines Tempels, steht selbst seit Jahrzehnten beharrlich da wie ein Miniaturtempel, ruht auf den Säulen seiner griechischen Buchstaben. Auch ein Visum für die Vereinigten Staaten gibt es, auf den Seiten vor ihm und nach ihm umschwirrt von zahlreichen kleineren Stempeln der Deutschen Demokratischen Republik, die faltergleich zwischen Dunkelblau und Violett changieren, was entweder auf extravagante zweifarbige Stempelkissen oder auf qualitativ minderwertige Tinte schließen lässt, Stempeln von den Grenzübergängen Zarrentin und Staaken, von Griebnitzsee und Stolpe, vom Bahnhof Friedrichstraße und vom Brandenburger Tor. Dabei sind es, je näher das Ausstellungsdatum der Pässe ans Heute rückt, immer weniger europäische Länder, die auftauchen. Ein Stempel des Grenzübergangs Zgorzelec anlässlich einer weihnachtlichen Reise nach Polen, dann hier und da Einreisegenehmigungen aus Übersee, aus Australien und Kolumbien, aus Indien und Nicaragua, gelegentlich ein Stempel für Bosnien-Herzegowina, für Israel oder für die Ukraine sowie ein frostfarbener Visumsaufkleber aus Weißrussland. Am erstaunlichsten aber ist wirklich zu sehen, wie rar Europa sich in den letzten meiner Dokumente macht, festzustellen, dass der Pass trotz zunehmender Reisetätigkeit durch ein nunmehr grenzenloses Europa der Unionsstaaten geradezu unberührt wirkt, fast gänzlich frei ist von Farben, Formen, Kürzeln, Daten – und das, obwohl ich mich regelmäßig in Amsterdam und Kopenhagen, Dublin und London, Barcelona und Athen aufgehalten habe. Und eben deshalb, weil all diese Grenzüberschreitungen unsichtbar geworden sind, viele Grenzen ja keine mehr sind, bremste ich mich in just dem Augenblick, als ich am Biergartentisch zu schwärmen beginnen wollte – schwante mir doch, dass Du und unser chinesischer Freund dieses amtliche Dokument, den Reisepass, mit weniger Begeisterung, weit nüchterner, skeptischer betrachten könntet, dass die Stempel, die Bewilligungen, die Visa nur für mich verhätschelten Westeuropäer nostalgischen Zauber und die Anmutung von Fremde und Abenteuer haben, für so viele andere hingegen und, wer weiß, vielleicht auch für Euch weniger Freiheit denn Restriktion, ja Willkür bedeuten. Wirklich, lieber Nikola: Wenn wir beide gebeten würden, eine »Ode auf den Reisepass« zu verfassen, einen »Versuch über Pässe« – wir würden wohl zwangsläufig zu grundverschiedenen Ergebnissen kommen, jedes Detail aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten müssen, das misstrauische oder mürrische Mustern hinter der Glasscheibe, die haarige Hand, die das Dokument entgegennimmt, die Beamtin, die im Reisepass blättert, kurz aufschaut, blättert, sodann den unregelmäßigen Doppelschlag des Stempels zwischen Stempelkissen und Pass, während die Schlange langsam weiterrückt, und wieder, und wieder, und wieder, ta-tam, wie das Humpeln eines Holzbeinigen auf dem Oberdeck.
