Germaine Berton
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Germaine Berton

Die rote Jungfrau

  1. 96 Seiten
  2. German
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Germaine Berton

Die rote Jungfrau

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Über dieses Buch

Im Januar 1923 erschoss die einundzwanzigjährige Germaine Berton einen Wortführer der rechtsnationalen »Action Française« und versuchte anschließend, sich selbst zu töten. Dieser politische Mord erschütterte die Dritte Republik und ist bis heute in Frankreich ein kontrovers diskutierter Kriminalfall. Die junge Frau hatte eigentlich den Kriegstreiber, Monarchisten und Antisemiten Léon Daudet töten wollen, um mit einem Fanal den Tod des Sozialisten und Pazifisten Jean Jaurès zu rächen, der im Sommer des Jahres 1914 ermordet worden war. Sie sah in den nationalistischen Kriegstreibern die wahren Schuldigen an dem großen Gemetzel. Der Strafprozess wurde zum politischen Tribunal und endete mit einem Freispruch.In hohem Tempo und mit expressionistischer Wucht erzählt Yvan Goll das Leben der Germaine Berton und schildert, wie sie sich radikalisierte und schließlich existentiell zur Tat getrieben wurde. Atemlos wird auch der Prozess geschildert, während vor den Türen des Gerichts die erregten Massen das Urteil erwarten.Golls fesselnder Bericht erschien 1925 in der von Rudolf Leonhard herausgegeben legendären Buchreihe »Außenseiter der Gesellschaft« im Verlag die Schmiede in Berlin. Die Neuausgabe verwendet den von Georg Salter gestalteten historischen Umschlag.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783835340688
Nach dem Krieg. Nach dem Frieden. Frankreich fiebert. Fieber ist der Kampf zwischen heiß und kalt. Geht es nach rechts? Geht es nach links? Eine bestimmte Krankheit ist nicht zu konstatieren, aber um so gefährlicher ist jeder Millimeter der Kurve. Das Tamtam des Sieges ist groß, aber das Schweigen der Massen ist imposant. 1920 wirft ein Streik einen roten Schein in die Nacht. Paris ist die Stätte der ehrfurchtgebietenden Patina, die ererbten Ideologien leben im Volke weiter, wie Bart und Nägel an den Kadavern weiter wachsen. In Wirklichkeit hat die russische Revolution die Weltgeschichte mit einem Ruck um Jahrhunderte weiter gebracht: aber Frankreich lebt noch nach alten Kalendern, mit den entwerteten dreiprozentigen Renten und einer Ideologie, die aus feinem Weißbrot ist, aber schon acht Tage altem, ungenießbar gewordenem Weißbrot, an dem man sich die Zähne zerbricht. Die sozialistischen Köpfe selbst leben von ererbtem Gut, von Jules Guesde und Vaillant, und glauben an die Namen von vor 1914. Aber von der Front stürmen junge Männer zurück, die riechen nach Blut, die haben einen Wind vom weiten Europa herüberwehen hören, und schütten ihn jetzt auf den öffentlichen Plätzen aus, in den Wahlversammlungen, in den Meetings. Sie sind die Abgeordneten der Kriegsbetrogenen, im Ballsaal der Geretteten. Sie gründen Clarté, mit Barbusse zusammen. Es ist eine wirre, neblige Zeit. Das Gespenst der Revolution wird auf den Boulevards herumgetragen: eine freche, rotbärtige Fratze, mit einem Messer zwischen den Zähnen, das ist das Wahlplakat der Reaktion gegen den Kommunismus. Der Bürger hat aber genug Blut gehabt, er braucht Ruhe. Die Amerikaner haben Montmartre besetzt gehalten, und die Hotels Meublés, die Bäckereien, die Dancings verzehnfachen ihre Einnahmen. Das Volk wählt für die berühmte Ordnung der Kassa.
Der Zorn des Parti Socialiste schlägt nach innen. Das Geschwür ist nicht gereift, die Blutzirkulation ist zerstört und vergiftet. Nun kommen Handel und Händel mit Moskau. Auf dem berühmten Kongreß von Tours tritt der Parti in die III. Internationale ein. Aber nur die Partei: dem individualistischen Franzosen behagt kein Papsttum, er versucht die eisigen Dekrete Rußlands auf seine Körper- und Seelenmaße umzumildern. Die Diktatur meint es anders. Und langsam krachen die Fugen des Hauses. Die linke Minorität hat einen Augenblick noch die Oberhand und erobert definitiv im nächsten Pariser Kongreß die Humanité mit allem Drum und Dran, und die tatsächliche Erbfolge Jaurès. Der Parti Socialiste, mit Blum und Renaudel, glitscht langsam in den Parlamentarismus zurück.