Wie leicht es doch ist, sich an unwahrscheinlichste Freiheiten zu gewöhnen, sie gar als selbstverständlich zu erachten. Mit welchem Recht also könnte man auf Leute herabblicken, die, jünger noch als man selbst, nie ein Europa mit Grenzen erlebt haben und das Fehlen jeder Kontrolle als Normalität empfinden? Eine europäische Union (ich sage ausdrücklich nicht: Europa) ohne Schlagbäume – welch ein Wunder das angesichts der Geschichte unseres Kontinents ist, muss man sich wohl immer wieder bewusst machen, darf sich dabei auch ruhig in den Arm kneifen. Ein heute Zwanzigjähriger hat nie in der Autoschlange am Brenner darauf gewartet, nach Italien weiterfahren zu dürfen, hat nie sein Schulfranzösisch bemühen und kurz hinter Offenburg ein paar Worte mit dem elsässischen Grenzbeamten wechseln müssen, um den Rhein zu überqueren, ganz zu schweigen von der deutsch-deutschen Grenze, die unüberwindbar und nicht wegdenkbar war und doch irgendwann zu bröckeln begann. An eben jenem Zarrentiner Übergang, der noch als Stempel in meinem Pass überdauert, hatte ich kurz zuvor bei meinem um zehn Jahre älteren und furchtlosen Schwager im Auto gesessen, der den säuerlichen Uniformierten, der uns mit der erhobenen linken Hand zu halten befahl und die Rechte großkaiserlich in die Jacke geschoben hatte, mit einem jovialen »Guten Morgen, Napoleon« begrüßte, was uns Stunden des Wartens und größtmögliche Aufmerksamkeit und Gewissenhaftigkeit bei der Demontage unseres Wagens bescherte.
Seltsam, dieses deutsche und fast nicht mehr gebrauchte, völlig aus der Mode gekommene Wort »Schlagbaum«, für das es auch im Mazedonischen eine Entsprechung geben muss, das im Französischen schlicht »barrière« und im Italienischen »barriera« heißt, im Englischen auch »turnpike«, wobei das »pike«, das ja auch »Hecht« bedeuten kann, nicht mit dem Fisch verwechselt werden darf; es handelt sich also nicht um einen zu wendenden oder sich windenden Hecht, sondern um einen Spieß oder zugespitzten Pfahl, »pike«, der sich beiseitedrehen oder anheben lässt. Das genau ist auch der Sinn des deutschen Worts, wobei die erste Silbe sich vom mittelhochdeutschen Verb »slahen« herleitet und hier so viel wie »zuschlagen, sich herabsenken, schließen« heißt. Natürlich findet man den Schlagbaum auch im Wörterbuch der Brüder Grimm, diesem unentbehrlichen Werk, in dem auf Abertausenden von Seiten die Geschichte und der Reichtum der deutschen Sprache bewahrt wird, das aber zugleich die Wandlungsfähigkeit dieser Sprache zeigt, auch die Einflüsse anderer Sprachen kenntlich macht, die Bereicherung und den steten Wandel, dem jede Sprache unterworfen ist und der sie doch erst lebendig macht, ob es sich um Anleihen aus dem Lateinischen, Französischen oder Niederländischen handelt. Wie immer bringt der Grimm schöne Beispiele, zitiert aus Schillers Tell, führt Hebbel an und Musäus, der die Liebe wunderbarerweise über den Schlagbaum hinwegspringen lässt wie über einen bloßen Strohhalm. Aber die Gewalt des Wortes »slahen« ist schon noch spürbar, die physische Drohung des Erschlagenwerdens, und das Wörterbuch merkt an, dass der Schlagbaum noch eine zweite Sache bezeichnet, nämlich auch »eine Falle für Raubthiere« sein kann, »ein schwerer Baumstamm, der auf einer Stütze ruht und den darunter durchpassierenden Thieren auf den Rücken schlägt und sie zermalmt«, Füchse zum Beispiel oder Dachse. Sodass also die Versehrungen, die eine Begegnung mit dem Schlagbaum nach sich ziehen kann, auch in der sich senkenden Schranke noch anklingen. Und wirklich: Welche Gefahren mit dem Überschreiten von Grenzen verbunden sind, ob sie nun unsichtbar in einem Meer verlaufen oder sich als Zaun manifestieren, können wir Abend für Abend in den Nachrichten sehen.