Viele Arbeiter, angeekelt von den politischen Umtrieben der Führer, sehen sich nach was anderem um. Da ist die Anarchie. Sie ist eine lockende Illusion, sie negiert Staat, jegliche Autorität und proklamiert die Freiheit des Individuums. Ziel: die arbeitenden Massen sollen Arbeitsgemeinschaften bilden und alle Produktionsmöglichkeiten an sich reißen. Keine Politik, direkte Tat. Es ist nur eine Illusion. Aber sie tröstet. Viele kommen zu ihr.
In den Pariser Faubourgs gedeiht eine eigentümliche Fauna. Nirgends, wie sonst in Vorstädten, der Geruch von Armut oder Elend. Fast ein behäbiges Leben. Die proletarischen Allüren immer menschlich und zivilisiert. Irgendwo ist der kleine Mann immer ein Monsieur. Äußerlich fast ein Bürger: auch die Casquette, auch der rote Gürtel sind elegant. Sonntags nimmt man den Amer Picon auf der Terrasse der Cafés und bringt ein Dutzend Austern zu 1 Franken heim. »Ich will, daß jeder am Sonntag seine frischen Austern habe,« könnte Herriot ausrufen. Aber dazu liest man die »Humanité«. Und das Frondeurherz ist leicht in Schwingung zu bringen. Die Luft von Paris erinnert immer an Frühling. In den Faubourgs wächst viel Flieder. Die Seine ist ein grüner Sirenenleib. Der Mont Valérien und hinter ihm die wilden Hügel von Saint Cloud besänftigen jedes Auge. Es gibt kein Whitechapel, kein Moabit. Es gibt zwar die Fortifikationen, hinter denen in einem unentwirrbaren Dschungel von seltsamen, aus Latten, Planken, Papier und Wellblechstückchen zusammengesetzten Hütten eine bis zum heutigen Tage (so geht die Sage) von der Polizei noch nicht durchforschte Menschheit lebt. Aber ich glaube, daß diese Apachenwelt mehr der Romantik angehört als der Wirklichkeit.
In diesen Faubourgs wurde Gemaine Berton groß. Sie ist am 7. Juni 1902 in Puteaux geboren. Ihr Vater besaß ein kleines Atelier für mechanische Reparaturen. Er hatte einen solchen Drang zur Unabhängigkeit, daß er es in einer großen Fabrik nicht aushielt und lieber so sein Leben fristete. Auch blieb er nicht lange an einem Ort. Er zog später nach Nanterre, und dann immer etwas weiter von der Stadt, immer etwas tiefer ins Provinzielle. Vater und Tochter liebten die pittoreske Halbnatur der Vororte und machten gemeinsam große Spaziergänge mit ihrem kleinen Hündchen Kiki. Germaine war äußerst sentimental: sie liebte die Blumen, die Landschaften, die Tiere und die armen Leute. Ihr später sich immer mehr entwickelndes Freiheitsgefühl kommt bestimmt aus einer gewissen verdrängten lyrischen Sehnsucht heraus. Weil ihr zur Dichterin die Tiefe fehlte, wurde sie zur Mörderin. Zum Morde gehört ebensoviel Inspiration wie zur Erschaffung eines »Bateau Ivre«. Beide entspringen einem Überschwang des Lebenstempos. Beide sind Siedepunkte eines seelischen Überschwelgens.
Die ganze Atmosphäre der Banlieue verdichtete sich in dem kleinen Herzen dieses Mädchens. Wenn der Vater einen Trupp blitzblanker Soldaten vorbeiziehen sah, machte er seine Witze und verzog spöttisch die Lippen. Der Franzose ist ein guter Patriot, aber er haßt die Armee, weil sie ein Institut gegen die persönliche Freiheit ist. Er ist ein guter Soldat, aber er verachtet seine Vorgesetzten. Er hat den akutesten Instinkt für Freiheit. Jeder ist Individuum, jeder ein Ganzes. Jeder denkt, kritisiert, urteilt, schimpft. Nirgends wird soviel geflucht. Aber nirgends hat man auch soviel Geduld, mit sich und den anderen. Es geht so lange gut, als die Menschenwürde nicht angetastet wird, nirgends ist die Freiheit des Lebens vollkommener. Der Kommunismus ist eine schöne Sache. Aber bringt er dem Individuum größere Freiheit? Hier liegt der Grund, warum er in Frankreich so langsam fortschreitet.
Endlich siedelt der Vater nach Tours über und eröffnet dort eine Werkstatt mit zehn Arbeitern. Er hat sich emporgeschwungen. Germaine huscht zwischen den Motoren, beschmutzt sich die Finger mit Öl und mit Pech, ist ein schäkernder Kobold unter den Arbeitern. Sie lernt schnell eine Dynamomaschine auseinandernehmen. Sie hat die Gelenkigkeit eines Knaben. Ein andermal schleicht sie auf den Speicher hinauf, macht sich über einen verbotenen Bücherkorb und verschlingt dort tagelang die Werke von Voltaire, Victor Hugo, France, Zola, Kant, Sammlungen von Witzblättern und Schriften über die Freimaurerei. Dann gibt es Tage, da läuft sie an die Ufer der seidenen Loire, streift durch die Wiesen, verliebt sich in die Bäume, in die Vögel, in die Sonne.