Wir schreiben einander ja Briefe zu einer Zeit, da Nationalismus und Engstirnigkeit plötzlich so en vogue scheinen wie lange nicht mehr, da auch in meinem Land eine Partei an Zulauf gewinnt, in deren Anfangsbuchstaben schon ein Schlagbaum querliegt und aus deren Reihen vor Kurzem unter anderem gefordert wurde, das Wort »völkisch« wieder in den Alltagsgebrauch zu überführen. Nur wenige Tage vor Beginn dieser Diskussion hatte ich, weil seit Wochen und Monaten derart belastete Wörter von interessierter Seite wiederholt werden und Eingang finden in die politischen Debatten, ins Feuilleton und ganz ohne Zweifel auch in die privaten Gespräche an den Küchen- und den Stammtischen, abermals Victor Klemperers LTI gelesen, seine Betrachtungen der Lingua Tertii Imperii, also der »Sprache des Dritten Reiches«. »›Volk‹ wird jetzt beim Reden und Schreiben so oft verwandt wie Salz beim Essen«, beobachtet Klemperer 1933, »an alles gibt man eine Prise Volk: Volksfest, Volksgenosse, Volksgemeinschaft, volksnah, volksfremd, volksentstammt …« Ich weiß nicht, wie sehr der Name Victor Klemperers außerhalb Deutschlands ein Begriff ist, lieber Nikola – er war Professor für Sprach- und Literaturwissenschaft in Dresden, wurde 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft gezwungen, die Universität zu verlassen, und überlebte nur dank seiner nichtjüdischen Ehefrau, die sich weigerte, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, und die alle folgenden Schikanen und Demütigungen mit ihm durchzustehen bereit war. Vielleicht sind seine berühmten Tagebücher, in denen er diese zwölf lebensbedrohlichen Jahre beschreibt, sogar ins Mazedonische übersetzt worden? In seinen Texten zur LTI jedenfalls setzt sich Klemperer damit auseinander, welcher Art die Sprache war, die solche Taten vorzubereiten imstande war. »Und wenn nun«, fragt er, »die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.« Schwer vorstellbar, dass nicht auch heute der Hass und die Verachtung, die in die Wörter getröpfelt werden, ihren Ausdruck in hässlichen und verachtenswerten Taten finden. Die Brandanschläge jedenfalls sind so alltäglich geworden, dass sie fast nicht mehr zu zählen sind. Bei einem der letzten, ausgerechnet in Berlin, hatte der Täter vor dem Anreißen des Streichholzes die Aufforderung »Go to Home« auf die Wand der Flüchtlingsunterkunft geschmiert – im Grunde natürlich ein wunderbarer germanism und bizarr mit seinem Willen, weltläufig, jedenfalls international verständlich zu wirken, dabei aber auf fast rührende Weise falsch zu sein. Aber kann man von einem Brandstifter verlangen, korrektes Englisch zu verwenden? Und darf man darüber lachen? Sollte man vielleicht darüber lachen, damit einem das Lachen nicht vergeht?
Dass Worte weit mehr als eine simple Bedeutung, den Hinweis auf einen Sachverhalt oder Ding enthalten – wer wüsste das besser als Lyriker, die ja für gewöhnlich wenige Wörter benutzen, dafür jedoch mit allen Bedeutungsebenen dieser Wörter spielen, mit den Klängen und Anklängen, den Brüchen und Brücken, die also der Etymologie nachforschen, die geschichtlichen Ebenen des Wortes freizulegen versuchen, all die verborgenen Echokammern, deren Metier also das Abwägen, Feineinstellen, die Nuance ist. Freuden und Schwierigkeiten ohne Ende, die sich noch multiplizieren, wenn man Gedichte übersetzt, ein Gedicht von einer in die andere Sprache trägt, ihm sprachliche Grenzen zu überwinden hilft und dafür sorgt, dass ein fremdsprachiges Gedicht in der eigenen Muttersprache heimisch wird. Eine unserer ersten Begegnungen fand in Deiner Heimat statt, im mazedonischen Struga, und ich habe sehr deutlich vor Augen, wie wir eines warmen Abends zu sechst, mit nahezu allen jüngeren Teilnehmern des gerade dort stattfindenden Poesiefestivals, am gewaltigen Ohridsee saßen und die Sonne untergehen sahen, als irgendjemand, vielleicht warst sogar Du es, beiläufig erwähnte, er übersetze gerade die Gedichte des israelischen Dichters Jehuda Amichai – worauf eine Dichterin einwarf, sie ebenfalls, und ein Dritter sich einmischte, und plötzlich wurden Gedichte Amichais, den, wie sich herausstellte, alle gleichermaßen bewunderten, auf Mazedonisch, Deutsch, Englisch und Ukrainisch zitiert, dass es eine vielstimmige Freude war. Auf der anderen Seite des Sees, in der Ferne, begann Albanien, doch saßen wir natürlich auch wenig mehr als einen herkuleischen Steinwurf entfernt von Griechenland, wo Hölderlin seinen Hyperion als Eremit leben und auf sein Leben zurückblicken lässt, das er, übrigens in Briefen, wir mir jetzt einfällt, seinem Freund in Deutschland schildert: »O Bellarmin! wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht, wie Lebensluft, ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert die Begeisterung. Die Heimat aller Menschen ist bei solchem Volk und gerne mag der Fremde sich verweilen.« Fast wie ein Kommentar zur Stunde liest sich das, auch wenn man von Helden heute kaum noch reden wollen wird, die besser im Epos oder einer vergangenen Epoche aufgehoben sind. Als ich vor Kurzem bei polnischen Freunden zu Besuch war und sie mir nachmittags ihre Stadt zeigten, begannen wir, was natürlich reiner Zufall war, auf dem »Platz der Helden«, spazierten über den »Platz der Freiheit« bis hin zum »Platz der Freundschaft«, wo unser Stadtrundgang endete, und so hatten wir ganz nebenbei einen Gang durch die europäische Geschichte und die Entwicklung unseres Kontinents unternommen, bis hin zum glücklichen Ende. So schien es mir jedenfalls an diesem Tag.
Dabei habe ich wirklich allzu leicht leben, reisen, reden und schreiben, denn Krieg und Diktatur blieben mir erspart, und aufgewachsen bin ich in einer der seltenen glücklichen, windstillen Phasen der Historie. Ein Grund mehr vielleicht, das Reisen nicht nur als Vergnügen, sondern auch als Verpflichtung zu begreifen – zum Lernen, zum Wertschätzen. Und so lehrreich wie heilsam ist es ja, aus der Distanz auf Europa zurückzuschauen, von den nachts wie Leuchtalgen funkelnden Hängen Medellíns oder vom riesigen Shanghai, in dem allein ein Drittel der deutschen Gesamtbevölkerung Platz fände. Am liebsten aber reiste man natürlich mit Seamus Heaney, den Du sicherlich genauso verehrst wie ich, in die »Republik des Gewissens«, der er ein langes, wunderbares Gedicht gewidmet hat, From the Republic of Conscience, in dem nach der Landung ein Brachhuhn zu hören ist, der alte Mann am Schalter verblüffenderweise Fotos von den Ahnen des Reisenden aus dem Mantel zieht, die Dame vom Zoll darum bittet, die traditionellen irischen Zaubersprüche gegen Stummheit und gegen den bösen Blick zu hören. Der dritte und letzte Teil des Gedichts klingt so:
I came back from that frugal republic
with my two arms the one length, the customs woman
having insisted my allowance was myself.
The old man rose and gazed into my face
and said that was official recognition
that I was now a dual citizen.
He therefore desired me when I got home
to consider myself a representative
and to speak on their behalf in my own tongue.
Their embassies, he said, were everywhere
but operated independently
and no ambassador would ever be relieved.
Ich verließ diese karge Republik
von keiner Last bedrückt; die Frau am Zoll
hatte darauf beharrt, mein Freigut sei ich selbst.
Der Alte erhob sich und fixierte mich:
Dies sei die offizielle Anerkennung
meiner jetzt doppelten Nationalität.
Er wünsche daher, dass ich nach meiner Heimkehr
mich als Beauftragten verstehen möge
und für sie das Wort in meiner Sprache ergreife.
Ihre Botschaften, sagte er, seien überall,
arbeiteten jedoch ganz unabhängig,
und kein Botschafter werde jemals abberufen.
Aus der Republik des Gewissens, übersetzt von Ditte und Giovanni Bandini
Da »relieve« ja...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Die Himmelsrichtungen machen den Menschen Angst
  7. Die Festung Europa – ein Zusammenbruch
  8. Vielleicht sollte man Geschichte studieren
  9. Ich halte den Atem an und warte
  10. Die Autoren & Übersetzer