Der Vater will sie bürgerlich erziehen. Sie kommt in eine Zeichenschule und glaubt eine Künstlerin zu werden. Ihre Wildheit erfaßt ihre Kameraden. Auf dem Heimweg von der Schule skandalisiert sie die Bürger der kleinen tugendhaften Stadt. Im Sturmschritt durchläuft sie die Stationen einer Jugend. Einige Wochen lang Fanatikerin des Sports, lernt sie die Namen aller Radfahrer und Boxer auswendig. Sie schillert wie Quecksilber. Wohin sie kommt, ist Bewegung, Aufruhr.
Mit dreizehn Jahren liebt sie. Es gehört in ihr Schicksal, daß der Krieg den Auserwählten abruft. Vierzehn Tage lang irrt sie in ihrem Schmerz herum, verkriecht sich in der St. Martinskirche und kehrt nicht mehr heim. Zum erstenmal denkt sie an Selbstmord. Derselbe mystische Hang durchzieht ihr ganzes Leben. Wir werden sie später noch einmal in einer Kirche mit Selbstmordgedanken antreffen. Der Hang zum Opfer und zum Leide treibt sie in die Felder hinaus, und mitten in einem sentimental purpurnen Sonnenuntergang läßt sie sich in die Wellen der rauschenden Loire gleiten. Aber ein Mann hat sie beobachtet. Die Trambahn von Vouvray nach Tours fährt gerade vorbei, und sie läßt sich retten.
Kurze Zeit darauf stirbt ihr Vater. Die Hoffnungen eines bürgerlichen Mädchendaseins zerschellen. Die Mutter bleibt arm zurück. Germaine wird arbeiten müssen. Sie flieht nach Paris. Gibt es ein anderes Ideal für ein junges Gemüt in der Provinz, als eine Flucht nach Paris? Diese gehört fast in jede Biographie. Täglich berichten die Zeitungen von der Ankunft kleiner Schüler in der Gare de l‘Est oder Gare de Lyon: sie haben etwas gestohlenes Geld in der Tasche, einige Bücher unter dem Arm, sie finden nicht heraus aus dem Trubel der Automobile und Menschenjäger, sie wagen sich nicht in ein Hotel und werden meistens kraftlos auf einer Bank auf den Boulevards von einem gutmütigen Schutzmann aufgefunden.
*
Die verschiedenen Quartiere und Straßen von Paris sind von verschiedenen Atmosphären getragen. Wie Provinzen scheiden sie sich streng voneinander ab. Die Rue Montmartre zwischen den Boulevards und den Hallen ist die Lunge von Paris. Auf der Börse wird jede Minute der Pulsschlag von Europa ausgerufen. Die Schreie erschüttern den Platz davor wie Meeresrauschen. In den Hallen werden die vergänglichen Werte der Erde ausgeschrien und in der Rue Montmartre mitten zwischen diesen entstehen die Zeitungen, die den ganzen Lärm, die Predigten und die Flüche der Welt weiter verbreiten. Hier wird Ruhm und Dekadenz eines jeden Tages geschaffen und vernichtet. In einem einzigen Haus dieser Straße, der Nummer 142, befinden sich die Redaktionen sämtlicher Gesinnungen Frankreichs. Im Erdgeschoß ist es »La Presse«, das populäre Bürgerblatt des Nachmittags, das mit feisten Titeln das Geschehen der Welt umlügt. Ein Stockwerk darüber »Le Jockey«, in welchem täglich für die Müßiggänger von Auteuil und Longchamps die Chancen der Pferde mit den mythologischen Namen ausgerechnet und verzinst werden. Auf derselben Treppe links »La Victoire«, in der der einstige Anarchist Gustave Hervé die Aussprüche Millerands zu biblischen Gesetzen stempelt. Im zweiten Stockwerk rechts »l‘Humanité«, wo die Türen fliegen, die Winde ein- und auspoltern und die jungen Revolutionäre Frankreichs unter der väterlichen Führung Marcel Cachins und dem übersprudelnden Temperament Vaillant-Couturiers russische Ukase diktieren. Gegenüber »Bonsoir«, das frivole Abendblättchen der Flaneure, in dem die letzte Indiskretion über die Tänzerin Mistinguett, das letzte Telegramm und die letzten Börsenkurse verraten werden. Wenn man in dem Hause gut suchte, fände man bestimmt noch ganz andere Unternehmungen und Gesinnungen. Es ist die Pandorabüchse von Paris. Es ist die elektrische Zentrale, von der aus die Kräfte und die Leidenschaften in Strömen übers ganze Land ausgesandt werden. Vom Keller bis zu den Dachziegeln müssen da Bomben aus den verschiedensten internationalen Explosivstoffen versteckt sein. Vielleicht verbindet sie alle ein- und dieselbe Zündschnur? Wenn es einmal in Frankreich zum Bürgerkrieg kommen sollte (es ist noch weit bis dahin), dann müßte eine kluge Regierung statt aller Maßnahmen den Befehl geben, dies Haus einzuschießen. Die Ruhe im Lande wäre automatisch wiederhergestellt: Eine moderne Lösung des Horatier- und Kuriatierproblems.
Gerade gegenüber, die andere Ecke der Rue du Croissant bildend, steht das Café, in welchem Jaurès am 31. Juli 1914 abends von Rao...

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  1. Umschlag
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